Geschichten von Menschen, die Russland wegen politischer Verfolgung verlassen haben

 

Viele Aktivisten haben Russland aufgrund staatlicher Verfolgung in den letzten Jahren verlassen. OVD-Info hat mit dreien von ihnen gesprochen: über ihren Umzug, über Schwierigkeiten bei der Integration und darüber, wie sich ihr Leben verändert hat. Wir bringen die Gespräche in Übersetzung.

 

Ajdar Gubajdulin

Angeklagter im Verfahren „Moskovskoe Delo“ [Moskauer Prozess]. Wurde im Zusammenhang mit der Aktion „Für ehrliche Wahlen“ am 27. Juli 2019 verhaftet. Angeklagt wegen Gewaltanwendung gegen einen Polizisten – wegen einer in Richtung der Sicherheitskraft geworfenen Plastikflasche. Verbrachte 40 Tage in Untersuchungshaft. Am 18. September 2019 mit der Auflage, die Stadt nicht zu verlassen, auf freien Fuß gesetzt. Das Verfahren wurde unterdessen nicht eingestellt.

 

Meine Erfahrungen mit der Teilnahme an Demonstrationen waren zuvor harmlos. Ich hatte die Situation immer unter Kontrolle, beobachtete die Annäherung der „Kosmonauten“ [die Sicherheitskräfte der OMON], wurde noch nie festgenommen. Am 27. Juli aber ließ ich mich von meinen Gefühlen hinreißen und warf eine Flasche. Denn dazustehen und zuzuschauen, wie Menschen geschlagen wurden, das ist nicht normal, und man musste doch wenigstens irgendetwas tun. Während ich saß, tauchte der Gedanke auf: Wenn ich wieder frei bin, dann gehe ich weg und kehre nicht zurück. Als ich dann freigelassen wurde (mit der Auflage, die Stadt nicht zu verlassen), rechneten meine Anwälte und ich damit, dass das Verfahren im Verlauf der nächsten Wochen eingestellt und alles gut werden würde.

Doch dann stellte sich heraus, dass niemand das vorgesehen hatte. Es begannen sogar weitere Ermittlungsmaßnahmen, neue Anklagen wurden erhoben, es kam zu weiteren Verhaftungen. Alles roch nach Ärger und so beschloss ich, dass es besser wäre wegzugehen und nicht mit einer gerechten Untersuchung zu rechnen. Es bestand ja doch die Möglichkeit, für ein, zwei oder drei Jahre in Haft zu kommen und deshalb war es besser zu fliehen. Natürlich habe ich gegen die Auflagen verstoßen, natürlich hätte man mich wieder ins Untersuchungsgefängnis stecken können, aber das habe ich riskiert. Ich wollte bis zum letzten Moment tatsächlich nicht weg. Ich wartete, dass das Verfahren einen anderen Status bekommen würde, wenigstens einen administrativen. Denn alle verstanden ja, wie absurd das war, was sich da abspielte. Der Ermittler hatte immer das Argument: „Ich mache meine Arbeit.“ Und so macht er seine Arbeit, die Maschinerie aber bewegt sich weiter und zerstört menschliche Schicksale.

Ich bin nach Litauen gegangen. Man hatte mir gesagt, dass es diese Variante gibt, dass man mir hilft, dorthin zu kommen und mich niederzulassen, also habe ich eigentlich gar nichts gewählt. Mit den Dokumenten klarzukommen, war nicht kompliziert. Es ist ja ein klarer Fall, es gibt Veröffentlichungen in den Medien, es gibt Prozessunterlagen, wo schwarz auf weiß geschrieben steht, was ich getan habe und wessen man mich beschuldigt. Klar, dass in jedem normalen Land, wo man auf politisches Asyl prüft, alles offensichtlich ist. Ich habe Ende November Asyl beantragt und warte jetzt auf die Entscheidung. Man muss bis zu sechs Monate warten. In Litauen geht das ziemlich schnell. In anderen Ländern Europas dauert es ein oder zwei Jahre. Ich kann nicht sagen, dass ich mich in meine Umgebung integriert habe. Ich arbeite von zuhause und sitze daheim (eine Arbeit habe ich Anfang Dezember gefunden), umso mehr, weil alle wegen des Virus' zuhause sitzen, die Regeln sind hier auch streng. Raus gehe ich nur zum Einkaufen. Vor der Pandemie habe ich mich manchmal mit Leuten und politischen Emigranten aus Russland getroffen, die wegen der Krim oder wegen „Bolotnaja“ weggegangen sind. Aber so führe ich ein sehr häusliches Leben.

Wenn ich von meinen Leben vor den Ereignissen im Sommer sprechen soll, so war ich nicht besonders aktiv. Fünf Tage in der Woche bin ich ins Büro, habe mich manchmal mit Freunden getroffen, bin ins Training gegangen. Nachdem man mich aus dem Untersuchungsgefängnis entlassen hatte, ging ich wieder zur Arbeit. Dann nahm ich Urlaub und begann, eifrig zu Einzelkundgebungen, zu Gerichtsverhandlungen und Veranstaltungen zu gehen. Das waren die intensivsten Wochen in meinem Leben, niemals zuvor gab es soviel Austausch und Ereignisse. Und dann ging ich weg. Jetzt ist mein Leben ziemlich eintönig. Nachdem sie mich freigelassen hatten, machte ich Korrekturen auf der Website von „Arestanty 212“ (Aktion zur Unterstützung der Angeklagten im „Moskauer Prozess“), ich bin aktiver Teil der Gruppe. Das Interesse an Russland habe ich nicht verloren, ich verfolge die Nachrichten und Geschehnisse.

Was auch passiert, ich werde die Entscheidung in dem Asylverfahren abwarten, werde warten, ob ich amnestiert werde oder nicht. Aber selbst wenn das der Fall sein sollte, werde ich in Litauen bleiben und werde reisen. Und ja, ich würde gerne nach Russland zurückkehren, mir fehlt der Kontakt mit Menschen, mit Gleichgesinnten, die meine Ansichten teilen.

 

Pavel Elizarov

Teilnehmer der Demonstration auf dem Bolotnaja Platz 2012. Dort auf einer Demonstration festgenommen, erhielt danach eine Vorladung vor das Ermittlungskomitee. Einer der Gründer der Website „Bolotnoe Delo“ [Bolotnaja Prozess].

 

Ich habe Russland 2012 wegen des Bolotnaja Prozesses verlassen. Ich war damals Aktivist in der demokratischen Bewegung „Solidarnost“ und in der Partei „Parnas“, nahm aktiv an allem teil, war einer der Organisatoren der Demonstration an den „Tschistye Prudy“ [großer Teich am Boulevardring in Moskau] am 5. Dezember 2011. Dort wurde ich festgenommen und kam für eine Woche in Haft. Auf dem Bolotnaja Platz nahmen sie mich auch fest, schlugen mich bei der Festnahme sogar, brachten mich damals direkt von der Polizeiwache in die chirurgische Notaufnahme.

Aber dann wurde irgendwie alles ruhig. Ich wusste nicht einmal, ob Strafanzeige erhoben wurde oder nicht. Ich war auf Reisen, meine Schwester schrieb mir, dass Polizisten eine Hausdurchsuchung durchgeführt und mich gesucht hätten. Damals wusste noch niemand etwas von dem Bolotnaja Prozess, da war gerade die erste Welle. Darum bin ich auch zurückkehrt, ich wusste nicht, dass mir etwas Ernsthaftes droht. Als ich zurückkam, wurden dann die Durchsuchungen bei Xenia Sobtschak bekannt (als man nach Ilja Jaschin suchte wegen angeblich provozierter Zusammenstöße mit der Polizei auf dem Bolotnaja Platz bei der Auflösung des „Marsches der Millionen“).

Deshalb wohnte ich nicht in meiner Wohnung, ging aber zur Arbeit. Da wurde dann schon klar, dass dies ein ernsthaftes und großes Verfahren gegen Aktivisten ist, es kam eine Vorladung vor das Ermittlungskomitee, Polizisten tauchten auf. Da verstand ich, dass alles schlecht steht und floh über die Ukraine nach Belarus. Genau zu der Zeit wurde Razvozshaev aus Kiev entführt und nach Moskau gebracht (Leonid Razvozshaev war Angeklagter im Bolotnaja Prozess. Nach seiner Emigration in die Ukraine schaffte man ihn nach Moskau, wo er verhaftet wurde). Damals war Janukovitsch an der Macht, es war nicht ungefährlich in der Ukraine. Ich war zu der Zeit einer der Gründer der Website „Bolotka.info“ (Dort wurden Informationen über die Gefangenen des Bolotnaja Prozesses gesammelt). Formell wurde nicht nach mir gefahndet, die Vorladung erhielt ich als Zeuge. Aber das war damals gängige Praxis: Man bringt jemanden zur Befragung als Zeuge zum Ermittlungskomitee und macht ihn währenddessen zu einem Verdächtigen. Die Fahndungsliste hatte ich überprüft – ich war nicht drauf.

Da entschloss ich mich, nach Mosambik zu gehen. Das Land hatte ich gewählt, weil ich unbedingt Afrika bereisen wollte, es gab dort geschäftliche Perspektiven, Investitionen, man hatte Gas gefunden, die Wirtschaft war noch nicht entwickelt. Ich hatte da eine kleine Firma für Webseiten, die Sache lief ganz gut. Aber ich konnte dort keine richtigen Dokumente bekommen, weil das alles über Bestechung läuft und mir das nicht passt. Ich hasse diese ganze Geschichte mit Bestechungen.

In dieser Periode begann die Europäische Union den „Bolotnaja-Gefangenen“ aktiv zu helfen. Da entschied ich nach Portugal zu gehen, wo es nicht schwer war, ein Visum zu bekommen. Die Bedingungen dort waren gut: Während man auf die Asylentscheidung wartet, bekommt man eine Aufenthaltsgenehmigung und kann arbeiten. In Mosambik hatte ich schon mehr oder weniger angefangen, Portugiesisch zu sprechen, Spanisch konnte ich schon. Natürlich hat sich das Leben seit dem Umzug sehr verändert, Ich habe 27 Jahre in Moskau gelebt und jetzt bin ich plötzlich auf und davon. Ein neues Land, eine andere Kultur. Aber ein Trauma habe ich deswegen nicht.

Mir fehlt das kulturelle Leben, Moskau ist so groß wie ganz Portugal. Ich hatte in Moskau ein kulturelles und ein politisches Leben. Was die Arbeit angeht, so hat sich nichts besonders verändert, das Leben von IT-lern ist in allen Ländern ähnlich. Hier in Portugal habe ich das Gefühl von Freiheit und Sicherheit, ich kann nachts auf der Straße laufen und muss keine Angst vor Polizisten haben. In Russland hatte ich unangenehme Vorfälle wegen nichts, eine Überprüfung von Papieren konnte sich in eine Verhaftung verwandeln. Die Menschen hier sind freier, es ist angenehm, auf den Straßen zu spazieren, es gibt keine idiotischen Verbote, die Leute verhalten sich zwanglos. Ja, manchmal möchte ich nach Russland zurückkehren, aber dann verliere ich das Recht auf Asyl in Portugal, so ist das Gesetz. Ich verfolge die Situation in Russland weiter, habe bei der Website „Arestanty 212“ geholfen.

Ich unterstütze außerdem die Boris-Nemzov-Stiftung, reise zum Nemzov-Forum, das jeden Herbst stattfindet. Es ist erwähnenswert, dass sich seit 2012 eine Gemeinschaft politischer Emigranten entwickelt. Die ist jetzt voller Zuversicht, in verschiedenen Ländern tauchen von unten Stiftungen und Organisationen auf, die von dort aus auf das Leben in Russland Einfluss nehmen.

 

Ilja Kapustin

Zeuge im Strafverfahren gegen die terroristische Vereinigung „Set“ [Netz]. FSB-Mitarbeiter entführten Kapustin am 25. Januar 2018 in Petersburg, schlugen ihn und zogen ihn in einen Transportbus. Man folterte ihn mit einem Elektroschocker, stellte dabei Fragen über verschiedene Leute und über die Anarchisten-Bewegung.

 

Ich wurde von FSB-Mitarbeitern gefoltert, habe das danach bekannt gemacht. Dann wurde ich unruhig, dass die Mitarbeiter darauf irgendwie unangemessen reagieren und versuchen könnten, sich zu rächen, mich möglicherweise in das Verfahren mit reinziehen oder sich irgendetwas anderes ausdenken. Ich verstand, dass es für mich sicherer wäre, in ein anderes Land zu gehen. Das alles war im Januar 2018. Ich beantragte ein Visum, sofort am nächsten Tag nachdem es fertig war, verließ ich Russland in Richtung Finnland. Ich hatte einen Zeugenstatus, den habe ich bis heute noch. Natürlich hatte ich Bedenken, dass sie versuchen würden, mir die Bewegungsfreiheit einzuschränken, aber dafür gab es keine gesetzliche Grundlage. Deshalb entschied ich nichts in die Länge zu ziehen und so schnell wie möglich wegzugehen. Sofort, nachdem ich in Helsinki angekommen war, bin ich zur Polizei gegangen und habe gesagt, dass ich Asyl benötige, weil die Geheimdienste zuhause völlig außer Rand und Band geraten sind und einen nicht in Ruhe lassen.

Danach schickten sie mich in ein Transitlager im Stadtinneren. Es ist vorgesehen, dass Leute, die gerade um Asyl gebeten haben, dort hinkommen und da ihren Gesprächstermin bei der Migrationsbehörde abwarten; das Lager – das sind keine Zelte unter freiem Himmel, sondern ein normales Wohnheim. Dieser Ort ist nicht für einen längeren Aufenthalt vorgesehen. Ich hatte ein 2-3-Personen-Zimmer von acht Quadratmetern. Gewöhnlich warten die Menschen dort etwa einen oder auch zwei Monate auf ihr Gespräch. Ich habe ein halbes Jahr gewartet, vielleicht dachten sie, dass ich mich von Russland erst mal erholen muss.

Dann begannen die Gespräche. Es gab zwei Treffen, bei denen ich den Kern der Sache darlegte. Ich hatte Dokumente bei mir, die die Echtheit der Geschichte bestätigten. Danach brachten sie mich in ein Lager für längerfristigen Aufenthalt. Alle müssen in einem Lager leben, mich brachten sie in ein Lager in Helsinki. Das Lager, in dem ich dann wohnte, war anders als das Transitlager. Dort leben die Menschen jahrelang. Manchmal gab es gewisse Spannungen, weil alles mit anderen Menschen auf einem Raum stattfindet. Ich kann nicht sagen, dass ich Probleme hatte, manchmal ging es mir etwas auf den Wecker. So gibt es ja nicht in allen Ländern eine Müllabfuhr, die Leute schmissen immer mal den Müll aus dem Fenster, das schuf eine eigene Atmosphäre.

Ich lernte dort verschiedene Menschen kennen, mit unterschiedlichen Geschichten, verschiedenen Schicksalen. Die Flüchtlinge im Lager kamen von überall her: aus Kolumbien, aus Indien, aus dem Nahen Osten, aus Afrika. Ich erhielt eine Aufenthaltsgenehmigung, weil mir in der Heimat Gefahr droht. Ich zog um in eine Mietwohnung. Ich habe die Möglichkeit in einer Mietwohnung zu leben, weil der Staat Wohnraum bezahlt und für Grundbedürfnisse aufkommt, was wichtig ist. Vor ein paar Tagen habe mich an der Universität eingeschrieben, werde 3D-Design studieren. In den zwei Jahren habe ich angefangen, Finnisch zu verstehen, während dieser zwei Jahre war der gegenseitige Kontakt mit den Menschen ziemlich schwierig. Englisch konnte ich auf einem gewissen Niveau, derzeit erlauben mir meine Sprachkenntnisse aber nicht, mich über ernsthafte Themen auszutauschen.

Ich kann nicht sagen, dass ich innerhalb der heimischen Bevölkerung mit einem großen Kreis Kontakt habe. Ich spüre keine Ablehnung mir gegenüber, aber um enge Kontakte zu pflegen, muss man seine Gedanken genau ausdrücken können. Ich denke, dass wird mit der Zeit kommen. Es gibt hier eine bestimmte Menge an Migranten aus Russland, mit einigen stehe ich in Kontakt. Insgesamt ist mein Freundeskreis kleiner und von geringerer Intensität als in Russland. Mir fehlen natürlich meine Freunde und Verwandten. Was [materielle] Dinge angeht, fehlt mir nichts, aber Menschen, ja, die fehlen. Es gibt viele Sachen, die mir am Leben in Finnland gefallen, die klasse organisiert sind. Im Vergleich mit dem Leben in Russland ist hier alles sehr entspannt und man fühlt sich, als sei man permanent in einem Kurort. Im Prinzip muss man sich über nichts Sorgen machen, nicht über die Sicherheit, nicht darüber, dass man ohne Essen und Trinken auf der Straße landen könnte. So was kann man sich hier gar nicht vorstellen.

Es gibt aber auch eine andere Seite, dass man sich nämlich motivieren können muss, etwas zu tun. Hier ist alles für die Menschen und um der Menschen willen, es gibt viele öffentliche Güter. Im Moment verstehe ich Finnland als mein Zuhause, ich habe es hier bequem und gemütlich. Vor kurzem war ich in Deutschland und habe mich dort wie im Ausland gefühlt. Nachdem ich wieder zurückgekehrt war, verstand ich, dass ich endlich daheim bin.

 

April 2020

 

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