Zum aktuellen Stand der Dinge

Nach den Demonstrationen in Moskau am 27. Juli 2019 leitete das Ermittlungskomitee ein Verfahren wegen Massenunruhen (§ 212 StGB RF) ein. Diese konnten nicht bewiesen werden, dennoch wurden seither über 31 Personen – Demonstrationsteilnehmer, zufällige Passanten und Blogger - angeklagt. Vorgeworfen wird ihnen Widerstand gegen die Staatsgewalt, Extremismus, Bedrohung von Richtern sowie mehrfacher Verstoß gegen das Versammlungsrecht. 19 Personen wurden bereits verurteilt, 11 davon zu Freiheitsstrafen, die übrigen zu Geld- und Bewährungsstrafen, gegen neun Angeklagte wurden die Verfahren eingestellt. Ende Januar nun wies Präsident Putin die Generalstaatsanwaltschaft an, das Urteil gegen Konstantin Kotov, der im September 2019 wegen mehrfachen Verstoßes gegen das Versammlungsrecht zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt worden war, auf Gesetzmäßigkeit und Stichhaltigkeit des Schuldspruchs zu überprüfen. Als Reaktion forderte die Generalstaatsanwaltschaft das Gericht nun auf, das Urteil gegen Konstantin Kotov auf ein Jahr abzusenken. Wir berichten, wie es um ihn und die übrigen Angeklagten, Verhafteten und Verurteilten der Moskauer Prozesse derzeit steht.

 

Konstantin Kotov, 34 Jahre, Programmierer. Zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt. Urteil muss überprüft werden.

Konstantin Kotov war die zweite Person, die wegen mehrfacher Verletzung des Versammlungsrechts gemäß § 212.1 StGB RF verurteilt wurde. Kotov hatte sich in der Vergangenheit unter anderem an Protesten zur Unterstützung Oleg Senzovs sowie anderer politischer Gefangener beteiligt. Er ist mit Anna Pavlikova verheiratet, die im Verfahren „Novoe Velitschie“ [Neue Größe] unter Anklage steht. Das Verfahren gegen ihn hatte man eingeleitet wegen der Teilnahme an vier friedlichen Protestaktionen sowie eines facebook-Posts, in dem er zur Teilnahme an einer Demonstration zur Unterstützung unabhängiger Kandidaten für die Duma-Wahlen aufgerufen hatte. Der Schuldspruch gegen Kotov wird derzeit überprüft: Kotovs Anwälte konnten in ihrer Klage gegen das Urteil nachweisen, dass der Paragraph, nach dem ihr Klient verurteilt worden war, einen Freiheitsentzug nur dann vorsieht, sofern von dem Angeklagten eine Gefahr für die Gesundheit von Demonstrationsteilnehmern ausging oder er diesen Schaden zugefügt hat. Im Moment befindet sich Kotov in der Strafkolonie Nr. 2 in der Oblast Vladimir. Kotov hat wegen Verletzung seiner Rechte auf Unversehrtheit, auf ein gerechtes Gerichtsverfahren und Versammlungsfreiheit Klage beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht.

 

Vladislav Siniza, 30 Jahre, Manager. 5 Jahre Lagerhaftstrafe.

Eingeleitet wurde das Verfahren gegen Vladislav Siniza wegen eines Tweets, den er während einer Diskussion über die Notwendigkeit der De-Anonymisierung von Staatsangestellten geschrieben hatte und in dem er nach der Logik der Anklage zu Hass und Gewalt gegen Staatsvertreter und deren Familien aufgerufen haben soll. Siniza bestreitet nicht den Tweet, wohl aber die ihm unterstellte Absicht. Eine von der Verteidigung hinzugezogene Linguistin bestätigt die Inkompetenz der Ermittlungen: Die linguistische Expertise zu der Aussage Sinizas, die zu seiner Verurteilung führte, kam von einem Mathematiker. Dennoch wurde er für schuldig befunden, Hass gegen Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane geschürt und diesen mit Gewaltanwendung gedroht zu haben (§ 282.2a StGB RF). Zurzeit befindet er sich im Straflager Nr. 2 in der Oblast Kostroma. Nach Informationen seines Anwaltes gibt es keinerlei Klagen über die Behandlung seines Klienten, die Verwaltung nehme bei der Auswahl der Mitinsassen Rücksicht auf den hohen Bildungsgrad Sinizas, Probleme mit Besuchen gäbe es ebenfalls nicht, im Moment warte Siniza auf die Genehmigung, Zeitschriften abonnieren zu dürfen. Sein Anwalt betont ebenfalls, dass Siniza allen, die ihn unterstützen, sehr dankbar sei. Die Berufung gegen das Urteil wurde vom Berufungsgericht am 29. Januar zurückgewiesen, das Urteil bleibt in Kraft. Siniza hat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage gegen eingereicht.

 

Evgenij Kovalenko, 49 Jahre, arbeitete bei der Amtlichen Sicherheitsbehörde der Eisenbahn. Dreieinhalb Jahre Lagerhaftstrafe.

Evgenij Kovalenko wurde während der Demonstrationen vom 27. Juli 2019 verhaftet und gemäß § 318.1 StGB RF (Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter) verurteilt. Eine Berufung gegen das Urteil wurde abgelehnt. Kovalenko lebte vor seiner Verhaftung mit seiner pflegebedürftigen Mutter zusammen, die alleine das Haus nicht verlassen kann, und ist Träger eines staatlichen Blutspende-Ehrenabzeichens. Kovalenko hatte während der Demonstration vom 27. Juli einen Mülleimer in Richtung der Nationalgardisten geworfen, wobei aber niemand verletzt wurde. Kovalenko gibt zu, den Mülleimer geworfen zu haben, bestreitet allerdings, dass er damit absichtlich jemandem Schaden habe zufügen wollen. Kovalenko befindet sich im Lager Nr. 6 in der Oblast Brjansk. Er klagt über Kälte im Gefängnistrakt, er müsse in Thermo-Unterwäsche, Pullover und Mütze schlafen. Von Montag bis einschließlich Samstag arbeitet er täglich 12 Stunden in einer holzverarbeitenden Werkstatt. Im Lager brachte man Kovalenko zu einem Psychologen, der versuchte, ihn zu einem Schuldeingeständnis zu überreden, da dies angeblich seine Chancen auf eine Bewährungshaft erhöhe. Kovalenkos Anwalt bestreitet allerdings einen juristischen Zusammenhang zwischen Schuldeingeständnis und Bewährungsstrafe, Evgenij weigert sich ein Geständnis abzulegen und hofft nun auf eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

 

Eduard Malyschevskij, 47 Jahre, Handwerker. Zwei Jahre und neun Monate Lagerhaftstrafe.

Eduard Malyschevskij war unter den unmittelbar am Tag der Demonstration vom 27. Juli Verhafteten. Aus dem Fenster des Gefangenentransporters beobachtete er, wie Polizisten Demonstranten verprügelten und trat mit dem Fuß gegen die Fensterscheibe, weil er nach eigenen Angaben vor Gericht den Sicherheitskräften etwas zurufen wollte. Das dabei herausfallende Glas fiel auf den Schutzhelm eines Polizisten, der behauptet, Schmerzen verspürt zu haben. Das Urteil gegen Malyschevskij wurde am 9. Dezember gemäß § 318.1 StGB RF vor dem Bezirksgericht Tver gefällt. Nachdem die Verteidigung im Verfahren in Berufung gegangen war, wurde die Haftstrafe gegen Malyschevskij, der an einer chronischen Krankheit leidet, am 29. Januar von drei Jahren auf zwei Jahre und neun Monate herabgesenkt, er befindet sich derzeit in einem Gefängnis in der Oblast Kursk.

 

Kirill Shukov, 29 Jahre, diente in der Vergangenheit bei den Internen Truppen des Innenministeriums und arbeitete bei der Metro, zwei nicht abgeschlossene Universitätsstudiengänge. Drei Jahre Lagerhaftstrafe.

Shukov wurde wegen Gewaltanwendung gegen einen Staatsangestellten (§ 318.1 StGB RF) auf der Demonstration am 27. Juli angeklagt und Anfang September 2019 zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt: Bei der Demonstration hatte er eine Geste in Richtung des Visiers eines Nationalgardisten gemacht und dabei versucht, dieses anzuheben. Shukov selbst erkennt seine Schuld nicht an. Die Berufung gegen das Urteil wurde nur einen Monat später am 9. Oktober 2019 vom Moskauer Stadtgericht abgelehnt, das Strafmaß bestätigt. Derzeit befindet er sich im Lager Nr. 13 für ehemalige Staatsangestellte in der Oblast Sverdlovsk. Nach Angaben seines Anwalts beklagt sich Shukov nicht über die Haftbedingungen, allerdings müsse er täglich ohne einen freien Tag arbeiten. Shukov möchte gerne seine nicht abgeschlossene Ausbildung beenden oder einen neuen Beruf lernen, was in diesem Lager allerdings nicht möglich ist. Er bemüht sich um die Lösung dieses Problems. Die übrigen Inhaftierten nennen ihn „Navalnij“, sobald sie ihn sehen, begrüßen sie ihn auf diese Weise. Shukov hofft auf eine baldige Aussetzung seiner Strafe auf Bewährung und darauf, dass seine Mutter ihn bald besuchen kann.

 

Egor Lesnych, 35 Jahre, drei Jahre Lagerhaftstrafe.

Lesnych verdiente vor seiner Verhaftung sein Geld mit der Renovierung von Wohnungen, engagierte sich im Tierschutz und spendete regelmäßig Blut. Gemeinsam mit Aleksandr Mylnikov und Maksim Martinzov wurde er der Gewaltanwendung gegen einen Nationalgardisten (§ 318.1 StGB RF) am 27. Juli 2019 für schuldig befunden. Nach Angaben der Ermittler hatten die drei einen Mitarbeiter der Nationalgarden zu Boden geworfen und getreten. Alle drei erkennen ihre Schuld nicht an und erklärten, sie seien empört über das Vorgehen der Sicherheitskräfte gewesen, die auf dem Boden liegende Personen mit Schlagstöcken traktiert hätten. Egor Lesnych befindet sich derzeit noch im Untersuchungsgefängnis 5, die Berufung gegen seine Verurteilung wurde Ende Januar abgelehnt, obwohl sein Anwalt ein Video vorlegte, aus dem hervorgeht, dass Lesnych niemanden angegriffen hatte.

 

Maksim Martinzov, 26 Jahre, Laboringenieur in einer Baufirma. Zweieinhalb Jahre Lagerhaftstrafe.

Martinzov, der vor seiner Verhaftung seine Großeltern finanziell unterstützte, wurde am 6. Dezember 2019 zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft wegen Gewaltanwendung gegen einen Nationalgardisten (§ 318.1 StGB RF) bei den Demonstrationen am 27. Juli 2019 verurteilt. Während einer Anhörung vor Gericht im Dezember klagte Martinzov über einen schlechten Gesundheitszustand, es musste ein Rettungswagen gerufen werden. Ende Januar berichtete der Anwalt Martinzovs, sein Klient könne wegen der mangelhaften Behandlung einer Mittelohrentzündung im Untersuchungsgefängnis auf einer Seite nichts mehr hören, die Entzündung sei mittlerweile chronisch geworden. Die gegen das Urteil eingelegte Berufung wurde wie im Verfahren gegen Lesnych abgelehnt, das Urteil bleibt unverändert in Kraft.

 

Sergej Surovzev, 30 Jahre, IT-Spezialist. Zweieinhalb Jahre Lagerhaftstrafe.

Nach Angaben der Ermittler hat Surovzev bei der Demonstration am 27. Juli eine Metallabsperrung angehoben und damit einen Nationalgardisten geschlagen. Surovzev bestreitet den Vorwurf der Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter (§ 318.1 StGB RF), der auch in seinem Fall Grundlage der Verurteilung ist. Das Urteil gegen ihn ist noch nicht in Kraft, Surovzev erwartet sein Berufungsverfahren im Moskauer Untersuchungsgefängnis 5. Einen knapp anderthalbmonatigen Hungerstreik hat er inzwischen abgebrochen. Seine Mutter berichtet, dass es ihm gesundheitlich einigermaßen gehe. In seinen Mitteilungen per Telefon schreibe er: „Ich halte durch, bei mir ist alles noch normal.“ Memorial hat Sergej Surovzev inzwischen als politischen Gefangenen anerkannt.

 

Daniel Beglez, 27 Jahren Unternehmer. Zwei Jahre Lagerhaftstrafe.

Der Vater von zwei kleinen Kindern, der in der Vergangenheit keinerlei Bezug zur Politik hatte, zog laut Anklage während der Demonstration vom 27. Juli einen Polizisten am Arm, worauf man ihn wegen Gewaltanwendung gegen einen Staatsvertreter (§ 318.1. StGB RF) anklagte und in das Lager Nr. 2 in die Oblast Kostroma überführte. Beglez selber sagte aus, er habe an der Demonstration überhaupt nicht teilnehmen wollen. Auf dem Weg zu einem Treffen mit einem Geschäftspartner habe er gesehen, wie die Sicherheitskräfte Menschen schlugen. Das habe er nicht mitansehen können und daher den Polizisten am Arm gefasst, um diesen zu hindern, auf einen jungen Mann einzuschlagen. Auf Anraten seiner Anwälte legte Beglez ein Geständnis ab und stellte einen Antrag auf ein gesondertes Verfahren ohne weitere Prüfung von Beweisen. Seine Frau, die mit den zwei kleinen Kindern zurückblieb, berichtet, dass sie keine Möglichkeit habe, ihren Mann zu besuchen, und nur schriftlich mit ihm kommunizieren könne. Im Lager habe er Kontakt mit Vladislav Siniza, Konflikte gäbe es nicht, alles sei normal. Er gehöre nicht zu denen, die sich beklagten. Er sage, alles sei gut, er halte alles aus, wenn nur alles normal bliebe.

 

Ivan Podkopaev, 26 Jahre, Techniker. Zwei Jahre Lagerhaftstrafe.

Nach Angaben der Ermittler sprühte Podkopaev, der sein Gesicht hinter einer Sturmmaske verbarg, bei der Demonstration am 27. Juli den Inhalt einer Gasflasche in Richtung der Sicherheitskräfte, wovon zwei Nationalgardisten Verätzungen in den Augen davontrugen. Podkopaev hatte den Vorwurf der Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter (§ 318.1 StGB RF) zunächst zugegeben, nach dem Wechsel seines Anwaltes jedoch sein Geständnis widerrufen. In einem Berufungsverfahren wurde das Urteil gegen ihn von drei auf zwei Jahre Lagerhaft verringert. Podkopaev befindet sich im Lager Nr. 5 in der Oblast Kaluga. Nach den Aussagen seiner Mutter hat sie derzeit keinerlei Informationen über ihren Sohn, sie plant ihn im Februar zu besuchen.

 

Nikita Tschirzov, 22 Jahre, Unternehmer. Ein Jahr Lagerhaftstrafe.

Gemäß der Version der Anklage schupste Tschirzov während der Aktion am 27. Juli einen Sicherheitsmitarbeiter und wurde aufgrund dessen wegen Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter zu einem Jahr Lagerhaft (§ 318.1. StGB RF) verurteilt. Der junge Mann selbst erkennt den Schuldspruch nicht an und besteht darauf, er habe den Polizisten aus Versehen angerempelt bei dem Versuch, aus der Menge zu entkommen. Tschirzov wurde, ohne dass man die Entscheidung seiner Berufung abwartete, in das Untersuchungsgefängnis Nr. 1 in Kursk überführt. Sein Anwalt berichtete Mediazona, die Behörden hätten dies mit der Überfüllung der Moskauer Untersuchungszellen begründet. Tschirzov selbst sagt, die Bedingungen in Kursker Untersuchungsgefängnis seien wesentlich schlechter und klagt über Kälte und schlechtes Essen. Wegen der Überführung nach Kursk zieht sich seine Berufung gegen das Urteil in die Länge.

 

Egor Shukov, 21 Jahre, Student. Dreieinhalb Jahre auf Bewährung.

Egor Shukov wurde aufgrund von vier Videos auf seinem youtube-Kanal „Shukovs Blog“ für schuldig befunden, im Internet zum Extremismus aufgerufen zu haben (§ 280.2 StGB) und zu dreieinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt. Zudem darf er seinen youtube-Kanal für zwei Jahre nicht mehr administrieren, seine Unterstützer führen diese Arbeit für ihn weiter. In seinen Videos spricht er über Aktionen von Navalnyj-Anhängern und gewaltfreie Protestaktionen. Mittlerweile hat Shukov sein Studium wiederaufgenommen, arbeitet zudem bei der unabhängigen Zeitung „Novaja Gazeta“ als Journalist und moderiert eine Sendung beim Radiosender „Echo Moskvy“, wo er mit Politikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens diskutiert. Die von Shukov und seinem Anwalt gegen das Urteil eingelegte Berufung wurde vom Gericht abgelehnt.

 

Vladimir Emeljanov, 28 Jahre. Zwei Jahr auf Bewährung.

Emeljanov arbeitete vor dem Urteil als Merchandiser. Verurteilt wurde er wegen Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter (§ 318.1. StGB RF). Gemäß den Ermittlungen hatte er bei der Demonstration am 27. Juli einem Nationalgardisten „körperlichen Schmerz zugefügt,“ als er diesen an der Uniformweste zog. Emeljanov erkennt seine Schuld nicht an und besteht darauf, dass er die Sicherheitsmitarbeiter lediglich davon habe abhalten wollen, auf einen Demonstrationsteilnehmer einzuschlagen. Das Gericht berücksichtigte bei seinem Urteil als mildernden Umstand die Tatsache, das Emeljanov, der Vollwaise ist, sowohl seine 74-jährige Großmutter als auch seine 92-jährige Urgroßmutter finanziell unterstützt. Seine Verteidigung hat gegen das Urteil keine Berufung eingelegt, da sie ein schärferes Urteil der Staatsanwaltschaft als Reaktion fürchtet. Emeljanov repariert seit dem Urteil Telefone und muss sich einmal monatlich beim Bezirksbevollmächtigten melden. Freitags fährt Emeljanov zu Einzelkundgebungen, um sich mit „politisch aktiven Bürgern auszutauschen.“

 

Pavel Ustinov, 24 Jahre, Schauspieler. Drei Jahre und fünf Monate Lagerhaft, im Berufungsverfahren auf ein Jahr Bewährungsstrafe herabsetzt.

Pavel Ustinov ging nach Abschluss seiner Ausbildung zum Schauspieler zur Armee, leistete seinen Wehrdienst in den Reihen der Russischen Nationalgarde ab und war als Nationalgardist mehrfach bei öffentlichen Veranstaltungen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit im Einsatz, so beispielsweise bei der Fußballweltmeisterschaft 2018. Nach der Version der Ermittler wehrte sich Pavel Ustinov bei der Teilnahme an der Aktion für die Zulassung unabhängiger Kandidaten zu den Duma-Wahlen am 3. August gegen seine Festnahme und verrenkte dabei einem Nationalgardisten die Schulter, wofür er wegen lebensgefährlicher Gewaltanwendung gegen einen Staatsvertreter verurteilt wurde (§ 318.2 StGB RF). Auf einer Videoaufzeichnung allerdings ist zu sehen, wie sich Nationalgardisten auf Ustinov stürzen und jener seinerseits zu Boden fällt. Ustinov selber sagte aus, er habe überhaupt nicht an den Demonstrationen des 27. Juli teilgenommen, sei bei seiner Verhaftung nur zufällig in der Nähe gewesen und habe dort auf einen Freund gewartet. Das von Ustinov angestrebte Berufungsverfahren endete positiv, das Urteil gegen ihn wurde auf ein Jahr zur Bewährung herabgesetzt. Nach seiner Freilassung beendete Ustinov die Aufnahmen zu einem seiner Filme und probt nun für das Vorsingen an Theatern. Zudem veröffentlichte er eine Serie von Posts zu Haftbedingungen und Ermittlungsmaßnahmen unter dem Titel „Moja tjurma“ [Mein Gefängnis].

 

Andrej Barschaj, 21 Jahre, Student am Moskauer Staatlichen Luftfahrtinstitut. 3 Jahre auf Bewährung.

Andrej Barschaj studiert am Moskauer Staatlichen Luftfahrinstitut und möchte Physiker werden. In seiner Freizeit engagiert er sich freiwillig an einer Schule, wo er unterrichtet. Nach der Version der Ermittler hat Barschaj bei der Demonstration am 27. Juli einen Polizisten der Sondereinheit OMON angerempelt, mit der Schulter in den Rücken gestoßen und ihm dabei Schmerzen zugefügt (§ 318.1 StGB RF). Barschaj bestreitet das. Besagter Polizist sagte bereits als Zeuge im Verfahren gegen Egor Lesnych, Aleksandr Mylnikov sowie Maksim Martinzov aus und schlug nach Angaben des Projekts „Delo 212“ den Demonstrationsteilnehmer Boris Kantorovitsch so fest, dass sein Schlagstock zerbrach. Kommilitonen des Moskauer Staatlichen Luftfahrtinstituts und anderer Universitäten setzten sich für Barschajs Freilassung ein und riefen einen Telegram-Kanal zu seiner Unterstützung ins Leben. Am 18. Februar wurde Andrej Barschaj zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.

 

Aleksandr Mylnikov, 32 Jahre, arbeitet als Kurier. Zwei Jahre auf Bewährung.

Aleksandr Mylnikov, der einzige Angeklagte, der sein Urteil unter Hausarrest stehend abwartete und nicht in Untersuchungshaft, wurde wegen Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter (§ 318.1. StGB RF) zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Mylnikov hat drei kleine Kinder. Seine Frau berichtet, es sei alles wie früher mit dem einzigen Unterschied, dass ihr Mann sich einmal im Monat bei den Behörden melden müsse. Im Gegensatz zu Lesnych und Martinzov hat Mylnikov gegen das Urteil keine Berufung eingelegt.

 

Pavel Novikov, 32 Jahre, verurteilt zu 120 000 Rubel Geldstrafe.

Pavel Novikov, der seine Schuld anerkannt hat, wurde wegen Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter (§ 318.1. StGB RF) zu 120 000 Rubel [ca. 1710 Euro] Geldstrafe verurteilt. Während der Protestaktionen am 27. Juli hatte er nach Angaben der Ermittler einen Polizeihundeführer mit einer Plastikflasche auf den Helm und auf die Hand geschlagen, als dieser versuchte, eine andere Person festzunehmen. Die Untersuchung seines Verfahrens dauerte nur etwas länger als einen Tag, vor Gericht wurde das Verfahren innerhalb von zwei Tagen geprüft. Vor seiner Verhaftung im Oktober 2019 arbeitete Novikov in Nebenjobs und wohnte noch bei seinen Eltern. Darüber, wie er derzeit lebt, ist nichts bekannt. Seine Familie möchte nicht mit Journalisten sprechen.

 

Samariddin Padshabov, 21 Jahre, Rapper, Vorarbeiter. Zu 100 000 Rubel Geldstrafe verurteilt, aus der Untersuchungshaft entlassen.

Nach Angaben der Ermittler hatte Radshabov am 27. Juli mit der Absicht psychischen Druck auszuüben, eine Plastikflasche auf die Sicherheitskräfte geworfen und auf diese Weise bei jenen ein Gefühl der Bedrohung hervorgerufen. Die Plastikflasche hatte allerdings ihr Ziel verfehlt und niemanden getroffen. Die Aussagen eines der Mitarbeiter der Sicherheitskräfte veränderte sich mit der Anzahl der veröffentlichten Videoaufzeichnungen: Anfangs erinnerte er sich, dass er einen Schlag am Hals verspürt habe, schließlich nur noch daran, dass ihn der Lärm der geworfenen Flasche erschreckt habe. Radshabov wurde wegen Androhung von Gewalt gegen drei Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden zu einer Geldstrafe von 100 000 Rubel (ca. 1420 Euro) verurteilt (§ 318.1 StGB RF). Die Zeit in Untersuchungshaft wurde mit der Geldstrafe verrechnet, Radshabov noch im Gerichtssaal ohne weitere Zahlungsverpflichtung freigelassen. Radshabov bedankte sich nach seiner Freilassung per Instagram bei allen Unterstützern und berichtet, dass in seinem eigentlichen Beruf kaum noch jemand bereit sei, mit ihm zusammenzuarbeiten, in der Musik jedoch alles besser laufe. Der bekannte russische Rapper Oxxxymiron und Radshabov haben zusammen ein Video aufgenommen.

 

Sergej Abanitschev, 25 Jahre, Manager, auf freiem Fuß.

Der 25-jährige Sergej Abanitschev wurde unter der Anklage der Teilnahme an den Massenunruhen am 27. Juli (§ 212.2 StGB RF) festgenommen. Der junge Mann hatte nach Ermittlungsangaben einen Plastikbecher auf einen Polizisten geworfen. Am 3. September wurde das Verfahren eingestellt mit dem Vermerk, dass in den Handlungen des Beklagten der Tatbestand eines Verbrechens nicht gegeben sei. Abanitschev wurde noch am selben Tag aus der Untersuchungshaft entlassen. Für die Aktion am 27. Juli erhielt er dennoch eine Anzeige, und zwar wegen Teilnahme an einer Demonstration, die ein Hindernis für Verkehr und Fußgänger darstellt (§ 20.2 Teil 6.1 Ordnungsstrafrecht RF) und eine Verwaltungshaftstrafe von 15 Tagen, auf die allerdings die Zeit in Untersuchungshaft angerechnet wurde. Abanitschev hat einen Antrag auf Kompensation in Form von 500 000 Rubel für eine ungesetzliche Verfolgung gestellt.

 

Vladislav Barabanov, 22 Jahre, libertärer Aktivist, auf freiem Fuß.

Vladislav Barabanov wurde am 3. August festgenommen und wegen Teilnahme an Massenunruhen gemäß § 212.2 angeklagt, er erkannte seine Schuld nicht an. Einen Monat später, am 3. September, verkündete das Untersuchungskomitee die Einstellung des Verfahrens, Barabanov konnte das Gefängnis noch am selben Tag verlassen. Nach der Freilassung setzte Barabanov seine zivilgesellschaftliche Tätigkeit fort, unterhält einen telegram-Kanal, unterstützt politische Gefangene der Moskauer Prozesse sowie im Verfahren „Novoe Velitschie“. Baravanov arbeitet in dem Projekt „Arestanty delo 212“ mit [Gefangene des Verfahrens 212].

 

Daniil Konon, 22 Jahre, Student und Journalist, auf freiem Fuß.

Daniil Konon, Student an der Staatlichen Technischen Universität Moskau (MSTU) wurde ebenfalls am 3. August festgenommen und wegen der Teilnahme an Massenunruhen nach § 212.2 StGB RF angeklagt. Wie im Fall Barabanovs wurde die Klage jedoch fallengelassen, Konon konnte am 3. September das Untersuchungsgefängnis verlassen, erhielt aber wegen der Teilnahme an einer Demonstration eine Verwaltungshaftstrafe von 15 Tagen. Da die Untersuchungshaft auf die Strafe angerechnet wurde, wurde auch Konon unmittelbar freigelassen. Konon, der für die ungesetzliche Verfolgung eine Kompensation von 1,2 Millionen Rubel fordert, unterstützt weitere Angeklagte der Moskauer Prozesse und nimmt an den regelmäßigen freitäglichen Einzelkundgebungen an Moskauer Metrostationen teil. Für die „Novaja Gazeta“ berichtet er als Gerichtsjournalist, seine erste Reportage schrieb er über das Verfahren gegen Samariddin Padshabov.

 

Valerij Kostenok, 21 Jahre, in der Partei Jabloko aktiv, auf freiem Fuß.

Der Student und Aktivist Valerij Kostenok war vor seiner Verhaftung Volontär bei Kirill Gontscharov, der Mitglied der Partei Jabloko ist und bei den Moskauer Duma-Wahlen im September 2019 kandidierte. Kostenok war am 11. August wegen Teilnahme an Massenunruhen (§ 212.2 StGB RF) verhaftet worden. Am 3. September 2019 wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt und Kostenok auf freien Fuß gesetzt. Nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft verkündete Kostenok, dass er sein politisches Engagement fortsetzen werde.

 

Aleksej Minjajlo, 34 Jahre, Aktivist, auf freiem Fuß.

Aleksej Minjajlo ist politischer Aktivist und arbeitete als Freiwilliger im Wahlkampfstab von Ljubov Sobol, die ebenfalls für die Moskauer Duma im September 2019 hatte kandidieren wollen, allerdings nicht zugelassen worden war. Minjajlo war unter dem Vorwurf der Teilnahme an Massenunruhen (§ 212.2. StGB RF) festgenommen worden, obwohl er an den Aktionen des 27. Juli gar nicht teilgenommen hatte. Das Verfahren gegen ihn wurde am 26. September eingestellt, Minjajlo aus der Haft entlassen. Ende November reichte er bei Gericht eine Klage wegen ungesetzlicher Verfolgung ein, in der er 1,5 Millionen Rubel Kompensation fordert. Minjajlo ist einer der bekanntesten Aktivisten der Kampagnen zur Unterstützung der Angeklagten der Moskauer Prozesse und Mitglied des Projekts „Arestanty dela 212“ [Gefangene des Verfahrens 212]. Auf Bitten Minjajlos schrieb Rapper Oxxxymiron drei Tracks über die Angeklagten, weiterhin überredete er den Rapper Face, dem Angeklagten Egor Lesnych im Untersuchungsgefängnis ein Paket zu übergeben. Der unabhängige Fernsehsender „Dozhd“ übertrug eine Neujahrsansprache Minjajlos.

 

Sergej Fomin, 36 Jahre, Aktivist und Unternehmer, auf freiem Fuß.

Sergej Fomin, Freiwilliger im Wahlkampfstab von Ljubov Sobol, stellte sich am Morgen des 8. August freiwillig den Behörden, woraufhin er verhaftet wurde. Die Anklage warf ihm vor, an den Massenunruhen des 27. Juli teilgenommen und diese koordiniert zu haben. Am 3. September wurde er unter Hausarrest gestellt und Anfang Dezember ließ man die Klage gegen ihn fallen. Nach seiner Freilassung äußerte sich Fomin in einem Interview mit OVD-Info: „Ich dachte, in unserem Land nimmt man eben Bestechungsgelder, aber ich hätte nie gedacht, dass es bei uns kein Gericht gibt. In diesen vier Monaten konnte ich mich davon überzeugen und das war ein Schock für mich. Mein ganzes bisheriges Wertesystem ist zerbrochen.“ Fomin hat einen Video-Appell zur Unterstützung der mittlerweile zu langen Haftstrafen Verurteilten im Verfahren „Set“ verfasst. In dem Video erinnert er daran, wie im Herbst 2019 bekannte Schauspieler und andere bekannte Persönlichkeiten sich öffentlich für die Angeklagten der „Moskauer Prozesse“ eingesetzt hatten: „Wahrscheinlich hauptsächlich deswegen bin ich jetzt nicht im Gefängnis. Ich hoffe, dass einer von den Schauspielern … , die sich für mich eingesetzt haben, einen Appell zur Unterstützung der jungen Leute im Verfahren 'Set' veröffentlicht.“

 

Dmitrij Vasiliev, 43 Jahre, arbeitslos, auf freiem Fuß.

Vasiliev, der vor seiner Festnahme als Regisseur beim Fernsehsender „Doktor“ arbeitete, wurde am 9. August wegen des Verdachts der Teilnahme an Massenunruhen (§ 212.2 StGB RF) festgenommen, die ganze Nacht verhört und danach in einer Untersuchungszelle isoliert, wobei man ihm sein Insulin wegnahm, das er wegen seiner Diabetes-Erkrankung bei sich hatte. Am nächsten Tag musste Vasiliev wegen eines erhöhten Zuckerspiegels auf die Intensivstation gebracht werden. Während der Angeklagte sich im Krankenhaus befand, reichten die Ermittler einen Antrag auf Verhaftung bei Gericht ein, den dieses zurückwies, eine Woche später wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. Vasiliev bezeichnet sein Verfahren, als „das am wenigsten schwerwiegende“ von allen der Moskauer Prozesse. Seine Arbeit hat er inzwischen verloren, sein Fernsehsender, der sich während seiner Haft noch für ihn eingesetzt hatte, entließ ihn wegen eines Posts bei facebook, in dem er sich direkt nach seiner Freilassung kritisch über „die Kreml-Genossen“ äußerte. Eine neue Arbeit sucht er seit Monaten bislang vergeblich.

 

Ajdar Gubajdullin, 26 Jahre, IT-Spezialist, zur Fahndung ausgeschrieben, hat Russland inzwischen verlassen.

Gubajdullin war zunächst wegen Teilnahme an Massenunruhen (§ 212.2 StGB RF) angeklagt, später wurde diese Anklage zwar fallengelassen, dafür aber von den Ermittlern ein Verfahren wegen versuchter Gewalt gegen einen Polizisten (§ 318.1 sowie § 30.3 StGB RF) angestrebt, da Gubajdullin am Tag der Demonstrationen vom 27. Juli eine Plastikflasche in Richtung der Sicherheitsmitarbeiter geworfen hatte, die allerdings ihr Ziel verfehlte. Gubajdullin wurde unter Hausarrest gestellt mit der Auflage, seinen Wohnort nicht zu verlassen. Kurz nachdem man Gubajdullin die Anklage der versuchten Gewalt gegen einen Polizisten präsentierte, verließ dieser Russland und wurde zur Fahndung ausgeschrieben. Inzwischen hält er sich in Vilnius in Litauen auf, wo er politisches Asyl beantragt und eine Arbeit als Programmierer gefunden hat. Gubajdullin hält eine Rückkehr nach Russland für möglich, sofern das Verfahren gegen ihn eingestellt wird oder ein in Abwesenheit gegen ihn gefälltes Urteil nicht mit einem Freiheitsentzug verbunden ist. Bislang wird er auf den Fahndungslisten von Interpol nicht geführt.

 

Sergej Medenkov, 28 Jahre, IT-Spezialist, hat Russland verlassen.

Nach Angaben der Ermittler zog Medenkov gemeinsam mit Evgenij Kovalenko bei den Demonstrationen am 27. Juli einen OMON-Mitarbeiter an der kugelsicheren Weste und versuchte diesen zu Boden zu werfen (§ 318.1 StGB RF). Nachdem im Verfahren gegen Kovalenko ein Video gezeigt wurde, auf dem Medenko zu sehen war, entschloss er sich das Land zu verlassen, wurde am 21. November in „Abwesenheit verhaftet“ und sowohl in Russland als auch international zur Fahndung ausgeschrieben. Ende Dezember veröffentlichte Mediazona eine Stellungnahme von Medenkov, in der er erzählt, wie er am 27. Juli versuchte, einen der angreifenden OMON-Mitarbeiter wegzuziehen, um die Demonstranten zu schützen. Medenko will nicht nach Russland zurückkehren: „Ich komme sofort in Untersuchungshaft und von der Untersuchungshaft ins Gefängnis. Wir werden uns doch nicht lächerlich machen und Überlegungen über Rechtsprechung in Russland und über Gerichte in Russland anstellen.“

 

Januar/Februar 2020

 

 

 

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