Jurij Dmitriev wurde heute zu 13 Jahren Haft verurteilt. Die Anklagepunkte, in denen ihn die vorige Instanz, das Stadtgericht von Petrozavodsk, freigesprochen hatte, wurden zur erneuten Verhandlung an dieselbe Instanz in anderer Zusammensetzung zurück verwiesen.

Zum Urteil veröffentlichte Memorial International die nachstehende Erklärung:

 

Heute wurde gegen Jurij Dmitriev ein grausames, ungesetzliches, widerrechtliches, politisch motiviertes Urteil gefällt.

Jedem unvoreingenommenen Beobachter ist sofort klar, dass der zweitägige Prozess vor dem Obersten Gericht Kareliens nicht als fair zu betrachten ist, allein schon deshalb nicht, weil dem Angeklagten keine vollwertige Verteidigung zur Verfügung stand. Das Gericht hatte sich ohne jeden Grund geweigert, den Prozess zu verschieben, bis sein erkrankter Anwalt wieder zur Verfügung stand, der Dmitriev bereits fast vier Jahre vertreten hat. Den ersatzweise zugeteilten Anwalt hatte Dmitriev abgelehnt. Das Gericht ließ dies unbeachtet.

Das Verfahren gegen Dmitriev wurde aus politischen Motiven fabriziert. Der Grund dafür lag nicht nur in seinem jahrelangen Wirken für die Bewahrung der Erinnerung an die Opfer des sowjetischen Terrors. Sandarmoch war ein Gedenkort von internationaler Bedeutung geworden. Dorthin kamen Besucher aus den ehemaligen Sowjetrepubliken – der Ukraine und den baltischen Ländern – ebenso wie aus anderen Ländern, z. B. Polen. Die Gedenktage demonstrierten immer wieder, dass der Massenterror kein „Versagen“ des sowjetischen Systems war, sondern ihm zugrunde lag. Darüber hinaus wurde deutlich, wie Geschichte und Gegenwart zusammenhängen: 2015 sprach Dmitriev hier über den Krieg in der Ostukraine. Möglicherweise war gerade dies der Auslöser für den Prozess.

Es wurde ein Verfahren nach „anrüchigen“ Anklagepunkten fabriziert, die den Ruf des Angeklagten schädigen und außerdem bewirken, dass der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Das sollte eine breite Reaktion in den Medien und eine Solidaritätskampagne verhindern. Dennoch hat die Solidarität in Russland wie im Ausland dazu geführt, dass der Prozess beträchtliches Aufsehen erregte.

Die Haltlosigkeit der Anklagen war von Anfang an ersichtlich. Es ist kein Zufall, dass Dmitriev 2018 in den besonders belastenden Punkten freigesprochen wurde. Im Juli 2020 verurteilte ihn das Gericht zu dreieinhalb Jahren Haft, einer Minimalstrafe, die er bereits weitgehend abgesessen hatte. Das hatte nur eines zu bedeuten – dass die Anklage keinerlei Beweise dafür hatte, dass Dmitriev Pornographie betrieben und seiner Pflegetochter gegenüber gewaltsame Handlungen sexuellen Charakters begangen hätte.

Das heutige Urteil ist die Rache eines Systems, das das Erbe des sowjetischen Systems angetreten hat. Es will von Neuem die Namen vergessen machen, die Jurij Dmitriev zutage gefördert hat, und ihn selbst wie seine Lebensaufgabe in den Schmutz ziehen.

Wir sind auf der Seite unseres Kollegen Jurij Dmitriev und seiner Verteidigung sowie mit allen, die ihn unterstützt haben. Wir werden gemeinsam darum kämpfen, dass dieses monströse Urteil aufgehoben wird.

Freiheit für den politischen Gefangenen Jurij Dmitriev!

 

Der Vorstand der Internationalen Gesellschaft Memorial

29. September 2020

 

 

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