Oleksij Sydorenko

Ich heiße Soja Ivanivna Javorska, ich bin 71 Jahre alt. In Borodjanka lebten früher meine Eltern, mein Mann und ich lebten in Kyjiv. Wir haben dort gearbeitet. Und dann sind wir hierher zurückgekehrt. In die Heimat. Und wir leben hier schon seit zwanzig Jahren.


Soja Javorska, Borodjanka

Haben Sie damit gerechnet, dass es einen groß angelegten Krieg geben wird?

Dass es Krieg geben würde, das hatte ich nicht erwartet! Das habe ich nicht geahnt. Obwohl mein Mann sagte, dass es Krieg geben wird. Dass es ihn schon gibt. Er hat sein ganzes Leben im Innenministerium gearbeitet. Es gab da verschiedene Situationen, er wusste Vieles, worüber er nicht immer sprach. Über das abwegige Verhalten der russischen Machthaber waren wir uns schon lange im Klaren. Und wir wussten, dass jeden Moment etwas Furchtbares geschehen kann. Aber dass sie bis nach Borodjanka kommen würden … . Man dachte an zwei, drei, vier Tage, an eine Woche. Daran, dass es eine Invasion im gesamten Land geben könnte, wollte man nicht denken. Wir haben solche Gedanken verdrängt. Man hatte ein inneres Gefühl, dass sie vielleicht vom Osten oder vom Süden her angreifen würden, aber nicht vom Norden. Selbst in den schlimmsten Albträumen hätte man nicht gedacht oder vermutet, dass wir hier so etwas durchleben würden. Am Morgen des 24. rief um sechs Uhr meine ältere Enkelin an, die wohnten in Hostomel, hatten dort gerade eine Wohnung gekauft und eingerichtet.

Sie rief an und sagte: „Oma, weißt du, dass wir schon Krieg haben?“ „Wie Krieg? Bei uns ist nichts zu hören.“ „Aber so ist es. Krieg. Macht euch bereit, macht euch schnell bereit.“

Aber wohin sollten wir uns denn aufbrechen? Wir gingen nirgendwo hin. Ich rief meine eine Tochter an, dann die andere. Sie waren in Kyjiv und am 24. Februar hierhergekommen, waren aus Kyjiv nach Borodjanka geflohen. Sie dachten, hier sei es ruhiger. Leider kamen sie mit den Enkelkindern. Meine älteste Enkelin fuhr sofort mit ihrem Mann nach Vinnyzja zu den Eltern ihres Mannes. Aber wir blieben alle hier. Meine ältere Tochter war bei sich zuhause, sie haben hier in der Nähe eine Datscha. Als die Schüsse in Hostomel begannen, hörten wir alle Explosionen sehr gut. Butscha, Hostomel, wir konnten alles hören. Und das Glühen des Feuers. Explosionen, Explosionen, Explosionen … . Fast die ganze Zeit gab es Beschuss. Besonders schrecklich war es bei Explosionen mit Blitzen. Wir rannten zusammen mit den Kindern in den Keller. Wir hatten zwei Enkelkinder dabei, 10 und 13 Jahre alt.

Am 1. März flogen Fliegerbomben. Wir saßen im Zimmer, mein Enkel am Computer, er schaut hoch und ich sage: „Lauf!“ Ich hörte ein Pfeifen. Irgendetwas kam geflogen und fiel herunter.

Mein Mann kommt rein und sagt: „Lauft, wir verstecken uns!“ Wir sprangen auf (Wir haben zwei Eingänge an unserem Haus). Mein Mann und ich rannten auf der einen Seite hinaus, die Kinder auf der anderen. Die Kinder waren zuerst im Keller, unsere Tochter war gerade auf die Veranda hinausgesprungen. Es war, als hätte sie jemand gepackt, an den Armen hochgenommen und abgesetzt. Eine Stoßwelle kam. Alle Fenster am Hauseingang riss es heraus. Komplett heraus.

Es fühlte sich an, als sei das eine Druckluftbombe. Denn das Dach auf dieser Seite hob und senkte sich. Der Schiefer hob und senkte sich.

Es war, als ob bei uns auf den Dachschindeln Igel leben würden. Alles war voller Nägel. Da entschieden wir, dass die Kinder hier nicht bleiben dürfen. Später nach den Bombardierungen rief der Älteste an: „Wir wissen einen Ort, an dem man rauskommen kann.“ Denn überall hier waren Russen. Viele Panzer fuhren durch das Zentrum. Das war am ersten des Monats.

Wohin begaben sich Ihre Kinder?

Die Kinder fuhren zuerst nach Vinnyzja. Sie fuhren über die Varschavka-Straße an den Teteriv, von dort nach Radomyschl und dann nach Vinnyzja. Unsere älteste Enkelin blieb dort, unsere Schwiegersöhne auch. Aber unsere jüngste Tochter ging mit den Kindern und Schwiegereltern, die aus Kyjiv geflohen waren, nach Spanien und Portugal.

Haben Sie über eine Evakuierung nachgedacht?

Nein! Wir sind nicht weggefahren, obwohl man es uns angeboten hat. Wir gaben unseren Kindern Benzin, damit sie einen vollen Tank hatten. Wir gaben ihnen Bargeld. Am 24., als die Kinder ankamen, gingen wir zur Bank, um das Bargeld abzuheben. Denn in den Bankautomaten gab es nichts mehr. Wir packten Säckchen mit Lebensmitteln. Wie hätten wir alles zurücklassen können? Mein Mann und ich hatten schon früher gesagt, dass wir bleiben würden.

Wir werden nirgendwo hingehen. Wir sind über 70. Ja, wir wollen leben, aber wir verlassen unseren Hof nicht, nicht unsere zwei Katzen, unseren Hund, die Hühner und das alles … . Da steckt unser Herzblut drin. Wie soll man sich da losreißen und weggehen?

Wir waren sehr froh, als die Kinder am 2. März morgens um sieben wegfuhren. Und um acht begannen neue Luftangriffe. Mein Mann und ich saßen im Keller und waren glücklich, dass die Kinder weggefahren waren. So war das … . Wir dachten nicht einmal daran, wegzugehen. Mein Mann schlug mir vor, mit den Kindern zu gehen. Ich sagte: „Wie, ich soll fahren? Und du bleibst? Du und ich, wir sind ein Ganzes. Uns gibt es nur zusammen!“

Was passierte weiter?

Licht gab es schon nicht mehr. Licht, Gas und Wasser waren weg. Die Kinder hatten für uns vorher 50 Liter Wasser zusammengetragen. Wir beteten, dass sie irgendwo ankommen und sich mit uns in Verbindung setzen würden. Aber es gab kein Licht, die Telefone waren tot. Wir schalteten sie nur ein, um zu sagen, dass wir am Leben waren. Dann brach die Verbindung ganz ab. Ich hatte ihnen gleich gesagt: „Wenn ihr keine Verbindung kriegt, dann macht euch keine Sorgen um uns. Alles wird in Ordnung sein. Wir haben unser Leben gelebt. Es gab viel Positives in unserem Leben. Und das Allerbeste, das seid ihr und unsere Enkel, und das ist wunderbar. Das einzig Wichtige ist, einander zu unterstützen.“

Wie war die Lage im Ort?

Wir sind nicht herumgelaufen, aber haben aber einiges gehört. Viel gehört. Der Neffe meiner Klassenkameradin wurde getötet. Der Junge fuhr im Auto, sie haben ihn erschossen. Und ihre Schwester musste den Sohn begraben, der war noch so jung … Dann wurde ein Nachbar zu einer Grube gebracht. Sie raubten ihn aus, nahmen ihm alles weg. So war es. Es war unmöglich, zum Tor hinauszugehen. Sobald mein Mann und ich rausgingen, um nach der Datscha unserer Tochter zu sehen, flogen Hubschrauber. Sie flogen sehr niedrig. Als ob sie gleich Leitungen treffen wollten. Oder es kamen Fahrzeuge mit russischen Soldaten. Oder sie schossen. Oder es flogen Raketen.


Borodjanka. Folgen russischer Bombardements.

Wie lange war Borodjanka besetzt?

Einen Monat. Nicht erst ab 1. März, es war schon früher besetzt. Zu uns kamen sie aber später. Unsere Straße liegt abgelegen, sie hatten Angst, von der Hauptstraße abzugehen. Nachts liefen sie nicht herum. Nur morgens.

Wir hatten ein batteriebetriebenes Radio. Wir waren froh, überhaupt eine Verbindung zu haben. Einmal war es sehr beängstigend, als sie unser Tor einschlugen. Es ist leicht zu öffnen. Sie kamen zu uns rein. Ein Fahrzeug hielt an, ein Transportpanzer oder so was. Da saßen viele drin. Sie kamen in den Hof und begannen, mich auszufragen. Ein Offizier stellte sich vor. Ich erinnere mich weder an seinen Rang noch an seinen Nachnamen, aber seinen Vornamen habe ich mir gemerkt – Aleksandr. „Haben Sie keine Angst vor uns (Russen).“ Er war Russe, drei Russen und fünf Burjaten. Er sagte sofort: „Nehmt die Waffen runter.“ Alle ließen sie herunter.

Da hinter der Garage hat einer gestanden, dort stand einer und da hatte einer sich hingesetzt. Der Offizier fing an zu fragen, in der Art, wie geht es Ihnen hier, haben Sie keine Angst, wir werden nichts Böses tun. Ich senkte die Augen und dachte: „Ja, ja, wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich euch von hier fortjagen. Aber ich habe diese Möglichkeit nicht.“ Sie begannen, nach den Nachbarn zu fragen, ob einer hier bei der Territorialverteidigung ist oder vielleicht bei den Soldaten. Ich dachte: „Ja, natürlich, ich werde dir jetzt erzählen, dass mein Mann fast ein Soldat ist.“ Ich begann zu sprechen, senkte die Augen, weil … . Wissen Sie, mir stieg der Hass in die Kehle. So ein unmenschlicher Hass. Ich hatte den Wunsch, sie fortzujagen, aber es war nicht möglich. Und ich hatte Angst um meinen Mann.

Was wurde aus Ihrem Eigentum?

Da sehen Sie, das ist ein Riss in der Garage. Und die Veranda hat leichte Risse bekommen. Die oberen Fenster sind herausgeflogen, das Dach war beschädigt. Aber der Neffe meines Mannes kam und hat alles repariert. Und bei dem Neffen sind zwei Geschosse direkt in den Hof geflogen. Er wohnt auf der anderen Straßenseite von uns. Er stand mit einem Nachbarn im Hof und der sagt: „Gehen wir.“ Kaum war er im Haus, kamen auch schon die Geschosse geflogen. Er sagt, genau dahin, wo sie gestanden hatten. Da war so ein Krater. Und im Garten explodierten zwei nicht. Steckten dort einfach. Er ist selbst Soldat. Hat in Hostomel am Flughafen als Mechaniker gearbeitet, ist auch geflogen.

Hat sich Ihre Einstellung den Russen gegenüber geändert?

Alle Menschen haben das Recht auf Leben, auf ihre Meinung. Aber das Schlimmste ist, dass sie die Fähigkeit zu analysieren verloren haben. Das ist furchtbar. Zu analysieren und wenigstens ein bisschen zu denken. Denn es gibt doch Bekannte, Angehörige. Mein Mann hat eine Schwester in Moskau. Mein Schwiegersohn hat eine Großtante in Tver. Sie glauben es nicht. Es ist weniger, dass sie es nicht glauben, sie wollen es nicht. Aber es ist doch trotzdem das eigene Blut. Manche haben dort Freunde, Taufpaten und -patinnen. Um sie habe ich Angst. Verstehen Sie, ich habe einfach Angst um sie.

Für alles Böse, das sie angerichtet haben, werden sie sich vor Gott verantworten. Und auch diejenigen, die das verstehen, werden kein normales Leben mehr haben.

Wir beten für unsere Jungens und Mädchen, die dort an der Front sind. Dank ihnen sind wir am Leben. Wir wünschen ihnen Gesundheit. Es tut sehr weh. Wenn ich könnte, würde ich die Feinde in Stücke reißen. Ich will, dass sie verurteilt werden. Sie sagen, er soll krepieren (Putin). Ja! Aber wir wollen, dass er unseren Hass spürt. Und nicht nur er. Denn das ist ja nicht nur diese eine Person. Da gibt es viele wie ihn. Ich weiß nicht, vielleicht haben sie diesen schrecklichen schwarzen Neid. „Wie kommt es, dass sie ihn ihr etwas haben und wir nicht? Warum? Ich nehme es euch weg!“ Dieser schwarze Neid frisst die Menschen auf. Es schmerzt so sehr für unsere Kinder, die umgekommen sind. Es schmerzt für die, die kämpfen, für die, die zurückbleiben. Es tut sehr weh um die Kinder.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

Ein Video-Interview mit Soja Javorska finden Sie hier.

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

11. April 2023

 

 

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