Nachstehend dokumentieren wir eine Stellungnahme von Oleg Orlov (Menschenrechtszentrum Memorial , Mitglied im Vorstand von Memorial International) zur Haltung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats.

 

Das russische Parlament (wenn man denn diesen Marionettenverein als solches bezeichnen will) kehrt nach langer Pause mit einer Delegation in die Parlamentarische Versammlung des Europarats zurück.

Wozu? Offenbar, um die Kapitulation des Euraparats entgegenzunehmen. Die Sanktionen gegenüber der russischen Delegation sollen offenbar aufgehoben werden.

Um welche Sanktionen handelt es sich, auf die man verzichten soll? Der russischen Delegation, die ein Land vertritt, das gegen die Satzung des Europarats verstoßen und die Verpflichtungen nicht erfüllt hat, die es beim Eintritt in den Europarat übernommen hat, war das Stimmrecht entzogen worden. 1996 war Russland unter bestimmten Bedingungen aufgenommen worden, die in dem entsprechenden Akt fixiert sind. Damals bekundete unser Land seine Absicht, „internationale und innere Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen (wozu alle Mitgliedsländer des Europarats verpflichtet sind), es erteilte allen Formen von Drohungen und Gewaltanwendung gegen seine Nachbarn eine entschiedene Absage, bestehende Grenzkonflikte mit Nachbarländern sollten nach den Prinzipien des internationalen Rechts unter Einhaltung bestehender internationaler Verträge gelöst werden“. Aber 2014 kam es zur Annexion der Krim und dann zur Aggression in der Ostukraine. Darauf erfolgten die Sanktionen.

Russland hat seine Delegation zurückgezogen und die Beitragszahlungen an den Europarat eingestellt.

Bereits in diesem Jahr erhielt Russland das Recht zurück, an den Wahlen der Richter des Europäischen Gerichts für Menschenrechte (EGMR), des Generalsekretärs und anderer Funktionäre des Europarats teilzunehmen. Die Delegation hatte lediglich kein Stimmrecht bei der Diskussion von internen Fragen der Parlamentarischen Versammlung, der Verabschiedung von Resolutionen u. ä. Aber unsere Regierung bestand darauf, dass die Sanktionen ganz aufgehoben und Russland ALLE Rechte zurückerhalten müsste oder Russland nicht zurückkehren werde. Es wurden schon Drohungen laut, überhaupt aus dem Europarat auszuscheiden.

Und jetzt gewinnt im Europarat die Auffassung die Überhand, dass man der russischen Delegation ALLE Rechte zuückgeben sollte. Die Anhänger dieses Schritts sowie leider ihre Gesinnungsgenossen aus russischen Menschenrechtsorganisationen beschreiben dies nicht als Kapitulation, sondern als Reform innerhab des Europarats. Sanktionen sollen überhaupt abgeschafft werden – jetzt gegenüber Russland, und in Zukunft generell auch bei allen anderen Ländern. Sanktionen seien überhaupt ineffizient, sie sollten durch effektivere Maßnahmen der Einwirkung auf Länder ersetzt werden, die gegen internationales Recht verstoßen haben.

Wären statt Sanktionen überzeugende, effiziente Maßnahmen vorgeschlagen worden, dann müsste man den jetzigen Vorgang nicht als Kapitulation bezeichnen. Aber in Wirklichkeit wird ein ziemlich schwammiges Konzept anvisiert:

Wenn ein Staat gegen das Statut des Europarats verstößt, soll ein Monitoring eingeleitet werden. D. h. es wird ein Berichterstatter ernannt, der dieses Land besucht, wenn man ihn denn lässt, und Informationen sammelt, wenn man ihm denn welche zukommen lässt, und der dann einen Bericht verfasst, den die Parlamentarische Versammung diskutieren wird, worauf dem betreffenden Land Empfehlungen gegeben werden sollen. Das Monitoring kann sich lange hinziehen, und ebenso lange wird der „konstruktive, aber auch kritische Dialog“ dauern.

Das ist wahrlich ein erstaunlich „effizienter“ Mechanismus!

Wenn man von der Erfahrung ausgeht, die man mit dem Verhalten der russischen Machthaber bei solchen Mechanismen im Europarat und der UNO hat, kann man von vornherein davon ausgehen, dass die Berichterstatter auf eine impertinente Reaktion stoßen und dass ihnen die nötigen Informationen verweigert werden. Und die Empfehlungen des Europarats wird man einfach ignorieren.

Und was soll man in diesem Fall mit denen tun, die böswillig gegen die Regeln verstoßen? – Immer wieder „eijeijei“ sagen. Und als äußerste Maßnahme bleibt immer noch, dem Land mit dem Auschluss aus dem Europarat zu drohen. Aber dieses äußerste Mittel hat man doch jetzt schon! Dabei hat niemand im Europarat ernsthaft darüber diskutiert, Russland auszuschließen. So wird es auch in Zukunft sein. Inwiefern ist also das jetzt vorgeschlagene Verfahren effizienter?

Meine Kollegen aus mehreren russischen Menschenrechtsorganisationen hegen in der Tat die Befürchtung, dass Russland selbst „die Tür zuschlägt“ und aus dem Europarat ausscheidet. Daher haben sie auf jede erdenkliche Weise im Europarat für eine Aufhebung der Sanktionen plädiert.

Ist damit zu rechnen, dass Russland von sich aus aus dem Europarat austritt? Das scheint mir wenig wahrscheinlich. Ähnliche Drohungen waren eher ein Bluff, wenngleich man es natürlich nicht gänzlich ausschließen kann. Die Folgen wären für die russischen Bürger und für unsere NGOs tatsächlich negativ.

Aber es stellt sich die Frage – um welchen Preis darf man anstreben, dass unser Land im Europarat bleibt? Können wir dafür jeden Preis in Kauf nehmen?

Wenn der Europarat auf die russische Erpressung damit reagiert, dass er Russland in allem entgegenkommt und dies noch mit schönen Worten von „gerechteren und effizienteren Verfahren“ bemäntelt, dann demonstriert er seine völlige Ohnmacht, die Bereitschaft, sich ans Gängelband derer zu begeben, die mutwillig gegen internationales Recht verstoßen. Ein solches Verhalten wäre der Selbstmord des Europarats als einer Organisation, die das verteidigt, was als „europäische Werte“ bezeichnet wurde.

Im Endeffekt wird man solche internationale Organisation nicht mehr ernst nehmen müssen, man kann auf ihre Empfehlungen pfeifen und wird sich immer weniger nach Entscheidungen des Europäischen Gerichts richten.

Wozu brauchen Menschenrechtsverteidiger die Mitgliedschaft in einem solchen Europarat? Nur um so zu tun, als ob sie mit seiner Hilfe etwas erreichen könnten?

Ein beträchtlicher Teil der russischen Machtelite wird die Aufhebung der Sanktionen der Parlamentarischen Versammlung als Sieg über den Europarat auffassen, als Beweis, dass er „vor uns eingeknickt ist“. Die russische Regierung ist den Forderungen des Europrats nicht im Geringsten entgegengekommen und erhält als Antwort Zugeständnisse von jenen, die sie als ihre Gegner ansieht. Also kann sie auch weiterhin genau das tun, wofür seinerzeit die Sanktionen eingeführt wurden.

Was hier geschieht, ist ein Beispiel für Appeasement-Politik gegenüber dem Aggressor. Aus der Geschichte wissen wir, dass ein solches Appeasement, egal, wie vernünftig die Argumente auf den ersten Blick erscheinen, mit denen es kaschiert wird, den Aggressor nur ermutigt.

Meine Menschenrechtskollegen lieben es nicht, wenn man historische Parallelen zieht. Was soll denn „München“ damit zu tun haben? Jetzt ist doch eine ganze andere Situation. Und man darf uns nicht des Verrats beschuldigen.

Die Logik der Autoren von München war einleuchtend:

„Was ist denn die Alternative? Eine endlose Konfrontation, die zu einem neuen weltweiten Gemetzel führt? Schließlich und endlich ist Hitler eine Realität, die man anerkennen muss, man muss ihn in Verhandlungen einbeziehen, er muss Verpflichtungen übernehmen. Und vergessen wir nicht, dass der Großteil der Bevölkerung seines Landes ihn gewählt hat. Niemand hat die Absicht, ihm die ganze Tschechoslowakei ‚zum Fraß vorzuwerfen‘. Wir überlassen ihm nur einen kleinen Teil dieses Landes, wo im Wesentlichen Deutsche leben. Und die Souveränität des übrigen Teils bleibt erhalten. Er ist ja nicht verrückt, wenn er bekommen hat, was er wollte, wird er ja keine neuen Konflikte vom Zaun brechen“.

Wie das ausgegangen ist, ist bekannt.

Jetzt hat die Weltgemeinschaft keine realistische Möglichkeit, Russland zu zwingen, die widerrechtlich annektierte Krim aufzugeben und die Aggression in der Ostukraine zu beenden, man kann in dieser Frage nur den Preis für den Aggressor in die Höhe treiben.

Alle Sanktionen, die im Zusammenhang mit den Aktionen meines Landes gegenüber der Ukraine eingeführt wurden, sind in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Unterschiedliche Sanktionen von verschiedenen Seiten üben nicht nur unterschiedliche Wirkung auf Russland aus, sondern (was genauso wichtig ist) demonstrieren der übrigen Welt eine eindeutige Verurteilung der Handlungsweise meines Landes. Und in diesem Sinne sind die Sanktionen der Parlamentarischen Versammlung ebenso wichtig wie alle anderen. Sie alle schützen den Frieden, beugen neuen militärischen Abenteuern vor und verhindern das Hineinschlittern in einen Krieg.

Der Preis in dieser Frage war für Russland hoch genug, um einer weiteren Eskalation Einhalt zu gebieten. Russland hätte das Projekt „Novorossija“ durchaus verwirklichen können. Im Herbst 2014 hätten russische Truppen ohne weiteres mindestens Mariupol einnehmen können. Aber die Panzer stoppten kurz vor Mariupol und zogen nicht weiter. Aber es war nicht die Angst vor dem Widerstand durch ukrainische Streitkräfte, die sie zum Stehen brachte. Es war die Folge des internationalen Drucks und der Drohung, ihn noch zu verstärken.

Die russische Regierung bemüht sich intensiv darum, die einheitliche Front ihrer Gegner aufzubrechen. Sie ist ständig auf der Suche nach einem „schwaches Glied“ (Italien, Ungarn usw.). Argumentiert wird damit, dass die Sanktionen angeblich Europa selbst schadeten und dass sie nicht effizient seien, dass unter den Bedingungen von Sanktionen ein Dialog nicht möglich sei und sich ohne Dialog die Situation nur verschlechtern könne. Das beten jetzt auch einige unserer Kollegen aus russischen NGOs nach. Unter diesen Umständen verschafft die Aufgabe der Sanktionen notwendig jenen Kräften zusätzliche Vorteile, die in Europa eine Appeasement-Politik gegenüber dem Aggressor durchsetzen möchten. Und das ist nicht der Weg zum Frieden, sondern zum Krieg.

21. Juni 2019

 

 

 

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