Am 13. März – fünf Tage vor den Präsidentenwahlen - hat das russische Justizministerium die Europäische Plattform für Demokratische Wahlen EPDE  ebenso wie ihre Partnerorganisation, das "International Election Studies Center" (IESC) in Litauen zu "unerwünschten Organisationen" erklärt. Die EPDE besteht aus 14 NGOs vorwiegend aus postsowjetischen Ländern sowie aus Skandinavien. Sie setzen sich für freie Wahlen in ganz Europa ein und organisieren die Beobachtung von Wahlen.

Am Tag zuvor hatte der russische Fernsehkanal Ren-TV einen Hetzbeitrag ausgestrahlt, der sich gegen finanzielle Unterstützung russischer Organisationen und Publikationen durch ausländische Stiftungen richtete und vor allem diese beiden Organisationen im Visier hatte.

Das 2016 gesetzlich eingeführte Register für „unerwünschte Organisationen“ verbietet den so eingestuften ausländischen NGOs und Stiftungen – bisher sind es dreizehn - jegliche Tätigkeit in Russland. Eine Kooperation russischer Organisationen mit ihnen ist strafbar. Die Verbände der russischen Wahlbeobachtungsorganisation Golos (die als eine der ersten zum „ausländischen Agenten“ erklärt worden war) sind dadurch gezwungen, ihre Zusammenarbeit mit ihnen einzustellen.

 

13. März 2018

Das Bezirksgericht Staropromyslovski in Grosnyj hat die Untersuchungshaft von Ojub Titiev, dem Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien, um zwei Monate bis zum 9. Mai verlängert. Sein Anwalt Petr Zaikin hatte bei der Verhandlung stattdessen als Alternative eine persönliche Bürgschaft für Titiev beantragt.

Zur Verhandlung waren auch Svetlana Gannuschkina und Oleg Orlov (Menschenrechtszentrum Memorial) gekommen sowie Präsidentschaftskandidat Grigorij Javlinskij, der zugunsten Titievs auftrat und sich für ihn verbürgte. (Ebenfalls für Titiev verbürgt hat sich Präsidentschaftskandidatin Xenia Sobtschak, die allerdings bei der Verhandlung nicht anwesend war.) Weder Ermittler noch Staatsanwalt brachten erneute Beweise dafür, dass Ojub Titiev für den Fall einer persönlichen Bürgschaft anstelle der Untersuchungshaft sich den Ermittlungen entziehen oder Druck auf Ermittler, Zeugen usw. ausüben könnte.

Der Menschenrechtsaktivist war am Morgen des 9. Januar verhaftet worden. Am nächsten Tag verjagten Polizisten seine Angehörigen aus ihrem Haus. Sie suchten Titievs Sohn und seinen Bruder und drohten der Familie mit Unannehmlichkeiten. Am Abend desselben Tages wurde Titiev wegen angeblichen Drogenbesitzes angeklagt. Das Gericht verhängte zwei Monate Haft.

6. März 2018

Serbskij-Institut bestreitet Vorwurf der Pornographie

Auf der heutigen Verhandlung in Petrosavodsk wurden die Ergebnisse des Gutachtens zur Kenntnis genommen. Dem Gutachten zufolge ist Dmitriev gesund, es wird ausdrücklich festgehalten, dass er „nicht pädophil“ ist, die ihm zur Last gelegten Fotos angeblich pornographischen Inhalts hätten mit Pornographie nichts zu tun, sondern völlig anderen Zwecken gedient. Dmitriev habe nichts getan, was seiner Pflegetochter hätte schaden können.

Dies teilte Viktor Anufriev, Dmitrievs Anwalt, heute in Petrosavodsk mit.

Jurij Dmitriev war am 16. Dezember 2016 in Petrosavodsk festgenommen worden, nachdem in seiner Wohnung eingebrochen und Daten aus seinem Computer entwendet worden waren, die als "Belege" für Pornographie dienen sollten. Er saß über ein Jahr in Untersuchungshaft, bis er vor einem Monat, am 27. Januar, aus der Haft entlassen wurde.

Der nächste Verhandlungstermin wurde für den 14. März anberaumt, an dem Tag soll ein bereits befragter Zeuge erneut verhört werden. Danach folgen die Plädoyers. Das Ende des Prozesses wird Ende März erwartet.

In einem Interview mit der Internet-Portal „7x7“ erklärte Dmitriev, er wolle seine durch die Haft unterbrochene Arbeit wieder aufnehmen: "Allmählich kehre ich zu der unterbrochenen Arbeit zurück, ich stelle die Unterlagen zusammen, an denen ich gearbeitet habe und versuche, mir Klarheit zu verschaffen, wo ich abgebrochen habe.“

 

27. Februar 2018

 

 

Dmitrij Butschenkov war Angeklagter im Bolotnaja-Prozess. Er war jedoch am 6. Mai 2012 gar nicht in Moskau. Dennoch hielt man ihn mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft fest und verurteilte ihn, wobei die Richterin offensichtlich von vornherein darauf eingestellt war, ihn schuldig zu sprechen. Butschenkov gelang es, aus dem Hausarrest zu fliehen und Russland zu verlassen. Im Exil schreibt er an einem Buch: „Fälschungen bei Strafverfahren in der Russischen Föderation“ und stellte OVD-Info zwei Kapitel zur Veröffentlichung zur Verfügung. Nachfolgend finden Sie eines davon in Übersetzung.

Fälschung im Untersuchungsverfahren

Nachdem die Zeugen der Anklage und die Opfer gehört wurden, kann mit den Ermittlungen begonnen werden. Für Leser, die mit dem Russischen Staat und dem russischen Strafrecht nicht vertraut sind, möchte ich erläutern, dass die Strafprozessordnung zwei grundlegende Handlungen zwischen den Beteiligten eines Strafverfahrens von Seiten der Anklage und des Angeklagten vorsieht. Das sind die Identifikation und die Gegenüberstellung. Eine Gegenüberstellung wird gemäß Strafprozessordnung durchgeführt, wenn zwischen den Aussagen der Person, die identifiziert und derjenigen, die identifiziert wird, wesentliche Widersprüche bestehen. Einfacher ausgedrückt: Das Opfer erkennt den „Verbrecher“ und ruft aus: „Ja, das ist er!“, der „Verbrecher“ aber streitet die Anschuldigung weiterhin ab und versichert: „Ich war dort gar nicht.“

Wenn der Beschuldigte seine Schuld nicht anerkennt, kann eine Gegenüberstellung die Version der Ermittlung in Frage stellen, aber die Ermittler wissen diese Gefahr natürlich zu umgehen. Der Ermittler bestimmt selbständig den Verlauf der Untersuchung, der in der Strafprozessordnung vorgesehen ist, und neutralisiert damit die Versuche des Beschuldigten und seines Anwalts zu beweisen, dass sich der Zeuge irrt oder die Unwahrheit sagt. Der unerfahrene Bürger, der sich durch den Willen des Schicksals in den Händen der russischen Rechtsprechung wähnt, begibt sich zur Gegenüberstellung in der freudigen Erwartung, dass er sogleich den Verleumder, einen Zeugen oder das Opfer, das gegen ihn ausgesagt, ihn aber in Wirklichkeit nie gesehen hat, entlarven wird. Der Zeuge, frühzeitig vom Ermittler auf die Ermittlungshandlungen vorbereitet, sagt aus, dass er diesen Bürger gesehen hat und dass „dieser genau die Person ist, die ihn gegen das Bein getreten und ihm unerträgliche Leiden zugefügt hat.“ Empört durch diese Lügen, beginnt der Angeklagte genauer nachzufragen: „An welchen Merkmalen erkennst du mich denn? An welchen Gesichtszügen siehst du denn, dass ausgerechnet ich das bin?“ Der Ermittler aber lässt diese Fragen nicht zu. Die Gegenüberstellung ist so aufgebaut, dass zuerst die Fragen gestellt werden und der Ermittler dem Zeugen gestattet oder nicht sie zu beantworten.

Deswegen wird jede Frage, deren Antwort die Version der Ermittlung in Zweifel ziehen könnte, nicht zugelassen unter dem Vorwand: „Das hat mit der Sache nichts zu tun und verzögert die Untersuchung.“ Sogar wenn die Frage völlig logisch ist und in einem direkten Zusammenhang zur Anklage steht, weist der Ermittler sie ohne mit der Wimper zu zucken zurück und schreibt ins Protokoll der Gegenüberstellung, dass die „Frage abgelehnt wurde, weil sie mit der Sache nichts zu tun hat.“  Völlig empört ob dieser Vorgänge fährt der Beschuldigte mit dem Gefangenentransporter zurück in die Untersuchungshaft und denkt, dass er den Verleumder bei der Gerichtsverhandlung entlarven wird. Kommt es jedoch zur Verhandlung, verstehen alle, die im Saal sind, dass der Polizist lügt, der Richter aber sitzt schweigend da, die Augen auf die Dokumente gerichtet und tut so, als ob er die Lügen nicht bemerke. Der Angeklagte schreibt eine Beschwerde an den Ermittlungsleiter, aber erhält die nichtssagende Antwort: „Gemäß der Strafprozessordnung hat der Ermittler das Recht, den Gang der Ermittlungen selbständig zu leiten.“ Und der Mensch versteht, dass er seine Unschuld nicht beweisen kann, dass niemand ihn hören will und dass er für den Russischen Staat eine kleine Fritte ist, die er zerdrücken kann, ohne das überhaupt zu bemerken. So entsteht ein stabiler Hass auf den Staat und alle, die ihn vertreten. Das Lustigste daran ist, dass sich der Angeklagte so viele der talentiertesten Anwälte nehmen kann wie er will, sie werden völlig machtlos sein. Die Untersuchungen führt der Ermittler, einen Begriff wie „Anwaltliche Untersuchung“ gibt es in der russischen Rechtsprechung nicht, der Anwalt kann in einer solchen Situation durch nichts helfen. Erst später, da kann er bei Gericht zu diesem Anlass gut auftreten, aber auch das wird nur von geringer Bedeutung sein.

In meinem Fall hat mein Anwalt nach allen Gegenüberstellungen, in denen der Ermittler Nachfragen zurückgewiesen hatte (und das tat er bei allen Gegenüberstellungen), Anmerkungen zum Protokoll der Gegenüberstellung auf eine gesonderte Liste geschrieben und festgehalten, dass der Ermittler die Gegenüberstellung faktisch durch eine andere Ermittlungshandlung ersetzt hat – die Identifikation, die er einfach als Gegenüberstellung bezeichnet hat. Aber die juristische Beweiskraft der Anmerkungen ist im russischen Justizsystem null und nichtig.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

In den letzten Monaten hatten Titiev und andere Memorial-Mitarbeiter in Tschetschenien an der Aufklärung der Verhaftung, des anschließenden Verschwindens und der vermutlichen Erschießung von 27 Bewohnern der Republik gearbeitet. Tschetschenische Regierungsmitglieder hatten sich mehrfach negativ über die Menschenrechtler geäußert. So hatte Magomed Daudov, Parlamentsvorsitzender der Republik Tschetschenien, im Dezember 2017 die Aufnahme Kadyrovs auf die Magnitzky-Liste und die Sperrung seiner Accounts in sozialen Netzwerken mit der Tätigkeit der Menschenrechtler in Zusammenhang gebracht und öffentlich zu ihrer Verfolgung aufgerufen. Nach der Verhaftung Titievs und dem Brandanschlag auf das Büro von Memorial in Nasran im Januar 2017 zeigte der staatliche Fernsehsender TschGTRK Grosny Kadyrov auf einer Sitzung mit Vertretern des Innenministeriums. Dort bezeichnete Kadyrov die Aktivisten als Verräter und Volksfeinde, bei einem Interview mit dem Daily Storm behauptete er, Titiev würde Marihuana rauchen, seinen Sohn nannte er einen Drogenabhängigen. Im Fernsehen wurde Titiev zudem als Vertreter der „Fünften Kolonne“ bezeichnet.

Der Anwalt Titievs, Petr Zaikin, wird demonstrativ beschattet.

Das Verhalten der Polizisten lässt auf Manipulation schließen: Die erste Durchsuchung, bei der die Drogen in Titievs Auto „gefunden“ wurden, ging ohne Zeugen vor sich, in der Erwartung, dass Titiev seine Schuld auf der Polizeiwache gestehen werde. Als er sich weigerte und ein gesetzmäßiges Vorgehen forderte, brachte man ihn und sein Auto von der Polizeiwache weg und führte eine zweite, offizielle Durchsuchung, dieses Mal mit Zeugen, durch. Diese Version Titievs wird von einem Zeugen indirekt bestätigt. Nachdem Titievs Hände auf Spuren untersucht worden waren, führte man ihn noch vor dem Versiegeln der Proben aus dem Büro. Als man ihn zurückbrachte, waren die Umschläge bereits verschlossen. Es bleibt also unklar, welche Proben in dem Verfahren  Verwendung finden. Titiev wurde im Verlauf des Verhörs mehrfach nahegelegt, sich selbst zu bezichtigen.

Das oben Aufgezählte erlaubt, von groben Verfahrensverstößen zu sprechen, die alle im Verlauf dieser ungesetzlichen Handlungen erlangten Beweise inakzeptabel machen.  Alarmierend ist auch, dass buchstäblich 24 Stunden nach der Verhaftung  die Untersuchung mit in solchen Fällen unüblicher Geschwindigkeit  und ungewöhnlichem Einsatz – an dem Verfahren arbeiteten drei Untersuchungsrichter  – durchgeführt wurde. Die Verteidigung erhielt keinen Auftrag, auf deren Grundlage sie das Verfahren umgehend begleiten konnte. Bei der Prüfung der Verfahrensunterlagen entstand bei der Verteidigung der Eindruck, dass diese bereits im Vorfeld angefertigt worden waren.

Diese Umstände gestatten die Annahme, dass die Verhaftung Titievs das Ziel verfolgt, seinen Aktivitäten als Menschenrechtler ein Ende zu setzen. Dabei kam es zu Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren sowie weiterer Rechte, die durch die Verfassung der Russischen Föderation, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert sind. Zudem beruht die Verhaftung offenbar auf manipulierten Beweisen eines angeblichen Verbrechens, das nicht stattgefunden hat.

18. Februar 2018

 

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