Für den derzeit in Groznyj inhaftierten Ojub Titiev nahm Alexander Tscherkassov in Straßburg den Václav-Havel-Preis entgegen. Er verlas dabei die Titievs nachstehend dokumentierte Erklärung:

Verehrte Damen und Herren,

erlauben Sie mir, mich für die Nominierung für den so hohen Preis zu bedanken, der den Namen Vaclav Havels trägt – eines Freiheitskämpfers, Schriftstellers und Philosophen. Mein kurzer Auftritt wird sich kaum an seinen Texten messen lassen können - allenfalls hinsichtlich der Absurdität der Situation: Ich selbst kann aus bekannten Gründen in diesem Saal nicht dabei sein. Aber ich hoffe, dass meine Freunde und Kollegen Ihnen meine Botschaft übermitteln.

Übrigens hat das bereits Tradition – drei der früheren Havel-Preisträger, die mir die Ehre und das Vertrauen erwiesen und mich für die Auszeichnung nominiert haben, konnten den Preis seinerzeit auch nicht persönlich entgegennehmen. Sie befanden sich ebenfalls im Gefängnis. Ist das nicht schon eine absurde Tradition? Havel lächelt uns traurig zu...

Tschetschenische Polizeibeamte haben mich im Januar dieses Jahres verhaftet. Man beschuldigte mich, Drogen aufzubewahren, die sie mir selbst untergeschoben hatten. Allerdings hat der tschetschenische Regierungschef Ramzan Kadyrov festgehalten, dass es für meine, für unsere Arbeit in der Tat keinen Platz gebe – man darf die Rechte derer, die die Machthaber bekämpfen, nicht verteidigen, und man darf keine Informationen nach außen weitergeben, sondern nur an die Behörden, und wer es doch tut, ist ein „Feind des Volkes“. Jetzt, vor Gericht, kommen Dutzende von Polizeibeamten dem Wunsch des Regimes nach und belasten mich, den „Feind des Volkes“, mit Falschaussagen. Sie versuchen, die falsche Anklage zu beweisen - die meisten tun dies offensichtlich widerwillig, einige dagegen ausgesprochen bereitwillig. Alle kommen durcheinander, widersprechen sich gegenseitig und sich selbst. Um dieses absurde Schauspiel könnte einen Havel selbst beneiden. Übrigens, auch Sie können bei dieser Show dabei sein – im Gericht der tschetschnischen Kleinstadt Schali, jeden Montag und Dienstag. Die Vorführung geht noch einige Wochen weiter. Der Saal ist klein, aber Sie sind eingeladen!

Von meinen persönlichen Umständen kann ich leicht zur Hauptsache überleiten – zur Arbeit der letzten 18 Jahre, zur Arbeit von Memorial und all jener, die sich nicht nur als „Menschenrechtler“ bezeichnen, sondern versuchen, etwas zu tun.

In meiner Heimat, in Tschetschenien, sind gesetzwidrige Verhaftungen und die Fabrizierung von Straftaten schon lange die Norm. Mein eigenes Verfahren ist ein Bespiel dafür, und glauben Sie mir, nicht das schlimmste: In der Regel geht eine solche fabrizierte Strafsache mit Drohungen und Foltern einher.

Mitunter sind dies Racheakte an Journalisten und Aktivisten – mein Verfahren wegen „Drogen“ ist in Tschetschenien nicht das erste. Aber generell ist die Fälschung von Straftatbeständen schon lange System. Die Haftbedingungen im russischen Strafvollzugssystem sind derart, dass auch Personen, die möglicherweise schuldig sind, sie nicht verdient haben. Wir haben, soweit möglich, darüber recherchiert und veröffentlicht sowie versucht, Folteropfern und Opfern von fabrizierten Strafverfahren zu helfen.

Aber es handelt sich hier um keine Eigeninitiative der tschetschenischen Polizei und Regierung, wenn sie auch sehr kreativ dabei sind.

Vor fünfzehn Jahren hat die russische Zentralregierung den tschetschenischen Behörden die Vollmacht erteilt, gesetzwidrige Gewalt anzuwenden, um im Krieg den Sieg davonzutragen.

Im Krieg, in dem seit Mitte der 1990er Jahre Zigtausende tschetschenische Einwohner ums Leben kamen und viele Tausend verschwunden sind. „Verschwunden“ – das bedeutet, sie fielen den „Todesschwadronen“ der Regierung zum Opfer, sie wurden gesetzwidrig verhaftet, in Geheimgefängnisse gebracht, gefoltert, ermordet, und ihre Leichen wurden versteckt oder in Massengräbern verscharrt. Nach unseren Schätzungen waren das seit 1999 zwischen drei- bis fünftausend Menschen.

Mit Recherchen dazu war meine Kollegin Natalja Estemirova befasst, die auch mich zu Memorial gebracht hat. Am 15. Juli 2009 wurde sie selbst Opfer dieses Systems, sie wurde entführt und ermordet.

Aber die Arbeit – die Suche nach „Verschwundenen“, nach geheimen Grabstätten, der Einsatz für Gerechtigkeit und Rechtsprechung, für die Bestrafung der Verantwortlichen – geht weiter. Leider gelingt das in Russland nicht besonders gut.  Auf tausend Fälle gewaltsamen Verschwindens fallen vier Verurteilungen. 99,9 % der Fälle bleiben ungeahndet. In Straßburg ist es etwas besser: über 250 „tschetschenische“ Fälle von Verschwundenen wurden untersucht. Aber das Europäische Gericht für Menschenrechte nennt die Schuldigen nicht, es verpflichtet nur den Staat, dies zu tun. Und nicht eine einzige dieser 250 Straßburger Ermittlungen hat zur Bestrafung der Schuldigen geführt.

Das Fehlen einer auf dem Gesetz basierenden Gerechtigkeit, der fehlende Respekt vor dem Gesetz – ob es sich nun um die Europäische Konvention, das russische Recht, die Scharia oder ungeschriebene Gesetze der Bergvölker, das Adat, handelt – ist eines unserer größten Probleme. Heute herrscht stattdessen das Recht der Gewalt, ausschlaggebend sind die Entscheidungen der Machthaber ohne jegliche gesetzliche Grundlage.

In Tschetschenien und in Russland besteht nicht nur ein System der Straflosigkeit - ich würde es als Kette der Straflosigkeit zu bezeichnen: Wer für Verbrechen in einem Krieg nicht bestraft wurde, nimmt an allen weiteren Kriegen teil und begeht immer neue Verbrechen. Und die in Tschetschenien festgenommenen Personen „verschwinden“. Im vorletzten Winter sind Dutzende Personen „verschwunden“. Wir sind sicher, dass sie insgeheim und ohne Gerichtsverfahren hingerichtet wurden. Die Behörden behaupten, sie hätten sich in den Krieg nach Syrien begeben.

Vaclav Havel hat geschrieben und war aktiv, nachdem sowjetische Panzer vor einem halben Jahrhundert der Prager Frühling unterdrückt haten. Meine kleine Heimat wurde zweimal von Panzerketten umgepflügt, um dort die derzeitigen Machthaber zu etablieren.

Ich weiß nicht, welche unserer Nachforschungen der Anlass für meine Verhaftung war. Jetzt ist unser Büro in Groznyj geschlossen. Das Memorial-Büro im benachbarten Inguschetien wurde anderthalb Wochen nach meiner Verhaftung in Brand gesteckt. Nach einigen Wochen wurde der Leiter unseres Dagestaner Büros brutal niedergeschlagen.

Aber eines weiß ich: Die Menschenrechtsarbeit in Tschetschenien und in Russland muss weitergehen. Und die internationale Solidarität kann dabei helfen.

Jetzt sehe ich im Gerichtssaal Dutzende meiner Kameraden und Kollegen, die von weither mit dem Flugzeug kommen, um mich zu unterstützen. Sie werden von derselben Devise geleitet – „für eure und unsere Freiheit“ – wie die sowjetischen Dissidenten, die vor einem halben Jahrhundert gegen den Truppeneinmarsch in die Tschechoslowakei protestiert hatten.

Und man muss etwas tun, etwas tun, um die Verschwundenen zu finden, damit jeder sein Grab bekommt, das seine Angehörigen aufsuchen können. Um zu erreichen, dass Personen, die an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt waren, bestraft, und dass Unschuldige befreit werden.

Und das letzte. Alles hat irgendwann ein Ende. Ich habe gelesen, dass es in der Tschechoslowakei, der Heimat von Vaclav Havel, eine Redewendung über die Regierung der Kommunisten gab: „Für ewige Zeiten. Aber nicht einen Tag länger!“ Ich hoffe, in diesem Saal noch persönlich erscheinen und Ihnen allen danken zu können.

8. Oktober 2018

 

 

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