Am 9. August starb in Moskau Sergej Kowaljow, einer der bedeutendsten Bürgerrechtler der Sowjetunion und Russlands. Seinen Einsatz in der Menschenrechtsbewegung in den 1960er und 70er Jahren bezahlte er mit 10 Jahren Freiheitsentzug (sieben Jahre Lager, drei Jahre Verbannung). Nach dem Ende der Sowjetunion blieb er ebenso engagiert und versuchte insbesondere, Wege zu einer friedlichen Lösung im Tschetschenien-Krieg zu bahnen. Memorial International verliert in ihm ein Vorstandsmitglied, dessen Mitarbeit – wenngleich in den letzten Jahren natürlich aus gesundheitlichen Gründen reduziert – eine unschätzbare Bereicherung war, die uns allen fehlen wird.

Wir bringen den (leicht gekürzten) Nachruf von Alexander Tscherkassov. Einen weiteren Nachruf von Uta Gerlant / MEMORIAL Deutschland finden Sie hier.

 

Sergej Kowaljow und Elena Zhemkova nach der Verleihung des Lew Kopelew Preises 2002 an Memorial International
Foto: Bernd Maurer / Lew Kopelew Forum

 

Ein Marathonläufer

Von Alexander Tscherkassov

Heute früh gegen 5 Uhr starb Sergej Kowaljow im Schlaf. Unser alter Kamerad, Lehrer, Kollege. Der unermüdlich mit uns, mit Opponenten, gestritten und mit dem Schicksal gehadert hat. Ein Wissenschaftler und Forscher, der in allem ein System suchte. Der gegen das System kämpfte, mitunter siegreich, der aber auch in der Niederlage nicht verzweifelte. Ein Mensch von enzyklopädischem Wissen und einem Leben von einer Spannweite der Renaissance. Jetzt kann man das sagen, ohne sich von ihm eine vernichtende Abfuhr zu holen. Sergej Kowaljow füllte tatsächlich mehrere vollwertige Leben aus.

Seit der Schulzeit war er Mitglied in einem Biologenklub. Die biologische Fakultät war zur „Lysenko-Zeit“ kein reines Vergnügen. Als Ende der 60er die Lysenko-Anhänger erneut das Haupt erhoben, mussten die Wissenschaftler diesem Unwesen endgültig ein Ende bereiten. Der entscheidende „Sargnagel“ wurde ein Artikel, der in der „Izvestija unter dem Namen des Nobelpreisträgers Nikolaj Semjonov erschien, den aber Sergej Kovalev und Levon Tschajlachjan, ein Freund noch aus Zeiten des Biologenklubs, verfasst hatten. Diese „gesellschaftliche“ Aktion war allerdings nur die Fortsetzung seiner eigentlich wissenschaftlichen Arbeit.

Und bald kam die Wissenschaft in Kollision mit dem gesellschaftlichen Engagement – seit der zweiten Hälfte der 60er widmete sich Kowaljow mit der ihm eigenen Gründlichkeit der Menschenrechtsbewegung. Damals sprach man noch nicht von „Dissidenten“. Sein Kollege Israil Gelfand hielt ihm einmal entgegen: „Sie sagen, das System sei verrottet, es bedürfe nur eines geringen Anstoßes, und es werde zusammenbrechen. Aber das hat man auch über Byzanz gesagt!“ Kowaljow antwortete darauf (nicht spontan, sondern nach einer Diskussion): „Naja, dreihundert Jahre – dieser Zeitrahmen stellt mich zufrieden!“

Diese Haltung erwies sich als richtig. Das Regime stürzte zwar nach weniger als nur dreißig Jahren, aber nur deshalb, weil Sergej Kowaljow und seine Freunde „Marathonläufer“ waren, die nicht mit einem schnellen Sieg rechneten. Damals jedoch, 1969, waren Sergej Kowaljow und sein Freund Alexander Lavut gezwungen, die Universität zu verlassen.

Sergej Kowaljow stieß Ende 1968 zur „Bewegung“, während des Prozesses gegen die Teilnehmer an der Demonstration gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei. Er war selbst weder ein „Führer“ noch ein Redner oder Demonstrant – und das Schicksal führte ihn ganz logisch zur „Chronik der laufenden Ereignisse“ [Samizdat-Publikation, die regelmäßig über politische Verfolgungen und Menschenrechtsverletzungen berichtete]. Die ersten Redakteure der „Chronik“ wurden verhaftet – zunächst Natalja Gorbanevskaja, die 1968 die Idee zur Chronik gehabt hatte, und dann Ilja Gabaj. Ungeachtet der Verhaftungen bestimmte die „Chronik“ über fünfzehn Jahre lang das Wesen, den Stil und den Kern der Menschenrechtsbewegung in der UdSSR. Die Dichter wurden jetzt von Wissenschaftlern abgelöst – jetzt redigierte Kowaljow mit der ihm eigenen unaufgeregten Akribie die „Chronik“.

Die Verhaftungen derer, in denen der KGB die Anführer sah, ihre Reuebekenntnisse und Geständnisse, die Erpressung der in Freiheit Verbliebenen führte 1972 zu einer vorübergehenden Einstellung der „Chronik“. 1974 nahm sie die Arbeit wieder auf, nunmehr mit Personen, die sich offen zu dieser Verantwortung bekannten: Tatjana Velikanova, Sergej Kowaljow, Tatjana Chodorovitsch. Das war kein leeres Wort: Im Dezember 1974 wurde auch Kowaljow verhaftet.

Während der Ermittlung beschloss das KGB, der Chronik Verleumdungen zu unterstellen. In den von Kowaljow redigierten Ausgaben wurden in etwa zehn (von Tausenden Berichten) Ungenauigkeiten festgestellt. Wesentliche Fehler sind an einer Hand abzuzählen. Die Ermittlungen des KGB bescheinigten damit ungewollt der „Chronik“ eine Qualität, die für moderne russische Medien unerreichbar bleibt.

Das Urteil lautete auf sieben Jahre Haft im strengen Vollzug und drei Jahre Verbannung. Kowaljow verbüßte die Haft in den Lagern von Perm und im Gefängnis von Tschistopol, die Verbannung dann auf der Kolyma. Im Lager gab es zahlreiche Anlässe, für seine Rechte zu kämpfen, daher auch Stoff für die „Chronik“. Die Lagerverwaltung antwortete darauf in ihrer Sprache – mit der Verhängung von Karzerstrafen und der Überführung in (die härtere) Gefängnishaft.

Das KGB griff darüber hinaus zu Geiselnahme: Kowaljows Sohn Ivan und dessen Frau Tatjana Osipova wurden ebenfalls verhaftet und verurteilt, man erpresste sie jeweils mit dem Schicksal ihrer Angehörigen. Auch dies blieb Kowaljow nicht erspart.

Dann kam das Jahr 1985. Es waren noch keine dreißig Jahre von den dreihundert vergangen, über die Kowaljow mit Gelfand gesprochen hatte, als das Regime zu wanken begann.

Nicht von selbst – die Arbeiten Sacharovs, Solzhenizyns, Kowaljows und vieler, vieler anderer trugen wesentlich dazu bei. Die Menschen lasen die „Chronik“ sowie den übrigen Samizdat, und ihre Einstellungen wandelten sich. Auf viele unbequeme Fragen fanden sich Antworten. Und die Reaktion der Menschen auf diese Antworten änderten sich ebenfalls – von einem „Das kann nicht sein“ zu einem „Da ist etwas dran“ – bis schließlich zu einem „Wer wüsste das denn nicht?“

Im Frühjahr 1988 kamen Sergej Kowaljow und seine Mitstreiter mit „Memorialern“ in Kontakt. 1989 kandidierten Andrej Sacharov und 1990 Sergej Kowaljow für Memorial für die Volksdeputiertenkongresse der UdSSR (Sacharov) und Russlands (Kowaljow). Dort leitete Kowaljow den Ausschuss für Menschenrechte, mit Unterstützung von Memorial. Viele ehemalige Dissidenten und „Memorialer“ waren damals Abgeordnete geworden, und einige Veränderungen wurden auch erreicht, z. B. im Strafvollzug, den Kowaljow am eigenen Leib erfahren hatte. Aber….

Bei kritischer Betrachtung zeigte sich indes, dass in der neuen Zeit massenhafte und schwere Menschenrechtsverletzungen nicht aus der Welt waren, sondern sich nur änderten: an die Stelle politischer Verfolgungen traten ethnische und soziale Konflikte.

Seit Dezember 1994 war die Kowaljow-Gruppe in Tschetschenien tätig. Sie versuchte, Verhandlungen in Gang zu bringen, publizierte Reportagen aus der Stadt, wo Zivilpersonen durch Bombardierungen ums Leben kamen, erste Listen Kriegsgefangener, die die Generäle lieber vergessen wollten, Meldungen über Filtrationslager und Razzien. In Einzelfällen konnte man Menschenleben retten – ohne grundsätzlich etwas ändern zu können. So ging es ein halbes Jahr, bis Budjonnovsk, dem Krankenhaus, in dem sich Schamil Basaevs Terroristen mit 1500 Geiseln verschanzt hatten. Nach dem gescheiterten Sturm des Krankenhauses durch Spezialkräfte gelang es der Kowaljow-Gruppe, Verhandlungen und dann die Freilassung von anderthalbtausend Geiseln im Tausch gegen 150 freiwillige Geiseln zu erreichen, die für die Terroristen ein „lebendiger Schutzschild“ wurden, ein Korridor für die Ausreise nach Tschetschenien. Mitglieder der Kowaljow-Gruppe, nämlich die Abgeordneten Borschtschev, Molostvov, Rybakov, Kurotschkin, Osovcov, Orlov von Memorial und andere – gehörten ebenfalls zu den freiwilligen Geiseln. Und in Groznyj begannen unter Aufsicht der OSZE Friedensverhandlungen. Nach einem Jahr kam es zu einer Art Frieden.

Dafür erhielt Kowaljow die höchste staatliche Auszeichnung. Aber nicht von Russland, sondern von Frankreich – nämlich den Orden der Ehrenlegion für seine Aktionen in Budjonnovsk. Vom russischen und sowjetischen Staat blieb die einzige Belohnung die seinerzeitige Lagerstrafe.

Die Kowaljow-Gruppe setzte als Beobachtermission ihre Arbeit im Kaukasus fort. Aber einen derart großen Einfluss hatte sie künftig nicht mehr.

Um ein Resümee zu ziehen:

Eine aussichtsreiche wissenschaftliche Karriere, zu Beginn gekappt, Menschenrechtler und Redakteur, der zehn Jahre von Gesellschaft, Feder und Papier ferngehalten wurde, Politiker, Abgeordneter, Aktivist, jedoch an der Peripherie. Man wird ihn kaum als erfolgreich bezeichnen, allerdings kommt es hier darauf an, was man unter Erfolg versteht.

Ein Idealist, der nur die Pragmatik des politischen Idealismus anerkannte. Ein Mensch des freien Denkens, der dieses Denken in die Tat umsetzt. Der sich nie von Kameraden und von Überzeugungen lossagt. Ein Marathonläufer, der seinen Weg absolviert hat und seine Stafette weitergibt.

Bei Trauerfeiern pflegte Kowaljow zu sagen: „Von Toten wie von Lebenden“ und stieß mit uns an.
Sergej Kowaljow bleibt mit uns.

9. August 2021

 

 

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