Interview mit Ivan Nepomnjaschtschich

Am 24. August wurde aus dem Straflager N.1 in Jaroslawl Ivan Nepomnjaschtschich entlassen, ehemaliger Ingenieur in einem Rüstungsunternehmen, der im Dezember 2015 schuldig gesprochen wurde, am 6. Mai 2012, während der Proteste auf dem Bolotnaja Platz, mit den Händen und einem Schirm zwei Polizisten geschlagen zu haben. Nepomnjaschtschich wurde zu 2 ½ Jahren Straflager im allgemeinen Vollzug verurteilt. Pavel Merslikin, Korrespondent bei Meduza, sprach mit ihm.

Wir veröffentlichen das Interview in Auszügen.

Wie sind die letzten Tage im Lager verlaufen?

Die letzten drei Tage habe ich in der Strafzelle verbracht. Der formale Grund war eine Verletzung der Kleiderordnung. Über den tatsächlichen Grund möchte ich nicht sprechen, weil das denen, die noch dort sind, schaden könnte. […]

Was muss man sich unter dieser Strafzelle vorstellen?

Das sind Räume, die für ungefähr 6 Personen vorgesehen sind. Allerdings habe ich berechnet, dass sich von der Fläche her in einigen Räumen eigentlich nur 5 Personen aufhalten können. Was die sanitären Anlagen betrifft sind das eher Lagerräume als Wohnräume. Zudem ist es dort im Frühjahr und Herbst sehr kalt, weil die Heizung nicht je nach Temperatur draußen abgeschaltet wird, sondern an einem bestimmten Datum. Im Sommer und Winter ist es ok. Man kann dort unter jedem beliebigen Vorwand hingeraten. Ich war mehrfach dort, das Höchste waren 21 Tage. […]

Gab es während der Zeit im Lager etwas, was Sie erstaunt hat?

Um ehrlich zu sein, nein. Meiner Meinung nach ist das Straflager ein Abbild des heutigen Russland. Das heißt, dort herrschen so etwa dieselben Zustände, wie insgesamt im Land, dieselben Beziehungen zwischen den Menschen.  […] Die Administration ordnet sich nicht dem Gesetz unter, sondern irgendwelchen eigenen Regeln. Es gibt Menschen, die versuchen gegen diese Willkür anzukämpfen, die Mehrheit verhält sich indifferent. Und es gibt die, die gegen jene sind, die sich über etwas beschweren. […] Das Straflager ist das absolute Analogon zu Russland.

Wie erging es Ihnen direkt nach der Ankunft im Lager?

Nachdem man uns dorthin gebracht hatte, steckte man uns entweder sofort in Quarantäne oder in die Strafzelle. In die Strafzelle kamen diejenigen, die sich der Wachmannschaft irgendwie nicht sofort untergeordnet hatten. […] Wer sich gleich mit den Regeln im Lager einverstanden erklärt hatte, kam für eine Woche in Quarantäne. Ich war in Quarantäne. Warum das Quarantäne hieß, weiß ich nicht. Außer einer Impfung gegen Tuberkulose gab es dort keinerlei medizinische Prozeduren. Nach dieser Woche schickte man mich in die Unterkunft. Sich mit den anderen Häftlingen bekannt zu machen, war sehr einfach. […] Nichts dergleichen, was man in Filmen zeigt, dass man da reingeht und sofort von den Anderen verprügelt wird, hat es gegeben.

Mit wem hatten Sie den meisten Kontakt?

Mit denen, die wie ich auch, Beschwerden über das Verhalten der Lagermitarbeiter eingereicht hatten. Die versuchten, sie zu zwingen, sich bei ihrer Arbeit an das Gesetz zu halten. Das waren Evgenij Makarov, Ruslan Bachapov. […]

Interessierte es Ihre Mithäftlinge, dass Sie wegen Bolotnaja saßen?

Nein, das war denen egal. Das hat niemanden interessiert. Vor mir waren auch schon Leute wegen Bolotnaja im Lager gewesen, alle wussten, was das ist. Was das Thema anging, beschränkte sich alles auf ein kurzes Gespräch mit der Verwaltung. Man sprach buchstäblich zwei Minuten mit mir, fragte, warum ich da hingegangen bin und ob ich vorhabe, das nochmal zu tun. Und riet mir, in Zukunft nicht mehr zu Protestveranstaltungen zu gehen. […]

Wie würden Sie nun, wo Sie wieder in Freiheit sind, ihre Zeit im Lager beschreiben?

Das war eine komplette und sinnlose Verschwendung von Zeit.

Im April meldeten Sie Verprügelungen im Lager. Erzählen Sie, wie war das?

Am 20. April brachte man mich unter einem Vorwand in die Strafzelle. Anscheinend hatte ich den „Zapfenstreich“ nicht befolgt. Am nächsten Tag tauchten „die Masken“ – Sondereinheiten – auf. Sie verprügelten uns, ich schrieb eine Beschwerde. Zuerst dachte ich, dass man mich geschlagen hätte, weil ich kurz zuvor eine vorzeitige Entlassung beantragt hatte, aber jetzt denken wir, dass man einen Aufstand unter den Häftlingen provozieren wollte. […]

Wie oft schlug man die Häftlinge?

Jedes Mal, wenn die Sondereinheiten auftauchten. Der Grad der Verprügelungen war unterschiedlich. Vom Streicheln über den Kopf bis zu harten Schlägen. Ein Häftling wurde so geschlagen, dass er dreimal das Bewusstsein verlor, aber sie machten einfach weiter.

Wie oft wurden Sie geschlagen?

Ich nur einmal, im April.

Haben Sie im Lager die Ereignisse draußen verfolgt?

Es gab einen Fernseher, aber ich habe keine Nachrichten geschaut. Das was es gab, waren die Programme Rossia und NTV. Wenn man diese Nachrichten schaut, wird man doch verrückt. Aber ich hatte Zeitungen abonniert, die Novaja Gaseta, The New Times, die habe ich regelmäßig gelesen. […]

Wissen Sie von den Protesten vom 26. März und 12. Juni?

Ja.

Hat Sie erstaunt, dass so viele junge Menschen auf die Straße gegangen sind?

In gewissem Maße ja.

Wären Sie auch auf die Straße gegangen, wenn Sie in Freiheit gewesen wären?

Natürlich. Ich habe auch jetzt vor zu Versammlungen zu gehen, wenn es welche gibt. Ich stehe unter administrativer Überwachung, das ist die Bedingung meiner Freilassung. Es ist mir verboten zu Massenveranstaltungen zu gehen, ich darf das Moskauer Gebiet nicht verlassen, muss von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens zuhause sein und mich einmal im Monat melden. Wir haben Berufung eingelegt, aber selbst wenn dem nicht stattgegeben wird, Einzelkundgebungen hat mir noch niemand verboten.

Haben Sie keine Angst, dass man Sie wieder ins Lager steckt?

Nein.

[...]

Jetzt, wo Sie wissen, dass alles mit einer Haftstrafe endete, würden Sie noch einmal zu Bolotnaja gehen?

Ja. Ich bin bewusst hingegangen.


Nachtrag: Der Berufung gegen die administrative Überwachung wurde abgelehnt, und Ivan Nepomnjaschtschich hat Russland inzwischen verlassen. Derzeit hält er sich in Prag auf und bereitet sich darauf vor, in die USA zu gehen und dort zu studieren.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

12. September 2017
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