Das Waldstück Sandarmoch ist im nordwestlichen Russland die größte Grabstätte der Opfer des „Großen Terrors“ der Jahre 1937 – 1938 und eine der wenigen Stätten, bei denen die Namen der Begrabenen genau festgestellt wurden. Unter denjenigen, die diese Stelle entdeckten und eine schon langjährige Erinnerungsarbeit in dem Waldstück durchführen, sind Jurij Dmitriev, Maksim Ljalin, Anatolij Razumov und Irina Flige. 2019 wurde das Projekt „Sandarmoch“ für den Jegor Gajdar Preis in der Kategorie „Für Tätigkeiten, die die Zivilgesellschaft fördern“ nominiert und ausgezeichnet. Im Interview anlässlich der Verleihung erzählen sie, was sie bei ihrer ersten Reise nach Sandarmoch empfanden, sprechen über verfolgte Familienangehörige und Nahestehende sowie über den Schuldkomplex, den alle geerbt haben. Wir bringen das Interview leicht gekürzt in Übersetzung.

 

Als Sie das erste Mal nach Sandarmoch kamen, was haben Sie da empfunden?

 

Anatolij Razumov:

Ich erinnere mich gut daran und habe natürlich in den letzten zwei Jahren nicht nur einmal daran gedacht. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt schon viel über diesen Ort, weil ich mich mit dem „Leningrader Martyrologium“ [Verzeichnis der Opfer der Stalinzeit; A. d. Ü.] beschäftigt hatte, das sind Gefangene der Solovetzki-Inseln und jene, die in Leningrad verhaftet wurden und ihre Haft am Weißmeer-Ostsee-Kanal im „BelBaltLager“ absaßen. Über die Funde in Sandarmoch 1997 war ich natürlich erschüttert. Ein Jahr zuvor war der zweite Band des Leningrader Martyrologiums erschienen mit einem Vorwort von Dmitrij Lichatschev zu den Solovetzki-Erschießungslisten, aber keiner hatte gewusst, wo die Menschen erschossen worden waren. Und im Frühling 2000, als die Arbeit an dem internationalen Projekt „Rückgabe der Namen“, dem Aufbau einer Datenbank mit den Namen sämtlicher Repressierter, begann, fuhr ich nach Petrozavodsk, um Jurij Dmitriev kennenzulernen und ihn einzuladen, bei dem Projekt mitzumachen. Und Jura brachte mich nach Sandarmoch.

Wir fuhren zu dritt mit dem Hund Veda, einem vollwertigen „Fahnder“ in Sandarmoch, in Jurijs Auto. Wir dachten noch, kommen wir da überhaupt an, so klapprig war Jurijs Wagen. Und wir kamen an. In gewisser Weise hatte ich keine komplett neuen Eindrücke. Vor mir lag einer der Orte massenhafter Gräueltaten. Auch im Wald, genau wie der Gedenkfriedhof Levaschovo bei Petersburg. Aber ich erinnere mich an das Gefühl eines großen Raums des Verstehens. Neben mir mein Kollege Jurij Dmitriev, den ich vom ersten Gespräch an vollkommen verstehe, vor mir ein Ort der Gräuel, den ich genauso sehe wie den Gedenkfriedhof Levaschovo – eine ehemalige Spezialeinrichtung der Staatssicherheit -, und der Ort ist ähnlich, hier und dort erschoss man Menschen oder tötete sie auf andere Weise. Der einzige Unterschied zwischen Sandarmoch und Levaschovo: Lag die Grabstätte am Rande einer Stadt oder Siedlung und gab es Wohnungen in der Nähe, dann war es aus Gründen der Geheimhaltung strengstens verboten, die Menschen an dieser Stelle zu erschießen. Nach Levaschovo brachte man sie also nach der Hinrichtung, in Sandarmoch wurden sie in der Regel an Ort und Stelle erschossen.

 

Maksim Ljalin:

Das erste Mal fuhr ich im August 1989 nach Sandarmoch. Das erste, woran ich mich erinnere, ist ein emotionaler Schock – etwas Vergleichbares war mir noch nicht begegnet. Nicht diese Form der Erinnerung, nicht die Menge an Menschen, die dorthin kamen. Ja, und allgemein war das meine erste Besuchserfahrung einer organisierten Grabstätte von Opfern der politischen Repressionen. Auf der anderen Seite war ich über das Gesehene erstaunt, denn so hätte man doch auch Erinnerungsorte in vielen Städten organisieren können. Ich selbst komme aus Brjansk, dort gibt es einen derart organisierten Gedenkort der persönlichen Erinnerung mit den Namen der Repressierten nicht. Es gibt die Gedenkstätten in Kommunarka und Butovo in Moskau, die am nächsten zu Sandarmoch gelegene ist jedoch der Friedhof von Levaschovo bei Petersburg. Aber sonst ist mir eine solche volksnahe Art der Erinnerung nirgends mehr begegnet.

 

Irina Flige:

Meine persönliche Geschichte ist anders. Es gab ein Territorium, bei dem wir festgestellt hatten, dass dort Grabstätten existieren und das sorgfältig untersucht werden musste. Wir gingen mit einer Sonde vor, legten den Boden der Gruben frei. Das ist Forschungsarbeit und emotional nicht belastend. Und das blieb so, bis die erste Grube geöffnet wurde. Das erste Gefühl war unmittelbar mit der Reaktion der Soldaten verbunden, junger Männer, die die Gräben aushoben. Die Sache war die, dass sie in dem Moment der Entdeckung der ersten Grube schon einen halben Tag leere Gräben ausgehoben hatten. Und während sie am Anfang, als sie dorthin kamen, noch nervös waren, hatten sie sich entspannt, nachdem sich die dritte, vierte und fünfte Grube als leer erwiesen hatte. Rauchten, lachten und warfen mit Sand. Als die erste Erschießungsgrube entdeckt wurde, sprangen sie mit zitternden Händen dort raus. Das sieht man sogar in der Statik auf der Fotografie. Für mich begann die Emotion mit ihrer Reaktion.

An dem Ort Sandarmoch liefen zwei Suchaktionen zusammen. Wir, Veniamin Iofe und ich, suchten nach dem verschollenen Solovetzki-Transport, während Ivan Tschuchin und Jura Dmitriev die Grabstätten der Opfer des Terrors in Karelien suchten. In den Dokumenten, die wir entdeckten und die mit dem Solovetzki-Transport zusammenhingen, gab es den sehr wichtigen Satz, dass die Solovetzki-Gefangenen an einem üblichen Ort der Vollstreckung von Urteilen erschossen wurden. Die Suche nach dem Solovetzki-Transport zog sich über viele Jahre hin, faktisch seit 1989, seit den ersten Gedenktagen, wir suchten gemeinsam mit den Verwandten und Nahestehenden derjenigen, die man von den Solovetzki-Inseln abtransportiert und erschossen hatte. Wir sind diese Geschichten zusammen durchgegangen, haben Anfragen geschrieben, Dokumente gesichtet, uns ausgetauscht, Briefe studiert. Sie fuhren zusammen mit uns nach Solovki und nach Kem – dem letzten Aufenthaltsort ihrer Angehörigen – und suchten ihre Spuren. Wir suchten konkrete Menschen, kannten nicht nur ihre Namen, sondern sahen auch ihre Gesichter, erfuhren vom Leben der Familien nach ihnen. Zwischen uns entstanden freundschaftliche Beziehungen, ich sage jetzt nicht familiäre, aber sehr nahe. Deswegen ist es für mich sehr schwer, Recherchen im Rahmen von Forschungsprojekten von der Suche nach Angehörigen zu trennen.

 

Welche Gefühle beherrschen Menschen, die auf diesem Wege nach Angehörigen und Nahestehenden suchen? Da geht es ja schon nicht mehr um Emotionen, sondern in gewissem Maße um ein inneres, rituelles Totengedenken und ein Gedenken, wenn der Punkt gefunden wird, an dem die persönliche Geschichte zum Abschluss kommt und Gewissheit über das Schicksal eines Menschen entsteht.

 

Irina Flige:

Wenn wir über die Epoche des „Großen Terrors“ sprechen, dann war eine Verhaftung in bestimmtem Sinne dem Tode gleich in der Katastrophe der Unbestimmtheit. Es konnte sein, dass es einem der Nahestehenden ein- oder zweimal gelang, ein Paket zu übergeben, aber die Verbindung zu dem Verhafteten riss sehr schnell ab. Im weiteren blieb die Familie in Unwissenheit – war er gestorben, war er nicht gestorben, ein ambivalentes Gefühl des Verlusts. Wenn man ihnen sagte: „Zehn Jahre ohne das Recht auf Briefwechsel“, glaubten sie einerseits daran und andererseits auch wieder nicht. Viele verstanden, das bedeutete den Tod, aber in dieser verlogenen Formel war auch ein Stück Hoffnung. Aber ein Tod ohne Leichnam, ohne Beerdigung, ohne Grab ist nie endgültig. Diese Unbestimmtheit zog sich über Jahrzehnte hin. Die Angehörigen schrieben Anfragen, suchten: Sie hofften, den Betreffenden lebend zu finden, und wollten auf der anderen Seite endlich die Wahrheit erfahren, sich Gewissheit verschaffen, dass der Mensch gestorben war. Die Konkretisierung des Todes erforderte nochmals drei Jahrzehnte: Zuerst hatte man nur die Tatsache des Todes ohne Ort und mit falschem Datum, später erfuhr man, dass der Betreffende gleich nach der Verurteilung erschossen wurde. Und erst Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre begann sich die wichtigste menschliche Intention, Blumen auf ein Grab zu legen, zu realisieren: Initiativgruppen in verschiedenen Städten entdeckten Massengräber Erschossener. Und das ist der Schlusspunkt der Erinnerung – der Tod hatte stattgefunden, wie er in gewissem Sinne für eine Familie die Norm war. Jetzt kann man Blumen auf das Grab legen, wenn auch auf ein Massengrab, wenn auch mit einer gewissen Einschränkung, man kann Namen und Lebensdaten auf eine Tafel schreiben, ein Kreuz oder ein anderes Zeichen aufstellen. Ein solcher Platz, das ist die Materialisierung des Todes, und zusammen mit ihr kommen Gefühle, Emotionen und Erinnerungen.

Irina Flige

 

Wie reagiert die örtliche Bevölkerung darauf, dass ein solcher Ort in ihrer unmittelbaren Umgebung entsteht? Gibt es da nicht einen gewissen Widerstand? Schließlich muss sie doch in unmittelbarer Nähe dieser schrecklichen Vergangenheit leben.

 

Irina Flige:

Das ist eine sehr wichtige Geschichte. Ungeachtet dessen, dass die Grabstätten Erschossener während der gesamten sowjetischen Geschichte geheim waren, sorgfältig unter Verschluss gehalten durch den NKWD auf Grund geheimer Anweisungen, wussten die örtlichen Bewohner in der Regel von diesen geheimen Grabstätten. Irgendetwas hatten sie gesehen, irgendetwas gehört. Die Geschichten wurden von Details und Einzelheiten umrankt, flüsternd erzählte man von dem schrecklichen Ort im Wald, dass man da nicht hingehen durfte und dem wurde oft noch hinzugefügt: „Einmal hatte einer nicht gehorcht, war in den Wald gegangen und verschwunden.“ So war es auch mit Sandarmoch. Und plötzlich kamen Leute aus St. Petersburg, aus Petrozavodsk, und begannen diesen „schrecklichen Ort“ zu suchen, und als sie ihn gefunden hatten, begann eine kulturelle Erschließung (man muss wissen, dass ein Friedhof in den bäuerlichen rituellen Praktiken kein schrecklicher Ort ist. Ein schrecklicher Ort, das ist etwas anderes).

Was war die Antwort der örtlichen Gemeinschaft? Eine sofortige Reaktion, die darauf abzielte, die Vorstellung von diesem Ort umzuarbeiten. Am nächsten Morgen kamen Förster. Mit den Förstern haben wir die Grenzen des Territoriums markiert. Das ist das Wichtigste für das lokale Bewusstsein: Das Territorium zu kennzeichnen, damit man es durch gewisse kulturelle Aktivitäten verarbeiten kann. Grenzen festsetzen, Schilder an Bäume hängen, den sakralen Teil des Gebiets von dem nicht-sakralen Teil abtrennen. Die Regierung von Karelien traf sehr schnell die Entscheidung, hier einen Gedenkfriedhof einzurichten. Und solange sie Geld dafür anwies, machten die Förster ihre Arbeit, nahmen diesen Teil des Waldes aus der Landnutzung heraus, die Straßenarbeiter asphaltierten auf Kredit die Straße, ein kommerzielles Unternehmen baute eine Kapelle. Warum betone ich das? Weil alle verstanden, dass dieser Ort sonst nicht in den kulturellen Kreislauf gelangen, schrecklich und eingefroren bleiben würde. Man musste sofort handeln.

 

Maksim Ljalin:

Karelien, so wie ich es sehe und fühle, ist ein Territorium mit einem sehr komplizierten historischen Erbe. Wenn es in einer Region um die dreißig Erschießungsstätten gibt, an denen man in den 1930er und 1940er Jahren eine derartige Menge Menschen vernichtet hat, wenn im Wesentlichen jeder fünfte Einwohner Repressionen unterworfen wurde, wenn Lager und Gefängnisse eigentlich städtebildende Unternehmen waren, welche Traditionen und Erinnerungen sollen dann an die Generationen übergeben werden? Dazu noch diese ziemlich raue, nördliche Region. Aus diesem Grund verhalten sich die Menschen zu allen Fragen, die die Erinnerung an die Repressionen betreffen, äußerst vorsichtig, versuchen, das Thema gar nicht anzusprechen. Ich verstehe, dass Angst und Schweigen auf einer gewissen unbewussten Ebene entstehen, das ist wie in den 1930er bis 1950er Jahren, als es besser war zu schweigen und das, was vor sich ging, nicht zu erörtern. Und das war genau die Angst, die NKWD und (sein Vorläufer) OGPU erreichen wollten, als sie diese Orte schlossen und für geheim erklärten, als es diese Atmosphäre des totalen Schreckens gab, so dass die Menschen versuchten, sich überhaupt gar nicht zu zeigen, um nicht irgendwann zu „Verbrauchsmaterial“ für einen weiteren Plan der OGPU zu werden.

Natürlich, wenn Sie eine direkte Frage stellen, dann erklärt man Ihnen den Weg und hilft Ihnen, dorthin zu kommen. Zweifellos, die Ortsansässigen kommen hierher und wissen, wer hier erschossen wurde und was vor sich ging. Aber daneben entstehen rund um Sandarmoch selbst eigene, örtliche „Legenden“. Als wir das letzte Mal mit Freiwilligen von Sandarmoch zurückkehrten, wunderte sich z. B. ein örtlicher Taxifahrer: „Also hören Sie mal, was für Finnen? Es gibt keine Finnen in Sandarmoch, die wurden dort nicht erschossen.“ Aber Entschuldigung, nach den Erschießungslisten waren es mehr als 900 Menschen. Ich frage nach, woher er das weiß. Er antwortet: „Meine Großmutter hatte einen Cousin, und der Cousin hatte einen guten Freund (oder Nachbarn), er wurde erschossen, ist in Sandarmoch begraben, dort ist eine Gedenktafel. Aber er war Russe, Finnen gibt es da nicht. Das hat mir meine Großmutter gesagt, dass es keine Finnen dort gibt.“ Und auf dieser Alltagsebene werden die Legenden leider verbreitet und bleiben im Gedächtnis von Generationen.

 

Anatolij Razumov:

Uns fehlt im gegenwärtigen Russland überhaupt Erinnerung. Wir sind in den sowjetischen Jahrzehnten in eine Sackgasse geraten, eben weil wir versuchten, etwas vor den künftigen Generationen zu verbergen. In den Zeiten des Roten Leninschen oder des Großen Stalinschen Terrors rechtfertigten die Erwachsenen sich damit, dass man dem Kind nichts erzählen darf, weil es sonst in der Schule etwas davon sagt, und dann war's das für alle – für das Kind und für die Familie. Als dann 1953 einer der führenden Missetäter krepierte, entstanden andere Motive: Macht nichts, sie werden groß, eines Tages werden sie es erfahren, außerdem weiß keiner, wie sich das auf der Arbeit auswirkt. Weil die Menschen zwar in einem etwas modifizierten, aber immer noch in demselben Staat existierten, mit denselben Umständen. Mitte der 1950er Jahre während des ersten „Tauwetters“ belog man die Menschen frech bezüglich des Todesdatums der Erschossenen und der Todesursachen. Sie wissen ja, man schrieb: Starb 1943 an Leberzirrhose. Erschießungsdaten wurden in die Zeit des Krieges verlagert, eine Rehabilitierung war nur auf Antrag der Familienangehörigen möglich. Und dabei musste man, um einen Menschen zu rehabilitieren, im Antrag unbedingt zeigen, dass er ein guter sowjetischer Mensch war, schlecht dagegen waren der Ermittler, die Zeit, die Nachbarn und so weiter. Eben dieses Abgehen von der Idee der Verantwortung und der Kenntnis der Katastrophe, die geschehen ist, ist ins Blut übergegangen.

Aber jetzt passen die alten Ausreden nicht mehr. Alle wissen alles, es gibt Internet, Fernsehen, alles mögliche. Kinder und Schüler bringen alles wunderbar in Erfahrung und nehmen es wahr, so wie ich es wahrgenommen habe, als ich Schüler war. Man muss alles sagen, so wie es ist, und versuchen, nicht daran zu denken, dass das jemanden schockiert. Wenn Kinder heranwachsen, erfahren sie, was das ist: Tod, Liebe, Leben, das einen umgibt, Grausamkeit und alles andere. Und über die sowjetischen Missetäter müssen sie gut Bescheid wissen. Wenn ich Besucher, einschließlich Kinder, über den Gedenkfriedhof Levaschovo führe, erzähle ich alles, was ich weiß. Ich beantworte Fragen. Das hilft sehr, über ähnliche Themen an anderen Orten und vor anderem Publikum zu sprechen.

Ich habe den Besuchern von Sandarmoch und Krasnyj Bor [ebenfalls ein Gedenkfriedhof für während des Großen Terrors Erschossener in Karelien] nicht nur einmal von dem großen Terror erzählt, ich beobachte keinen Horror bei den örtlichen Bewohnern. Sie wissen alle, was Sandarmoch bedeutet. Und außerdem wäre es seltsam zu denken, dass jemand nichts von den Verbrechen in einer Region weiß, wo man mit Hilfe von Zwangsarbeit einen ganzen Weißmeer-Ostsee-Kanal gebaut hat. Hierher, nach Karelien, wurden Zehntausende von Bauern aus dem ganzen Territorium der Sowjetunion zusammengetrieben. Hier war ein sehr großes Lager, in das man aus dem ganzen Land Gefangene brachte. Und dann, nachdem sich Partei und Regierung, Stalin und seine engsten Freunde 1937 die Strafoperation ausgedacht hatten, erschoss man hier nach Plan sowohl friedliche Einwohner als auch Gefangene des Weißmeer-Ostsee-Lagers und zwangsumgesiedelte Bauern. Und schließlich fand sich ein Platz, wo sie alle begraben wurden. Ich habe in Sandarmoch und an vielen ähnlichen Plätzen, vor allem in Levaschovo, gesehen, wie die Nachkommen der Erschossenen diese Orte besuchen. Die Menschen gehen umher, weinen, kommen einmal, zweimal, weinen weiter. Dann finden sie irgendein Bäumchen, hängen ein Portraitbildchen auf. Diese Menschen haben jahrzehntelang in den Grenzen ihres eigenen Schmerzes gelebt, wie eingezäunt, bemühten sich, niemanden hinter diese Grenze zu lassen. Aber mit diesem Schmerz zu leben, ohne davon zu erzählen und ihn nicht einmal den Kindern weiterzugeben, ist unerträglich. Das ist quälend und die Umgebung fühlt ihn sowieso. Aber an solchen Orten wie Sandarmoch und Levaschovo befreien die Menschen ihr Herz wenigstens teilweise. Sie lassen einen Teil der schmerzlichen Erinnerung zurück und verwandeln sie in ein anderes Andenken. Und so muss es auch sein.

 

Warum, glauben Sie, fällt es bis heute so Vielen schwer, die harten Fakten unserer gemeinsamen kollektiven Geschichte anzuerkennen?

 

Maksim Ljalin:

Ich denke, das ist das Wesen sowohl der menschlichen Erinnerung als auch der Erinnerung der Gesellschaft, weil diese Erinnerung traumatisch ist. Und wenn Sie ein Trauma haben, versuchen Sie es zu vergessen, nicht daran zu denken, es irgendwie nach innen zu treiben. Natürlich ist das nicht richtig, aber damit das Trauma vergeht, muss man darüber sprechen. Und wir verschließen es in unserem Inneren. Wir versuchen, uns nicht daran zu erinnern, aber wird es davon denn leichter? Ich denke nicht.

 

Anatolij Razumov:

Erstens wird es immer verschiedene Ansichten geben. Zweitens kommt das nicht nur in unserem Land vor. In Spanien zum Beispiel gibt es auch sehr unterschiedliche Einstellungen zur schwierigen Vergangenheit. Und dennoch ist sie dort Gegenstand freier Erörterungen und Diskussionen. Warum sind wir in derartigem Maße durch diese Fragen beschwert, warum ist im heutigen Russland alles unbeweglich? Warum treten wir, wie ich glaube, überhaupt auf der Stelle, kommen nicht wirklich einen Schritt voran? Weil uns eben genau die Erinnerung fehlt. 40 Jahre arbeite ich in der Russischen Nationalbibliothek (früher Öffentliche Saltykov-Schtschedrin Bibliothek).

Schon lange stelle ich mir vor, wie viele Megatonnen Altpapier in Form von Büchern, Zeitungen, Magazinen mit lügnerischer Geschichte während der Sowjetzeit gedruckt und verbreitet wurden. Das hat sich ins Gedächtnis eingeprägt. Und diese Bücher wird es immer geben. Menschen, die naiv lesen, sagen: Na aber, es steht doch im Buch geschrieben! Hat die Sowjetunion bei den Nürnberger Prozessen wirklich falsche Angaben zu Katyn gemacht? Das waren die Nazis, aber doch nicht wir! Es gibt Menschen, die auch weiterhin an das glauben werden, was sie glauben wollen und irgendwo gelesen haben. Warum ich mich mit all dem beschäftige? Ich müsste ja nicht denken, dass ich für die Vergangenheit verantwortlich bin. Aber irgendjemand muss an die Vergangenheit anknüpfen und alles nur mögliche tun für das Andenken an die Menschen, denen man verbrecherisch und grausam das Leben entrissen hat. Wer es kann und wer es versteht, muss in diese Erinnerung sein Gefühl der Schuld hineinlegen. Es steht ein weiter Weg bevor, aber ich gehe ihn ohne Verzagtheit. Als wir vor mehr als dreißig Jahren begannen, waren wir naiv. Viele denken auch heute noch, dass Jurij Dmitriev ein sehr naiver Mensch ist, der es sich hat einfallen lassen, am Eingang zu Sandarmoch auf einen Stein zu schreiben „Menschen, tötet einander nicht.“ Was soll das denn sein? Aber Jura denkt so. Wir denken so. Und wir glaubten von Anfang an, dass unsere Arbeit, unsere Bücher, unser Wissen sehr viel auf den Kopf stellen werden . Das ist unser Credo. Was interessiert es uns, ob jemand sich weigert zu verstehen oder wenig versteht. Es gibt doch auch viele von denen, die das brauchen.

 Anatolij Razumov

 

Warum ist bis heute der Mythos über die Unmöglichkeit einer spontanen Verhaftung von Menschen so zählebig, der Mythos, dass es doch einen Grund gegeben haben muss und man Leute nicht wegen nichts verhaftet?

 

Anatolij Razumov:

Ich nehme es so wahr, dass wir, die jetzt lebende Generation, in gewissem Sinne alle Überlebende nach einer Katastrophe sind. Ein Teil von uns versteht das. Es wäre wünschenswert, wenn es mehr würden. Nicht jeder – nicht alle können mit Unheil leben, aber wir sollten einfach etwas mehr sein. Für diejenigen, die in Lager gerieten, verhaftet, deportiert, verbannt wurden, und für ihre Angehörigen – sie alle litten vergebens, ohne Schuld. Sogar das Strafgesetzbuch der RSFSR, wäre es unabhängig von den Weisungen der Partei, der Regierung und der Machthaber benutzt worden, hätte einen derartigen Umgang mit vielen von ihnen nicht gestattet. Aber es gibt noch eine andere Seite jener schrecklichen Realität. Stellen Sie sich vor, dass für Partei und Regierung oder einfacher gesagt für den wichtigsten Führer und einige seiner Genossen alle Einsitzenden, Deportierten, Entrechteten, Erschossenen und so weiter ohne jeglichen Zweifel Feinde waren. Und genau dieselbe Meinung vertraten jene Menschen, die ihrem Staat, ihrer Partei und ihrer Regierung glaubten. Kann etwa eine derartige Art von Glauben so schnell verschwinden? Ohne Nachdenken wird man glauben, dass zerkleinertes Glas in Essen gestreut wurde oder dass irgendwer irgendwen in die Luft gesprengt hat, Terroristen, Saboteure, Schädlinge, Spione. Es gibt nur zwei Momente, die heute wahrscheinlich jene berühren, die nichts über die schrecklichsten Repressionen wissen. Und das sind ganz sicher keine Zahlen, Zahlen bleiben nicht hängen.

Gestern fuhr ich mit einer Besuchergruppe aus Levaschovo zurück. Der Busfahrer, der meine Erzählung und Antworten auf Fragen hörte, sagte hinterher zu mir: „Wissen Sie, Sie haben da über Stalin und seine Zeit gesprochen, aber es gab doch auch Positives. Es wurden sehr viele 'Diebe im Gesetz' erschossen [bestimmte, streng hierarchisch organisierte Gruppe von Kriminellen, die in der Haft einem bestimmten Verhaltenskodex folgen, z. B. prinzipiell nicht mit den Behörden kooperieren und nicht arbeiten, A. d. Ü.].“ Wie soll man sich mit so einem Menschen auseinandersetzen? Wo nimmt er das her? Wo hat er so was gelesen? Und selbst wenn, rechtfertigt das die massenhaften Verbrechen, den sowjetischen Genozid? Was soll daran überhaupt positiv sein? Was heute berührt, ist, dass Menschen nicht glauben können, dass es tatsächliche Pläne für Erschießungen und Lager gab. Was bedeutet das, Plan? Ja, sage ich, einen Plan, Zahlen, und der musste erfüllt werden, so wie in der gesamten Wirtschaft, im gesamten sowjetischen Leben, man erfüllte und übererfüllte einen Plan. Und dann berührt noch eine sehr naive Vorstellung, die so lautet: „Also ich kann ja noch verstehen, irgendeinen Direktor oder Parteiführer, aber so einen einfachen Arbeiter oder Hausmeister, wofür hat man denn den verhaftet?

 

Maksim Ljalin:

Ich war bereits mehrfach mit dieser Sicht der Dinge konfrontiert und begegne ihr mit Verständnis. In der Regel stellt sich heraus, dass Menschen, die darüber so urteilen, keine ähnliche Lebenserfahrung haben und dabei die eigene Meinung durch keinerlei Argumente bestätigen. Bestenfalls verweisen sie als Argument auf allgemein bekannte Informationen. Zum Beispiel der Weißmeer-Ostsee-Kanal. Das ist ohne Zweifel ein wichtiges ökonomisches und strategisches Bauprojekt. Aber unter welchem Einsatz und mit welchen Mitteln? Solche Details werden verschwiegen und wenn nicht, dann werden die Opfer der Repressionen mit der universalen Phrase gerechtfertigt: „Die Zeiten waren eben so.“ Dies tun manchmal sogar die Nachkommen der Opfer. Im grauen Alltag ist es den Menschen anscheinend eigen, an Mythen zu glauben. Aber die Wahrheit ist immer hart, dornig und unbequem.

 

Irina Flige:

Wenn man kurz etwas zum heutigen Zustand des historischen Gedächtnisses in Russland sagen will, dann, dass es nicht existiert. Aus einem einfachen Grund. Wir können das Vergangene nicht von dem Gegenwärtigen trennen. Es gibt auf der Zeitskala nicht den einen Punkt, an dem wir aufteilen können: Das war gestern und das ist heute. Verbrechen werden nicht Verbrechen genannt, Namen von Verantwortlichen werden nicht veröffentlicht, eine juristische Bewertung unterbleibt. Es gibt in unserer Geschichte nicht diesen Augenblick, an dem man über Terror und GULag in der Vergangenheitsform sprechen könnte. Gleichzeitig sind jedoch Jahrzehnte vergangen und deshalb können wir über den GULag nicht in der Gegenwartsform reden. Es bleibt das Prinzip der Vererbung: Das Erbe des GULag und des Terrors wird angenommen, aber gleichzeitig nur in Teilen. Das Erbe der Akteure des Terrors ist von den heutigen Machthabern und den heutigen repressiven Organen (FSB, MVD, Gerichte und Staatsanwaltschaft) vollständig angenommen worden und es besteht in dem Recht des Staates auf Mord. Der größte Teil der russischen Bevölkerung aber hat als Erbe einen Opferkomplex angenommen. Und der Opferkomplex ist eine schreckliche Sache, eine furchtbare Angst, eine demonstrative Loyalität. Das ist ein Einverständnis mit den Wertehaltungen der Herrschenden darüber, dass ihr Recht über dem Recht der Bürger steht und dass sie mit jedem beliebigen Menschen machen können und machen, was sie wollen. Optimistisch heute macht, dass die dritte Komponente des sowjetischen Erbes – die Erfahrung des Widerstandes gegen ein verbrecherisches Regime - akzeptiert ist und ihr die Zukunft gehört.

 

Zurück zu Sandarmoch, wie wünschen Sie sich perspektivisch die Existenz dieses Ortes und Erinnerung an ihn?

 

Irina Flige:

Orte der Erinnerung entwickeln, transformieren und verändern sich nach ihren eigenen, inneren Gesetzen. Das in ihre Bedeutung Gelegte wird verglichen, ergänzt, gerät in Konflikte, entfaltet neue Bedeutungen, neue Einsichten. Gedenkorte sind ein lebendiger Organismus, auf ihnen wachsen Denkmäler und Epitaphe. Ich verhalte mich zu dem Leben eines Gedenkortes wie zu einem natürlichen Prozess, wie zu einer Landschaft, die viel gedankliche Verarbeitung und Einsichten in sich aufnimmt. Sandarmoch war ein idealer Ort der Erinnerung, ein Ort des Dialogs und das bleibt er bis heute. In Sandarmoch gibt es alle Elemente und Zeichen der Erinnerung an den Terror, sowohl diejenigen, die von einer einsamen alten Frau vorbeigebracht wurden, die ein Zeichen für ihren Vater gesetzt hat, als auch die, die gewachsen sind aus der Suche nach nationalen Identitäten und die, die bei den alljährlichen Zeremonien niedergelegt werden. Ich mag das Wort „Modell“ nicht besonders, aber gerade Sandarmoch erweist sich heute als Modell des Gedenkens: Gedenken an die Opfer und Gedenken an die Verbrechen, ist aber ebenso ein Ort des Kampfes gegen Verfälschungen, ein Ort der Solidarität und der Unterstützung für politische Gefangene heute. Und - aus meiner Sicht - noch äußerst wichtig ist, dass in Sandarmoch jährlich am 5. August ein Internationaler Gedenktag durchgeführt wird, an dem Delegationen aus verschiedenen Ländern und Vertreter diplomatischer Gesandtschaften teilnehmen. Warum ist das wichtig? Nicht nur, weil hier in den Massengräbern Menschen verschiedener Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse liegen, sondern auch, weil die Erinnerung an den sowjetischen Terror keine alleinige Angelegenheit Russlands ist.

 

Waren Ihre Angehörigen von den Repressionen betroffen?

 

Anatolij Razumov:

Das waren sie, aber derart schwach im Vergleich zu einigen anderen Familien, dass es mir nicht besonders angenehm ist, davon zu erzählen. Ich bin Weißrusse, beide Familien waren Bauern, belesen, aber recht arm und einfach. Die mütterliche Seite gehörte zu den ganz Armen, niemand rührte sie an. Vaters Familie großmütterlicherseits war einigermaßen wohlhabend, aber sehr klug. Sofort nachdem sie verstanden hatten, worauf der Umbruch für die Bauern hinauslaufen würde, Kollektivierung und Entkulakisierung, teilten sie ihren Betrieb, gingen auseinander und verheirateten meine Großmutter Fedora Ustinova an den ärmsten der Razumovs, den es dort nur gab, an Nikolaj. Sie rührte ebenfalls niemand an. Bis auf einen Vorfall. In den Überlieferungen der Familie klingt der so: Der Bruder der Großmutter trat im Alter von 18, 19 Jahren aus einem Dorfladen und lachte: „Was soll das denn für ein Laden sein, wenn es keine Waren gibt? Was ist das denn für eine Regierung, die solche Räume Geschäfte nennt?“ Und sie nahmen ihn mit. Ganz gleich wie oft sie [die Angehörigen] dorthin fuhren und bettelten, dass er doch jung sei, dumm, es so nicht gesagt habe, er wurde verurteilt. Sein Schicksal bis zum Schluss kenne ich noch nicht, habe es noch nicht erforscht. Ich weiß, dass er durch die ersten Lager ging, sich nach dem Krieg entschloss, in sein Heimatdorf zu fahren, einen der Verwandten umarmte und nicht wieder auftauchte.

Ich weiß noch von mehr Fällen grausamer Trennungen und Veränderungen des kompletten Lebens meiner Angehörigen wegen der Lager. Aber mein Interesse am Thema abgerissener Schicksale entstand durch die Namen der während des Kriegs Umgekommenen und Verschollenen und ging später auf natürliche Weise auf die Repressionen über: Warum wissen wir nichts über diese Leute? So kann man nicht leben, es darf nicht sein, dass Menschen so sterben. Menschen müssen lange leben und nach Möglichkeit gesund.

 

Maksim Ljalin:

Mein Urgroßvater väterlicherseits, Ivan Vasilevitsch Ljalin, wurde 1937 verhaftet und im ehemaligen Gouvernement Orlov erschossen. Leider sind mir bis heute die Details dazu nicht bekannt und ich konnte sein Schicksal für mich nicht bis zum Ende aufklären. Übrigens haben mein Großvater und meine Großmutter noch Ende der 60er Jahre an unserer Familiengrabstätte in Brjansk ihm und dem älteren Sohn Ivan Ivanovitsch ein Kenotaph [Grabmal zur Erinnerung] errichtet. Was meine Frau betrifft, so hatte sie ebenfalls Familienangehörige, die 1931 im Gouvernement Wologda Repressionen ausgesetzt waren: Durch eine Versammlung des Dorfsowjets wurden sie enteignet (entkulakisiert) und deportiert, durchaus möglich, dass sie nach Karelien kamen wie die Zwangsarbeiter des BelBaltLager, wo sie auch umkamen. Es liegen nur minimale Informationen über sie vor. Es gab Leute, die dennoch aus der Gefangenschaft zurückkehrten, aber in unserem Fall ist leider niemand zurückgekommen.

 Maksim Ljalin

 

Was ist für Sie in Ihrer Tätigkeit wichtiger, die namentliche Erwähnung der Gestorbenen, die Antwort auf die Frage nach der Schuld, die Arbeit mit dem kollektiven Gedächtnis?

 

Maksim Ljalin:

Das ist eine wunderbare Frage. Alle Ihre Varianten sind im Großen und Ganzen genau der Grund, warum ich das tue. Auf der einen Seite stellt der Staat die Erinnerung an die Opfer der Repressionen bis zu einer kollektiven Ebene, aber nicht bis zu einer persönlichen wieder her. Auf der anderen Seite entfernt er sich ungeschickt von eben dieser Erinnerung zugunsten einer patriotischen Tagesordnung. Ja, irgendwie sagt man uns manchmal mit zusammengebissenen Zähnen: „Das alles hat es gegeben, wir geben es zu. Aber der Zugang zu den Archiven ist eingeschränkt, Sie werden keine Namen von Leuten in Zusammenhang mit ihren Grabstätten bekommen und überhaupt den größten Teil der Standorte dieser Plätze nicht erfahren.“ Das Ziel unseres freiwilligen Gedenkprojektes ist nicht nur das Anbringen von Gedenktafeln für einen erschossenen Menschen an einem Pfosten, sondern über ihn zu erzählen, und das heißt diesen kleinen Teil der persönlichen Erinnerung wiederaufzunehmen, zu bewahren und zu digitalisieren. Wir geben dem verstorbenen Menschen mit der Stimme des Helfers die Möglichkeit, von sich und seinem Schicksal zu erzählen. Wir sammeln Informationen über die Biographie des Menschen, stellen sie wieder her, suchen sein Bild.

 

Anatolij Razumov:

Die Frage, wer schuld ist, und nach der Verantwortung entsteht ganz natürlich. Der Mensch ist verpflichtet, sie sich selbst und auch den anderen zu stellen. Wer Schuld hat und ob jemand in sich irgendeine Schuld fühlt – das sind persönliche Fragen, zu denen ein Mensch selbst gelangen muss. Das gibt es nicht, dass Sie jemandem etwas erklären, dieser Mensch auf der Stelle seine Vorstellungen ändert und ab sofort anders denkt. Dahin führt das Leben schrittweise. Mich beschäftigt die Frage, wie es in unserem Land passieren kann, dass man nichts über die Millionen von Toten weiß und keine Grabstätten für sie hat. Wir geben ihnen die Namen zurück, danach taucht die Frage nach ihrer Grabstätte auf und wir versuchen, darauf zu antworten. Eine ganze Reihe von Dokumenten zu den Bestattungen der Terroropfer, ob der Roten Leninschen oder des Großen Stalinschen, wurden ohne Zweifel nicht veröffentlicht. Für welche Generationen heben wir sie auf? Das ist doch eine Frage der nationalen Ehre. Es ist nicht nötig, Denkmäler für die Opfer der Repressionen im ganzen Land aufzustellen, es gibt genug Denkmäler, bei uns im Gebiet Novgorod steht in jeder Stadt ein Denkmal für die Opfer der Repressionen. Aber wo sind ihre Gräber? Nicht eine Grabstätte wurde aufgedeckt. Alle Massengrabstätten müssen offengelegt werden, dann kann man Denkmäler aufstellen. Das ist das Erste. Und die zweite, nicht weniger wichtige Sache: Die Archive dürfen sich nicht nur darauf konzentrieren, irgendwelche Dokumente auszugeben, sondern darauf, auf konkrete Fragen zu antworten: wo, an welcher Stelle, in welcher Stadt, Siedlung, in welchem Dorf, in welchem Lager, was ist mit dem Menschen passiert und aus welchem Grund? Man muss den Angehörigen der Toten und Betroffenen und den Forschern darüber genaue und vollständige Informationen herausgeben. Das Schicksal des konkreten Menschen. Darüber hinaus müssen alle persönlichen Dokumente, die mit dem Schicksal und der Geschichte der Toten, Verschollenen und von Kriegen sowie staatlichem Terror auf unserem Territorium Betroffenen durch eine Stiftung der Nationalen Erinnerung bekannt gemacht werden. Und nicht der Vernichtung, sondern der ewigen Bewahrung unterliegen. Dann wird es vor uns einen Weg geben.

 

Wie definieren Sie das für sich, womit Sie sich beschäftigen? Ist Ihre Arbeit historisch, archäologisch, zivilgesellschaftlich? Und warum ist bei uns heutzutage die Praxis des Gedenkens an zivilgesellschaftliche Handlungen gekoppelt?

 

Maksim Ljalin:

Das Freiwilligen-Projekt „Sandarmoch. Rückgabe der Namen“ ist keine meiner Hauptbeschäftigungen. Ich arbeite in einer Firma, die mit nicht-alkoholischen Getränken zu tun hat, und meine berufliche Beschäftigung hängt weder mit Geschichte noch mit Sandarmoch zusammen. Für mich ist die Organisation des Freiwilligen-Projekts vor allem verbunden mit meiner zivilgesellschaftlichen Position bezüglich der Bewahrung der persönlichen Erinnerung an die Erschossenen in diesem Gebiet. Und es ist natürlich auch ein bürgerlicher Protest gegen den Versuch der Karelischen Abteilung der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft in Sandarmoch um jeden Preis erschossene Rotarmisten zu finden. Sie versucht das gesellschaftliche Gedächtnis in Sandarmoch umzukodieren, und das zeigt leider seine Resultate. Das Nichtvorhandensein oder besser gesagt, die Ablösung der Kultur der Weitergabe von Erinnerung in den Generationen entstand genau im Verlauf der Stalinschen Periode der Entwicklung des Landes und verstärkte sich in der spätsowjetischen Zeit.

Jetzt beschäftigen sich staatlicher Patriotismus und Propaganda wieder mit der Unterschiebung einer Erinnerung, aber bereits bei der jungen Generation. Der erneute Sowjetreich-Erinnerungscode kultiviert im Bewusstsein der Menschen ein gewisses positives Muster Russlands, wo die einzige Form der Regierung die Führerschaft ist, das wichtigste Ereignis der Krieg und das Symbol der technischen Errungenschaft, die AK-47 [Bezeichnung für Kalaschnikow] und die Atomwaffe, drumherum aber sich Feinde und ausländische Agenten verstecken. In Sandarmoch wurden die Opfer der politischen Repressionen erschossen und dank Jurij Dmitriev kennen wir die meisten namentlich. Das ist ein Ort, an dem menschliche Schicksale in den Moloch von Großmachtambitionen, von Führerschaft, staatlicher Propaganda und patriotischem Militarismus geraten sind. Genau deshalb denke ich, dass die gegenwärtige Erinnerungspraxis mit zivilgesellschaftlichem Handeln verbunden sein muss. Das ist noch eine weitere Form der Kommunikation mit dem Staat. Nicht von einem Platz oder einer Straße der Stadt aus, sondern von dem konkreten Platz der Vernichtung Andersdenkender, wo der direkte Beweis des Verbrechens der Staatsmaschinerie gegen die bürgerliche Gesellschaft der Name, das Bild und die Erschießungsgrube ist.

 

Anatolij Razumov

Solche Fragen nenne ich altgriechisch. Wissen Sie, damit ich mich mit dem Ganzen mehr als dreißig Jahre beschäftigen kann, habe ich mir allmählich stark vereinfachte Formeln ausgedacht. Zum Beispiel: Leben kann man leicht, nachdenken schwer. Stoß die Wand vor dir nicht mit der Stirn ein, zeichne ein Labyrinth, gehe an der Wand entlang. Meistens, wenn du darüber nachdenkst, es für eine kurze Zeit aufschiebst, ist die Wand auf einmal hinter dir und du bewegst dich weiter. Und was das angeht, womit ich mich beschäftige... . Ich denke: Arbeit, Arbeit, Arbeit – und Sie sagen es auch: Arbeit. Aber für mich ist es etwas anderes. Das ist meine Sache, und ich mache sie, solange Kräfte und Möglichkeiten da sind, für diejenigen, die sie brauchen. Ich habe eine glückliche Umgebung. Ich treffe sehr selten auf direktes Unverständnis und Widerspruch, und Grobheiten am Telefon oder Drohungen gab es in all den Jahren nur überschaubare. Und ich beschäftige mich damit ohne besondere Gedanken darüber, dass ich mich damit beschäftige. Die Sache ist für mich ein unveräußerlicher Teil der Existenz, unseres Lebens, unserer Geschichte, in der ich lebe. Dank dieser Arbeit hatte ich das Glück mit solchen Leuten sprechen zu können, von denen ich nie gedacht hätte, sie einmal kennenzulernen. Das ist Glück.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

15.11.2019 / Januar 2020

 

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