Vorsitzender von Memorial Karelien unter verleumderischer Anklage

Am 1. Juni hat der Prozess gegen den Historiker und Vorsitzenden von Memorial Karelien Jurij Dmitriev, der seit dem 13. Dezember 2016 in Haft sitzt, in Petrosavodsk begonnen.

Jurij Dmitriev ist weit über Russland hinaus durch seine jahrzehntelangen umfangreichen Nachforschungen zum Großen Terror in Karelien während der Stalin-Zeit bekannt geworden. Es ist maßgeblich ihm zu verdanken, dass die Massenhinrichtungsstätte Sandarmoch sowie etliche weitere Massengräber in dieser Region aufgefunden wurden.

Darüber hinaus stellte Dmitriev Gedenkbücher mit Namen und kurzen biografischen Angaben der Opfer zusammen. Eines davon ist „Ich pomnit Rodina“ (Das Vaterland gedenkt ihrer), das die Namen von Kareliern aufführt, die 1937-38 ermordet wurden. Dmitriev hat es 2016 noch kurz vor seiner Verhaftung fertig gestellt. Am 6. Juni um 19 Uhr wird diese Publikation mit noch einer seiner weiteren im Staatlichen GULAG-Museum in Moskau präsentiert.

Die Gedenkstätte Sandarmoch wurde 1997 eingeweiht. Seither finden alljährlich am 5. August Gedenkfeiern statt, Jurij Dmitriev war einer der Organisatoren. Zu Anfang hat die regionale Regierung von Karelien diese Initiativen durchaus unterstützt. 2015 wurde Dmitriev aus Anlass seines 60. Geburtstags von der Regierung Kareliens für eine Arbeit sogar ausgezeichnet.

Dennoch rief seine Tätigkeit – insbesondere seit 2014 – in den Regierungskreisen zunehmend Unmut hervor, insbesondere seine Praxis, internationale Delegationen zu diesen Feiern einzuladen (aus der Ukraine, Polen und dem Baltikum). In den Monaten vor seiner Verhaftung wurde ihm zunehmend klar, dass er unter Beobachtung stand (durch entsprechende Telefonanrufe, Drohungen und offensichtliche Beschattung).

Am 13. Dezember 2016 wurde Jurij Dmitriev verhaftet. Zur Last gelegt werden ihm insbesondere angeblich pornografische Fotografien, die er in seinem Computer gespeichert hatte.

Wenige Tage vor der Verhaftung war er der Vorladung zu einem Gespräch in einer Behörde gefolgt, das sich als völlig überflüssig und sinnlos erwies. Zu dieser Zeit war niemand in seiner Wohnung. Nach seiner Rückkehr stellt er fest, dass eingebrochen und sein Computer „bearbeitet“ worden war. Auf Grund einer Denunziation am 12. Dezember (basierend auf Materialien, die im Computer gefunden worden waren) erfolgte die Verhaftung.

Die angeblich pornografischen Fotografien sind Aufnahmen von seiner Pflegetochter. Vor acht Jahren hatte er die damals Dreijährige in seine Obhut genommen. Da sie sich damals in sehr schlechtem Zustand (Unterernährung, Dystrophie) befand, legte Dmitriev ein „Gesundheitstagebuch“ an, um ihren Gesundheitszustand zu dokumentieren und beim Jugendamt Rechenschaft geben zu können. Von Seiten des Jugendamts gab es keinerlei Beanstandungen. Nachdem sich im Laufe der Jahre der Zustand seiner Pflegetochter stabilisiert hatte, fertigte Dmitriev keine Fotos mehr an.

Eine vom Gericht beauftragte „Expertengruppe“ hat diese Fotos als „pornografisch“ eingestuft. Dieses Gutachten wurde von einem Zentrum angefertigt, dessen „Arbeit“ bereits traurige Berühmtheit erlangt hat – zuletzt hat es die Tätigkeit der „Zeugen Jehovas“ als extremistisch beurteilt, vorher hat es bereits zu „Pussy Riot“ und in etlichen anderen politischen Verfahren belastende Bewertungen ausgestellt. Der Untersuchungsrichter weigerte sich, ein weiteres, unabhängiges Gutachten erstellen zu lassen.

Der Fall hat zahlreiche Proteste und Solidaritätsbekundungen im In- und Ausland ausgelöst, mehrere Petitionen wurden initiiert. Nicht zuletzt haben sich der französische Historiker Nicolas Werth und der orthodoxe Priester Kirill Kaleda (Leiter der Gedenkstätte Butowo bei Moskau) für Dmitriev eingesetzt

MEMORIAL International veranstaltet am 6. Juni, 12 Uhr, in Moskau eine Pressekonferenz zum Verfahren gegen Jurij Dmitriev.

Eine Petition zur Unterstützung von Jurij Dmitriev in englischer Sprache finden Sie hier.

2. Juni 2017

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