Interview mit Lana Estemirova

 

Es folgt das (leicht gekürzte) Interview von Alexej Alexandrov mit Lana Estemirova.

 

Warum leben Sie nicht in Russland und was war der Anlass für Ihre jetzige Reise hierher?

Ich habe sehr oft an den zehnten Jahrestag der Ermordung meiner Mutter gedacht, für mich ist das ein wichtiges Datum. Ich habe die ganzen Jahre über sie nachgedacht. Und ich wollte immer an diesem zehnten Jahrestag bei Memorial sein, bei Mamas Arbeit, im Umkreis ihrer Kollegen. Deshalb bin ich eigens für ein paar Tage hierher gekommen, um zu diesem Zeitpunkt hier zu sein, bei ihren Freunden und Kollegen.

Ich lebe jetzt in Großbritannien. Gleich nach Mamas Ermordung war klar, dass ich nicht in Russland bleiben kann, und Mama hatte sich immer sehr gewünscht, dass ich eine Ausbildung im Ausland bekomme. Deshalb habe ich die 11. Klasse in Russland bei meiner Tante abgeschlossen und dann in Oxford und in London studiert.

Ging es hier vor allem um die Ausbildung? Oder hing die Ausreise eher damit zusammen, dass es für Sie dort unangenehm oder gefährlich war?

Natürlich waren Mamas Freunde in erster Linie um meine Sicherheit besorgt. Obwohl ich nicht glaube, dass mir eine besondere Gefahr drohte. Aber um ehrlich zu sein, habe ich an dem Tag, an dem meine Mutter ermordet, als sie unmittelbar vor unserem Haus entführt wurde, während ich schlief, aufgehört, Tschetschenien als mein Zuhause zu betrachten. Wahrscheinlich habe ich das gewissermaßen als Verrat empfunden und verstanden, dass ich mein Leben irgendwo anders aufbauen müsste.

(...)

…Sie waren damals 16?

15.

Soviel ich weiß, haben Sie damals schon nicht mehr ständig in Tschetschenien gelebt, sondern sind in Jekaterinburg in die Schule gegangen. Sind sie in den letzten Jahren nur im Sommer nach Tschetschenien gekommen?

Nein, ich hatte nur dieses eine Jahr bei meiner Tante gewohnt, 2008-2009, weil Mama sich schon Sorgen um mich machte. Zuvor hatte ich mal versucht, in der Nähe von Moskau einige Monate in die Schule zu gehen, aber das fiel mir zu schwer, deshalb hat Mama mich mit 14 für einige Monate zurückgeholt. Es hat sie sehr belastet, dass sie den ganzen Tag arbeitete und nicht wusste, was ich überhaupt treibe. Sie sagte immer: „Komm sofort nach Hause, hänge nicht mit Freunden im Schulhof herum“.

Wir haben leider nur wenig Zeit zusammen verbracht. In ihrem letzten Lebensjahr haben wir uns buchstäblich zweimal gesehen, natürlich ist es schwer, sich das klar zu machen.

Wie standen Sie damals zur Bitte Ihrer Mutter, nicht in Tschetschenien, sondern irgendwo anders zu leben? Haben Sie verstanden, dass das, was sie tat, gefährlich war?

Wissen Sie, ich war lange Zeit sehr tolerant gegenüber Mamas Arbeit. Das heißt nicht tolerant, das ist falsch ausgedrückt – aber ich habe gesehen, wie sie arbeitet, ich habe all die unglücklichen Mütter gesehen, die zu ihr kamen, nachdem man ihre Söhne entführt hatte. Ich wusste von früher Kindheit an, dass das nicht einfach eine Arbeit von 9 bis 17 Uhr war – das war eine Berufung, eine Mission. Ich war mir dessen bewusst und habe es ihr nicht übelgenommen. Ich war daran gewöhnt, das war eben unser Leben.

Aber als ich 14 war und sie mich zu meiner Tante schickte, wurde es für mich immer schwerer. Ich war in einem Übergangsalter, entwickelte eigene Interessen und vermisste meine Mama sehr. Ich erinnere mich, ich habe das sogar in mein Tagebuch geschrieben, dass ich verstehe, dass ihre Arbeit jetzt das Wichtigste ist und ich nichts daran machen kann, aber ich sehne mich sehr nach ihr, und ich wünschte mir, dass wir zusammenleben könnten.

Manchmal nahm ich das übel, aber ich verstand immer, wie wichtig ihre Arbeit war. Und ich konnte nicht lange böse auf sie sein, weil ich wusste, dass kindisch ist, dass sie jetzt andere Prioritäten hatte.

Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen und das erklärt?

Sie musste das in Wirklichkeit gar nicht erklären. Sie hat wahrscheinlich Glück mit mir gehabt. Es mag unbescheiden klingen, aber sie hatte es insofern gut mit mir, als wir eine Art emotionaler Bindung hatten. Viele Dinge haben wir gar nicht besprochen, sondern gewissermaßen im Innersten ohne Worte verstanden. Jedes Mal, wenn sie mich unvermittelt für drei Wochen aufs Land schickte, sagte sie nicht „Ich habe Angst um Dich“, sondern – „Du hast Deine Vettern länger nicht gesehen, bleibe ein bisschen bei ihnen“.

 

Wollten Sie Mama zurückhalten?

Das einzige, was ich ihr immer gesagt habe, war, dass sie vorsichtiger sein sollte. Ich habe sie immer angefleht, sich keiner Gefahr auszusetzen und immer Bescheid zu sagen, wohin sie sich begab.

In ihrem letzten Lebensjahr hat mir irgendetwas in meinem Inneren signalisiert, dass eine Katastrophe im Anzug ist. Ich hatte Albträume und konnte nicht schlafen. Nach meiner Erinnerung war es im Januar 2009, dass Stas Markelov ermordet wurde, ein Menschenrechtler, Antifaschist, Jurist – er war ein guter Bekannter von uns. Danach habe ich doppelt um Mama gefürchtet. Aber ich habe ihr nie im Leben gesagt, dass sie ihre Tätigkeit aufgeben sollte.

Sind Sie als Geschädigte im Strafverfahren zur Ermordung Ihrer Mutter anerkannt? Stehen die Ermittler mit Ihnen in Kontakt?

Meine Tante, Mamas Schwester, hat sich mit der Untersuchung befasst, und sie gilt offiziell als Geschädigte, weil ich bei Mamas Tod noch zu jung und gar nicht in der Lage war, mich in all dem zurechtzufinden. Sie ist hier auf dem Laufenden. Natürlich habe ich mich jetzt, schon in bewussterem Alter, eingeschaltet, ich verfolge die Untersuchung von Zeit zu Zeit. Aber viele Jahre konnte ich das überhaupt nicht ansehen und nichts darüber lesen, das war für mich sehr schwierig.

Zurzeit tut sich da aber doch gar nichts.

Das ist es. Es gibt keinen Durchbruch, das Verfahren wird ständig auf Eis gelegt und dann wieder aufgenommen. Die offizielle Version der Ermittlung ist, dass ein Aufständischer sie ermordet hat, der schon vor vielen Jahren gestorben ist. Ich glaube daran natürlich überhaupt nicht.

 Welchen Status hat das Verfahren im Moment?

Soweit ich weiß, wurde es wieder aufgenommen. Ich bin ehrlich gesagt nicht sicher.

Wer ist in Ihren Augen schuldig? Wer ist Ihrer Meinung nach unmittelbar für den Mord an Ihrer Mutter verantwortlich?

Ich werde auf niemanden mit dem Finger zeigen, weil das reine Spekulation ist. Aber ich sage einfach, dass alle dafür verantwortlich sind – Putin, Kadyrov, und das ganze System, das sie in den letzten 20 Jahren errichtet haben. Ein System, in dem man ohne Folgen nicht die Wahrheit sagen, ein System, in dem man die Handlungen oder Unterlassungen der Machthaber nicht kritisieren darf. Schuld ist dieses ganze System, gegen das Mama gekämpft hat, ein Kampf, den Hunderte von Menschenrechtlern, Journalisten und Anwälten fortsetzen.

Journalisten der „Novaja gazeta“ sowie Memorial vertreten die Auffassung, dass der Mord an Natalja Estemirova unmittelbar mit ihrem letzten Bericht zusammenhängt, für den sie recherchierte – über Entführungen durch Mitarbeiter der Regionalen Abteilung für Inneres von Kurtschaloevsk. Stimmen Sie dieser Version zu?

Ja, ich vertraue Mamas Kollegen hundertprozentig. Ich bin sicher, dass das der Wahrheit nahekommt, wenn sie diese Version vertreten. Ich bitte sie immer um Rat hinsichtlich der Ermittlung und frage sie nach ihrer Meinung.

Vor einem Jahr, als das Verfahren gegen Ojub Titiev begann, haben Sie einen Videoclip zu seiner Unterstützung aufgezeichnet. Was war der Grund für diese Entscheidung?

Ojub Titiev war einer von Mamas Kollegen, er hat Memorial zu der Zeit unter seine Fittiche genommen, als es für die tschetschenischen Menschenrechtler am schwersten war. Das war heroisch. Als sie ihn verhafteten, war ich einfach furchtbar aufgebracht! Ich wollte alles nur Mögliche tun, um ihm irgendwie zu helfen.

Es klingt zwar zynisch, aber ich hatte die Hoffnung gehegt, dass nach dem Mord an meiner Mutter eine gewisse Sicherheit für ihre Kollegen bestehe, weil niemand es wagen würde, nochmal so etwas zu tun. In gewisser Hinsicht glaubte ich, sie seien geschützt. Als sie nun Ojub verhafteten, sah ich, dass es damit aus war… Natürlich war mein erster Gedanke – Gott sei Dank lebt er, niemand hat ihn umgebracht oder gefoltert. Aber ich war doch aufgebracht, als das passiert war, wie auch die anderen von Mamas Kollegen.

Sie arbeiten an einem Buch. Warum schreiben Sie es auf Englisch?

Mir ist vor langer Zeit klar geworden, dass ich ein Buch schreiben möchte. Nach der Beisetzung habe ich keine Interviews gegeben, und ich wusste, dass ich irgendwann selbst unsere Geschichte erzählen werde. Über das, was in Tschetschenien geschieht, einfach über unser Leben.

Ich habe vor ein paar Jahren damit begonnen, zuerst auf Russisch, aber ich bin dann ziemlich schnell zum Englischen übergegangen. Wenn ich Englisch schreibe, kann ich mich leichter etwas von meiner Geschichte distanzieren. Das Englische entspricht meinem Schreibstil besser. Das ist eine recht einfache Sprache, und der Stil des Buchs ist verständlich und einfach.

Sind es Erinnerungen? Das, was man als Memoiren bezeichnet?

Ja, es sind Memoiren. In den letzten Jahren erzähle ich Freunden und Bekannten ständig irgendwelche Geschichten darüber, wie wir überhaupt gelebt haben. Das sind nicht nur Geschichten über Mama, sondern auch darüber, wie wir während der Bombardierungen lebten, über unsere verrückten Haustiere, darüber, wie wir keinen Strom und kein Wasser hatten. Solche Geschichten gibt es sehr viele – ich verstand, dass es interessant wäre, sie alle zu erzählen und zusammenzustellen.

Für mich ist dieses Buch wahrscheinlich der einzige Trost und der einzige Weg, irgendwie den ganzen Zorn, die Wut und den Schmerz zu aufzugreifen, die in mir natürlich immer noch vorhanden sind – und sie irgendwie kreativ zu verarbeiten. Statt sich selbst zu zerstören oder einfach aufzugeben und immer im Vergangenen stecken zu bleiben, möchte ich diese Emotionen verarbeiten und diese Geschichte aufschreiben, damit sie weiter geht. Ich möchte Mama und unser Leben dem Tod entreißen. Ich habe die wahrscheinlich etwas naive Idee, dass – auch wenn die Namen ihrer Mörder unbekannt bleiben -  Mama doch weiterleben wird, das kann ihr niemand mehr wegnehmen.

 

Gibt es in diesem Buch Episoden, die unmittelbar mit ihrer Ermordung zusammenhängen?

 

Ja, es ist in der ersten Person verfasst, das wird alles aus meinem Blickwinkel gesehen. Es gibt natürlich ein ganzes Kapitel, das ihre Ermordung und diesen ganzen Tag behandelt. Aber insgesamt ist das kein Buch über den Tod, nicht über eine Tragödie. Es beschreibt in erster Linie das Leben und die Hoffnung. Es ist eigentlich recht lustig.

Wann werden Sie es veröffentlichen?

Im Augenblick kläre ich ein paar praktische Fragen. Ich hatte gehofft, es in diesem Jahr zu schaffen, aber wahrscheinlich wird es doch Anfang nächsten Jahres.

Auf Englisch?

Englisch und Russisch.

(…)  

Was haben Sie studiert, welchen Beruf haben Sie? Und arbeiten Sie in diesem Beruf?

 

Ich habe internationale Beziehungen an der internationalen Londoner Schule für Ökonomie und Politik studiert. Leider hatte ich Probleme mit meinem Visum und konnte deshalb einige Jahre nicht in meinem Beruf arbeiten. Jetzt konzentriere ich mich auf das Buch, ich möchte es zu Ende schreiben und werde mich dann vermutlich anders orientieren.

Sie haben das Studium vor kurzen abgeschlossen?

Vor zwei Jahren.

(…)

In einem Interview mit der BBC haben Sie gesagt, dass Sie eine gewisse Bindung an Tschetschenien empfinden. Möchten Sie irgendwann dorthin zurückkehren? Jetzt ist das wahrscheinlich nicht möglich – aber vielleicht doch – irgendwann mal?

Mir scheint, dass ich, obwohl es mir sehr schwer ist, Tschetschenien als mein Zuhause zu betrachten, ich es natürlich nie vergessen werde. Ich weiß, dass ich keine typische Tschetschenin bin, ich habe eine etwas andere Lebensweise, ich bin sehr liberal erzogen worden. Aber ich werde mich doch als Tschetschenin verstehen, werde mich immer nach dem Landleben dort, nach Grozynj sehnen. Ich habe einen Traum. Irgendwann, wenn Kadyrow bereits der Geschichte angehöert, möchte ich nach Groznyj zurückkehren, und ich möchte, dass dort ein Denkmal für meine Mama stehen wird – gegenüber von Memorial, wo sie gearbeitet hat, auf dem Platz für gefallene Journalisten. Ich träume davon, dass ich irgendwann dorthin komme und das Band an diesem Denkmal durchschneide.

Glauben Sie, dass ein Denkmal jetzt nicht möglich ist? Die Frage klingt absurd, aber in Russland stellen die Machthaber insgesamt – darin zeigt sich eine gewisse Heuchelei – für Ermordete recht schnell Denkmäler auf.

Ich möchte dieses Denkmal nicht aufstellen, solange Kadyrov an der Macht ist. Damit wäre zwangsläufig viel Heuchelei verbunden, von seiner Seite.

Haben die Freunde in Großbritannien, mit denen Sie studiert haben, gewusst, warum Sie aus Russland ausgereist waren?

Ja natürlich, alle meine Freunde wussten das, ich mache daraus nie ein Geheimnis. Als ich anfangs meinen Freunden, die in Londoner Vororten aufwuchsen, von meiner Kindheit, von meiner Mama erzählte, wussten sie überhaupt nicht, wie sie damit umgehen, was sie dazu sagen sollten. Aber sie haben mich immer angehört, sie waren sehr warmherzig und immer bereit zu helfen. Ich schätze meine Freunde dafür, dass sie immer bereit waren, mich so zu nehmen wie ich bin, obwohl sie nie in Tschetschenien waren und die noch nie mit etwas dergleichen zu tun hatten.

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