Zwei Memorial-Mitglieder unter den Finalisten

Am 20. Juni wurde in Bonn zum dritten Mal der Boris-Nemtsov-Preis verliehen.

Die Preisträger werden jährlich nach einer Internet-Abstimmung auf der Website der „Novaja gazeta“ und einem Beschluss der Jury bestimmt. In diesem Jahr haben über 11.000 Leser in Russland und im Ausland an dieser Abstimmung teilgenommen. Im Ergebnis kamen von 30 Vorgeschlagenen fünf Finalisten in die engere Wahl. Zu ihnen gehören die Leiter zweier Memorial-Verbände – Jurij Dmitriev (Memorial Karelien) und Ojub Titiev (Memorial Groznyj), die beide aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt werden.

Ausgezeichnet wurde schließlich Nadezhda Mitjuschkina. Als führendes Mitglied der von Nemtsov mitbegründeten Bewegung „Solidarnost“ hat sie sich seit 2011 an vielen Protestaktionen in Moskau beteiligt. Nach Nemtsovs Ermordung organisiert sie die Gedenkkundgebungen und koordiniert die Freiwilligen, die das Mahnmal an der Stelle seiner Ermordung auf der Moskvoretskij-Brücke (inoffiziell Nemtsov-Brücke genannt) pflegen und dort Mahnwachen abhalten. Sie betonte nach Entgegennahme des Preises, dass sie nur eine von vielen Hunderten sei, die daran mitwirkten.

Von den vier anderen Finalisten, die ebenfalls zur Preisverleihung eingeladen waren, konnte allerdings nur einer selbst kommen, nämlich Jegor Tschernjuk, Koordinator von Navalnyjs Wahlkampagne aus Kaliningrad. Er hat Russland allerdings vor kurzem verlassen, um einer Anklage wegen Verweigerung des Militärdienstes zu entgehen, und plant, ein Studium in den USA zu beginnen, sobald er sein Visum bekommt. Für Alexej Navalnyj war Leonid Volkov anwesend, für Jurij Dmitriev seine Tochter Katerina Klodt sowie sein Anwalt Viktor Anufriev und für Ojub Titiev Alexander Tscherkassov, Leiter des Menschenrechtszentrums Memorial in Moskau.

Zur Eröffnung der Veranstaltung erinnerte die Geschäftsführerin der Nemtsov-Stiftung Olga Shorina an Oleg Sentsov sowie eine Reihe weiterer politischer Gefangener, die sich inzwischen ebenfalls im Hungerstreik befinden, aus Solidarität mit Sentsov und seiner Forderung nach Freilassung aller Ukrainer, die in Russland aus politischen Gründen in Haft sind.

Dmitrij Muratov, bis November letzten Jahres Chefredakteur der Novaja gazeta, leitete seinen Beitrag mit einem Kommentar zur Fußball-WM ein. Die WM führt in seinen Augen die jahrelange Propaganda, dass Russland von Feinden eingekreist sei, die ihm übel wollten, ad absurdum: Jetzt, wo diese Feinde - Vertreter zahlreicher Nationen - im Land sind und man sich bestens versteht, fällt dieses Propaganda-Konstrukt in nichts zusammen.

Er wies auf die bedrängte Situation der Medien in Russland hin, unabhängige Journalisten würden entlassen und liberale Sender geschlossen, so wie der Tomsker Telekanal II. Vielleicht sollte man eine „Redaktion entlassener Journalisten“ gründen, eine Art „Arche Noah“.

Die jüngste Praxis, Kosaken als Schlägertrupps gegen Demonstranten einzusetzen, beschrieb er als Praxis von Geheimdiensten, Gesetzesverletzungen mit den Händen anderer zu begehen. Als „Anschauungsmaterial“ zog er sich eine Art Schlaghandschuh an, wie sie von Kosaken getragen werden und mit denen diese auf Protestierende eingeschlagen hatten.

Auch Muratov erinnerte an Sentsov: „Wenn Sentsov stirbt, wird es bei der WM keine Sieger geben“. Er schloss mit einem Appell an Angela Merkel, sich für die Freilassung jener einzusetzen, für die Sentsov in Hungerstreik getreten sei.

Katerina Klodt und Viktor Anufriev gingen vor allem auf die Arbeit Jurij Dmitrievs ein, die den Machthabern offenbar in den letzten Jahren unbequem geworden ist. Seit Jahrzehnten erforschte er die Geschichte des sowjetischen Terrors in Karelien. Ausgrabungen führten ihn auf die Spur mehrerer Massengräber, insbesondere bei Sandarmoch. Das dortige Mahnmal geht maßgeblich auf seine Recherchen zurück. Ursprünglich hatten die lokalen Behörden Dmitrievs Arbeit durchaus akzeptiert, wie Anufriev betont. Offizielle Vertreter waren jährlich zu den Gedenkfeiern Anfang August erschienen. Im Jahre 2014 änderte sich dies, es kam zu einer Neubewertung dieser historischen Ereignisse, und Regierungsvertreter blieben diesen Anlässen nunmehr fern.

Inzwischen sitzt Dmitriev zwar nicht mehr in Untersuchungshaft, aber sein Freispruch in den Hauptanklagepunkten wurde kürzlich aufgehoben, und das Verfahren wird neu aufgerollt.

Alexander Tscherkassov vom Menschenrechtszentrum war in Vertretung für Ojub Titiev gekommen. In seinem Beitrag betonte er, dass „alles bei uns zusammenhängt“: Ojub Titiev widmete sich einer ähnlichen Aufgabe wie Dmitriev, auch er recherchierte und dokumentierte politische Verbrechen, für die der Staat die Verantwortung trägt. Es war Natalja Estemirova, die Titiev seinerzeit für Memorial gewann. Nach ihrer Ermordung – die bis heute nicht aufgeklärt ist – wurde er ihr Nachfolger bei Memorial Groznyj.

Die Anklage gegen Titiev sei offenbar ein Racheakt von Ramsan Kadyrov, der die Menschenrechtler dafür verantwortlich macht, dass sein Name auf die Magnitskij-Liste geraten ist und dass seine äußerst frequentiertes Konten bei Instagram und Facebook-Konto gesperrt wurden. Tscherkassov fürte noch weitere Attacken gegen Memorial im Nordkaukasus an –nach Titievs Verhaftung gab es Brandanschläge gegen das Büro in Inguschetien und auf ein Auto von Memorial in Dagestan sowie unverhohlene Drohungen, dass künftig nicht nur das Büro, sondern auch die Mitarbeiter brennen würden.

Ähnlich wie in Deutschland erst eine neue Generation ihre Eltern mit Fragen nach ihrer Verantwortung für die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg konfrontiert habe, könne dies in Russland jetzt auch geschehen. Dies gelte auch hinsichtlich der Tschetschenien-Kriege, für die die heutige junge Generation, hier vertreten durch Jegor Tschernjuk und Leonid Volkov, nicht mehr verantwortlich sei.

Zhanna Nemtsova erklärte abschließend, der Preis werde „für Mut“ vergeben, es sei aber immer auch eine Auszeichnung „für Standfestigkeit“, eine Qualität, die für Oppositionelle in Russland heute ebenso unentbehrlich ist.

 

24. Juni 2018

 

 

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