In einem Gemeinschaftsprojekt von MEMORIAL Deutschland e.V. und der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" wird die Arbeit des Zentrums zur Unterstützung älterer bedürftiger MEMORIAL-Mitglieder in Petersburg bis Ende 2017 finanziell gesichert. Knapp 1.500 ältere Menschen, die unter politischen Verfolgungen gelitten haben, werden dort sozial, medizinisch, juristisch und kulturell betreut. Mehrere Sozialarbeiterinnen, eine Ärztin, eine Bibliothekarin, eine Koordinatorin für die Kulturveranstaltungen, ein Berater und eine Juristin unterstützen dabei die Arbeit der vielen ehrenamtlich engagierten Betroffenen.

Diese Seite soll einen Einblick geben in ein bemerkenswertes Hilfs- und Selbsthilfeprojekt.

Sozialprojekt
"Man möchte alle beim Namen nennen" (Anna Achmatowa) - Gedenkstein für die Opfer des stalinistischen Terrors in Petersburg. Der Stein stammt von den Solowki-Inseln, die Teil des Lagersystems waren.

"... schnell wurde klar, dass hier Hilfe nötig ist."
MEMORIAL St. Petersburg entstand zur Zeit der Perestroika aus dem Bedürfnis heraus, die stalinistische Vergangenheit endlich öffentlich anzusprechen, Rehabilitierung zu erlangen für erlittenes Unrecht und den unzähligen Opfern des Stalin'schen Lagersystems ein Denkmal zu setzen. "Aber als sich die zahlreichen Betroffenen damals zusammenfanden, wurde ziemlich schnell klar, dass hier vor allem Hilfe nötig ist.", erzählt Margarita Markowna, Mitstreiterin der ersten Stunde und seit Jahren die Koordinatorin des Selbsthilfenetzwerkes. Inzwischen ist das Sozialprojekt längst mehr als nur materielle oder medizinische Hilfe: für viele alte Menschen ist es wichtigstes soziales Umfeld, Familie und Heimat geworden.

Wie erreicht man 1.500 Menschen mit dem Telefon?
Das Telefon ist für die MEMORIAL-Mitglieder der wichtigste Verbindungsweg: schnell, bisher noch kostenlos und auch für die nutzbar, die den Weg ins MEMORIAL-Büro nicht mehr schaffen. Ein- bis zweimal pro Woche sollen alle Mitglieder erreicht werden, sei es, um zu aktuellen Freizeitveranstaltungen und Ausflügen einzuladen, sei es, um zu hören, wie es jedem Einzelnen geht, ob jemand Hilfe benötigt. Nicht zuletzt gibt es den oft einsamen alten Menschen die Möglichkeit, mit jemandem zur reden und sich auszutauschen. Um das bei der gewaltigen Zahl der Mitglieder bewerkstelligen zu können, wurde die Stadt in Bezirke und Unterbezirke eingeteilt und ein System ehrenamtlicher Koordinatoren geschaffen. Auf jeden der etwa 150 Koordinatoren entfallen etwa 10 Anrufe.

Sozialprojekt

Medikamentenhilfe
Zweimal pro Woche hält die Ärztin Irina Lasarevna Saborskaja im Büro von MEMORIAL ihre Sprechstunde ab. Die Menschen kommen vor allem, wenn die Kosten ihrer Medikamente ihre Möglichkeiten übersteigen. Irina Lasarevna löst die Rezepte in Petersburger Apotheken ein und gibt sie kostenlos an die bedürftigen Patienten aus. Dabei berät sie die Menschen über alle mit medizinischer Behandlung und Gesundheit zusammenhängenden Fragen.

Sozialprojekt
Irina Lasarevna erklärt einem Patienten, was er bei der Medikamenteneinnahme beachten muss.

Die schlimmsten Nöte lindern
Ein großer Teil der ehemaligen Repressierten befindet sich in einer prekären wirtschaftlichen Lage. Die Kosten für medizinische Behandlungen, eine Zahnprothese oder auch die Beerdigung eines Angehörigen können oft nicht aus eigener Kraft getragen werden. In diesem Fall werden von MEMORIAL auf Antrag finanzielle Beihilfen gewährt. Für rechtliche Fragen steht eine kostenlose juristische Beratung zur Verfügung. Menschen, die nicht mehr die Wohnung verlassen können, werden von den Sozialarbeiterinnen und Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zu Hause betreut. Diese Arbeit wird teilweise auch von ehrenamtlichen Mitgliedern von MEMORIAL, selbst ehemals Repressierten, übernommen.

Sozialprojekt
"Ich bitte um materielle Hilfe im Zusammenhang mit meiner schweren wirtschaftlichen Lage. Mein einziger Sohne T. Kirill Jurevič, geboren 1971, hat einen Autounfall erlitten (am 22. August 2005) und benötigt eine schwierige plastische Operation (er hat keine Harnblase mehr). Meine Schwiegertochter ist gestorben und mein Sohn wurde Invalide mit Arbeitsunfähigkeit 2. Grades."

Kunst und Kultur
Die gemeinsamen Abende in den Räumlichkeiten von MEMORIAL und die wöchentlichen Ausflüge stellen immer wieder Höhepunkte im Leben der älteren Menschen dar. Sie bieten Freude an künstlerischen Darbietungen, intellektuelle Ansprache, fröhliches Miteinander und die Möglichkeit, sich selbst schaffend einzubringen. Das Angebot reicht von Filmabenden und Vorträgen bis zu kleinen Konzerten und Museumsbesuchen. Von den Petersburger Theatern und Konzerthäusern werden regelmäßig kostenlose oder verbilligte Karten erbeten. Für alle, die an einem Theaterbesuch teilnehmen möchten und den Weg nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigen, wird ein Fahrdienst mit dem Auto organisiert. Alle kulturellen Aktivitäten werden von MEMORIAL-Mitgliedern selbst gestaltet oder organisiert. Die Monatsplanung vom Mai 2006 gibt einen Einblick in die Vielfalt und den Anspruch dieser Arbeit.

Sozialprojekt
Arbeitsplan der Kulturkommission Mai 2006

Sozialprojekt
Von ehemaligen Repressierten erstellte Fotoausstellungen schmücken die Wände im MEMORIAL-Treffpunkt.

weitere Projekte von Memorial Petersburg
Neben dem von MEMORIAL Deutschland e.V. und der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" unterstützten Sozialprojekt gibt es weitere Aufgabenbereiche, die von den Petersburger MEMORIALern bearbeitet werden. Dies sind vor allem ein Projekt für die Rechte der Roma und die Herausgabe der Zeitung "Antifašistskij Motiv". Für Informationen zu diesen Themen verweisen wir auf die russisch- und englischsprachige Seite www.adcmemorial.org.

Ansprechpartner: MEMORIAL Deutschland e.V.
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MEMORIAL International führt ausführliche Video-Interviews mit ehemaligen Häftlingen des GULAG (ggf. auch ihren Angehörigen) durch, um ihre Erinnerungen einer interessierten Öffentlichkeit sowie der Fachwelt zugänglich zu machen.

Die Erinnerungen dieser Zeitzeugen sind eine der wichtigsten Informationsquellen, die uns über den Häftlingsalltag im GULAG und das (Über)Leben in einem totalitären Staat noch zur Verfügung stehen.

Bis heute existieren nur sehr wenige vergleichbare Filmaufzeichnungen von Gesprächen mit russischen Zeitzeugen. Vordringliches Ziel ist es, diese Zeugnisse zu sammeln und zu bewahren, solange es nicht zu spät ist und noch Zeitzeugen am Leben sind.

Die Webseite zum Projekt finden Sie unter www.1917-1991.org.
Ein Blog mit Infos zur Entwicklung des Projekts finden Sie unter www.1917-1991-de.blogspot.com.

Zur Fortsetzung und möglichst einer Ausweitung des Projekts ist MEMORIAL dringend auf Fördermittel angewiesen. Spenden für dieses Projekt überweisen Sie bitte auf folgendes Konto:

MEMORIAL Deutschland e.V.
Bank für Sozialwirtschaft Berlin
IBAN: DE96 1002 0500 0003 3200 00
SWIFT-BIC: BFSWDE33BER
Kennwort: Die letzten Zeugen

Ansprechpartnerin Moskau: Alena Kozlowa
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Ansprechpartner Berlin: Sebastian Priess
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GULAG

Die Webseite www.gulag.memorial.de und die CD-ROM "GULAG - Das System der Zwangsarbeitslager in der Sowjetunion" ermöglichen Einblicke in Organisation und Lebenswelten des GULAG sowie in Aspekte der politischen Verfolgung in der SBZ/DDR.

Anhand von 3 inhaltlichen Schwerpunkten - Lager, Biographien und Literatur - wird das System der sowjetischen Zwangsarbeitslager thematisch aufgefächert.

Visueller Ausgangspunkt des Internetprojekts ist die administrative Karte der ehemaligen Sowjetunion, auf der bedeutende Lagerverwaltungen verzeichnet sind. Dadurch ist eine geographische Ortung der vorgestellten Lagerverwaltungen möglich, die durch eine alphabetische Listung ergänzt wird.

Lager
Über 500 Lagereinträge verdeutlichen die Dimension des sowjetischen Repressionsapparats. Die meisten Lagereinträge beginnen mit einem einleitenden Kurztext zu Entstehungszeit, Insassenzahlen und Wirtschaftstätigkeit der ausgewählten Lagerverwaltung. Ferner wird eine Liste mit Verlinkungen zu Biographien von früheren Häftlingen aufgeführt, die in diesem Lager inhaftiert waren. Jeder Lagereintrag enthält außerdem noch Detailangaben zu Führungspersonal, Häftlingszahlen, Wirtschaftsausrichtung etc. Fotografien und Dokumente ergänzen diese Angaben. Eine Volltextsuche erleichtert eine Recherche nach gezielten Informationen.

Biographien
Mehr als 250 Biographien vervollständigen das Bild der politischen Verfolgung in der ehemaligen Sowjetunion. Wichtige Lebensdaten werden in Form von tabellarischen Lebensläufen zusammengefasst. Ausgewählte Zitate aus Briefen und Memoiren sowie zahlreiche Abbildungen dokumentieren Lagererlebnisse und ihre Auswirkungen auf jeden einzelnen Porträtierten. Sowohl Biographien deutscher Politemigranten als auch von Angehörigen verfolgter Minderheiten oder von bekannten sowjetischen Schriftstellern und Intellektuellen wurden in dieses Projekt aufgenommen. Schicksale von Oppositionellen aus dem Nachkriegsdeutschland zeigen, wie sich die politische Unterdrückung in der SBZ/DDR fortsetzte.

Die Biographien wurden mit Hilfe von Unterlagen des Archivs und des Museums der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL sowie von biographischen Zeugnissen aus einem anderen Projekt von MEMORIAL Deutschland - dem Potsdamer KGB-Gefängnis in der Leistikowstraße - erstellt. Für weitere Biographien zeichneten Herr Prof. Jenkner und Frau Dr. Ammer verantwortlich.

Literatur
Diese Rubrik beinhaltet Aufsätze, die die Entwicklung und Organisation des sowjetischen Lagersystems bzw. Einzelaspekte des Lagerlebens beschreiben. Hier sind insbesondere die erste autorisierte deutsche Übersetzung der wissenschaftlichen Aufsätze aus dem Handbuch "System der Besserungsarbeitslager in der UdSSR" sowie die zweite aktualisierte Auflage der Bibliographie von Siegfried Jenkner "Erinnerungen politischer Häftlinge an den GULAG" zu nennen. Beide Publikationen wurden speziell für dieses Projekt erstellt und stehen auch nur im elektronischen Format zur Verfügung. Ferner werden Studien vorgestellt, die Methoden politischer Unterdrückung in der Sowjetunion und deren Anwendung auf die Verfolgung politisch Missliebiger in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. späteren DDR erläutern. Alle Publikationen stehen dem Leser zum Download zur Verfügung.

Zielgruppen: Einerseits bietet dieses Projekt umfangreiche Informationsmaterialien für den Schulunterricht. Insbesondere die zahlreichen Häftlingsbiographien, das vielfältige Karten- und Bildmaterial sowie ausgewählte Aufsätze verdeutlichen die Dimensionen des GULAG-Systems und seine Auswirkung auf den einzelnen Menschen. Andererseits bieten sich in Form der akribischen Datensammlungen zu den Lagerverwaltungen, des umfangreichen Bestands an zeitgeschichtlichen Dokumenten und der ausgewählten Publikationen auch zahlreiche wissenschaftliche Forschungsansätze.

Projektleitung: Sebastian Priess
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KGB-Gefängnis Potsdam
Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam
ehemaliges Untersuchungsgefängnis der sowjetischen Militär-Spionage-Abwehr

Nach der Potsdamer Konferenz, die vom 17. Juli bis 2. August 1945 im nahe gelegenen Schloss Cecilienhof stattfand, wurde dieses Haus ebenso wie das ganze am Neuen Garten liegende Wohngebiet Potsdams von der sowjetischen Besatzungsmacht beschlagnahmt und das "Militärstädtchen Nr.7" errichtet. Die sowjetische Geheimpolizei (NKWD/MGB/KGB) benutzte das als Pfarrhaus, Sitz der Evangelischen Frauenhilfe und Gemeindezentrum 1916 vom Evangelisch-Kirchlichen Hilfsverein (EKH) erbaute Gebäude, als Untersuchungsgefängnis sowohl der Spionageabwehr als auch als Ort von Sowjetischen Militärtribunalen, die in der Nachkriegszeit Todesurteile und lange Lagerstrafen verhängten.

Bis 1953 wurden hier zahlreiche Deutsche und Bürger der Sowjetunion gefangen gehalten, in Verhören gequält und zu Geständnissen gezwungen, zu langjährigen Lagerhaftstrafen verurteilt und in die Sowjetunion, überwiegend nach Sibirien/Workuta, deportiert. Dies betraf auch weibliche und männliche Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren, denen "Werwolftätigkeit", Gruppenbildung, antisowjetische Agitation und ähnliches unterstellt wurde.

Nach Gründung der DDR und fester Installation der Stasi wurden hier (seit 1953) nur noch sowjetische Bürger, vor allem Angehörige der Roten Armee, inhaftiert und abgeurteilt.

Das Haus blieb bis 1994 - dem Abzug der sowjetischen Truppen - Untersuchungsgefängnis des Geheimdienstes. Es wurde dem EKH zurückgegeben und von 1997 bis einschließlich 2006 ehrenamtlich als Gedenk- und Begegnungsstätte betreut. Mitglieder von MEMORIAL Deutschland e.V., amnesty international und der Förderverein www.kgb-gefaengnis.de hielten hier Arbeitssitzungen und Veranstaltungen ab und führten durch das Haus.

MEMORIAL Deutschland e.V. setzte sich nachdrücklich für den Erhalt des Hauses in seinem authentischen Zustand ein und sorgte für die Dokumentation, Archivierung und Publizierung von Erinnerungen und Schicksalen ehemaliger Häftlinge des Hauses. Seine Pflege und sein Erhalt hat besondere Bedeutung, weil es das einzige original erhaltene sowjetische Untersuchungsgefängnis nicht nur Deutschlands, sondern vermutlich des mittelosteuropäischen Raumes ist und damit ein einzigartiges Zeugnis des totalitären sowjetischen Systems und der Geschichte Deutschlands und Europas nach 1945 darstellt.

Diesem Ziel dient die im Jahr 2000 von MEMORIAL Deutschland erstellte Ausstellung "Von Potsdam nach Workuta". Sie steht als Webportal unter www.von-potsdam-nach-workuta.de zur Verfügung und ergänzt u.a. auch durch die Biografien ehemaliger Häftlinge den bedrückenden Eindruck, den das ganze Haus vermittelt. Die Haftbedingungen in sowjetischen Untersuchungsgefängnissen sind durch original erhaltene Zellen in zwei Stockwerken, Pritschen, Stehkarzer usw. in einzigartiger Weise erfahrbar.

Die Sicherungs- und Sanierungsarbeiten am ehemaligen KGB-Gefängnis Potsdam Leistikowstraße 1 sind seit Mai 2008 abgeschlossen, ein zusätzlicher Neubau ergänzt als Besucherzentrum und Verwaltungsgebäude die seit dem 5. Dezember 2008 unter dem Dach der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten institutionalisierte Gedenk- und Begegnungsstätte. Für Interessierte fand eine Werkstattwoche zu Fragen der neuen Ausstellung vom 14. bis 20. Mai 2011 statt. Die neue Dauerausstellung ist am 18. April 2012 offiziell eröffnet worden.

Veröffentlichungen von MEMORIAL Deutschland e.V. zum ehemaligen KGB-Gefängnis Potsdam und weitere Erinnerungen ehemaliger Häftlinge des KGB-Gefängnisses finden Sie unter Publikationen.

Kontakt: MEMORIAL Deutschland e. V.
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Münchner Straßenbenennung - Ausstellung - Publikation - Anbringen einer Gedenktafel in Moskau

1. Carola Neher. Ein prominentes Verfolgungsschicksal des 20. Jahrhunderts
Die in München geborene Carola Neher gehörte zu den bekanntesten Schauspielerinnen der Weimarer Zeit. Nach frühen Engagements in Baden-Baden und an den Münchner Kammerspielen machte sie zunächst in Breslau, später, vorübergehend, in Wien und Berlin Karriere. Als Ehefrau des erfolgreichen, aber todkranken Autors Klabund, der ihren Charme in Gedichten feierte und ihr Bühnenstücke auf den Leib schrieb, sorgte sie ebenso für Aufsehen wie als Inspirationsfigur Bertolt Brechts, der ihre Schauspielkunst schätzte und sie in wichtigen Inszenierungen besetzte. Carola Nehers Verkörperung der Polly in der "Dreigroschenoper" wurde zu einem der größten Theatererfolge der Weimarer Zeit.

Als sie nach Klabunds frühem Tod zu Beginn der 30er Jahre eine Liaison mit Herrmann Scherchen, einem mit dem Marxismus sympathisierenden Komponisten einging und gemeinsam mit ihm einen Russisch-Kurs besuchte, verliebte sie sich in ihren Russischlehrer Anatol Becker, einen aus Bessarabien stammenden Ingenieur und begeisterten Anhänger der Sowjetunion. Gemeinsam mit ihm emigrierte sie zur Zeit des Nationalsozialismus in die UdSSR, wo sie ihren Sohn Georg zur Welt brachte.

Im vermeintlichen "Vaterland des Sozialismus" erwiesen sich jedoch alle Hoffnungen auf künstlerische Entwicklungsmöglichkeiten als Illusion: sie erfuhr die Moskauer Wohnungsnot und musste unter erbärmlichen Umständen leben, Karrierechancen blieben nahezu vollständig aus. Schon 1936, ein Jahr vor Beginn des Großen Terrors, gerieten sowohl ihr Mann Anatol Becker als auch sie in den Sog der Stalinschen Säuberungen. Anatol Becker wurde nach kurzer Haftzeit erschossen, sie selbst 1937 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, ihr Sohn Georg in ein Waisenhaus eingewiesen. Carola Neher starb am 26. Juni 1942 im Lager Sol Ilezk.

2. Münchner Straßenbenennung und Ausstellung im Deutschen Theatermuseum
Da zuvor in ihrer Heimatstadt München keine öffentliche Stätte an Carola Neher erinnerte, beantragten wir 2010 im Rahmen von MEMORIAL Deutschland die Benennung einer Münchner Straße nach Carola Neher. Diese Initiative wurde dankenswerterweise von Anfang an vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Herrn Schwarz, sowie vom Verein Gegen Vergessen, Frau Ilse Macek, unterstützt. Am Freitag, den 15. November 2013 wurde die Carola-Neher-Straße im Münchner Bezirk Obersendling feierlich eingeweiht.

Als sich die Chance auf Bewilligung der Straßenbenennungsinitiative abzuzeichnen begann, regten wir an, eine Ausstellung über Carola Neher im Deutschen Theatermuseum in München zu realisieren. Dankenswerterweise griff Frau Dr. Blank, die Leiterin des Museums, diese Anregung auf, so dass am Tage der Straßenbenennung auch die Ausstellung "Carola Neher. Wir Schauspieler sind erst auf der Bühne in unserem Element. Wir stolpern nur im Leben" im Deutschen Theatermuseum eröffnen konnte, die - u.a. mit Material aus der Sammlung von Herrn Georg Becker, dem Sohn Carola Nehers - von Herrn Micha Neher, ihrem Neffen und Frau Petra Kraus vom Deutschen Theatermuseum kuratiert wurde.

Begleitend zu dieser Ausstellung realisierte MEMORIAL Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Münchner Kulturreferat und "Gegen Vergessen - für Demokratie" ein breites Programm. Reinhard Müller, namhafter Stalinismusforscher, hielt einen Vortrag im Münchner Literaturhaus, die Otto-Falckenberg-Schauspielschule inszenierte mit Schauspielschülern das Carola Neher gewidmete Schauspiel: "Bleiche Mutter, zarte Schwester" von Jorge Semprún und das Münchner Filmmuseum präsentierte den Film "Die Dreigroschenoper" in einer Sondervorführung. Im Deutschen Theatermuseum lasen die Schauspieler Caroline Ebner, Hildegard Schmahl, René Dumont und Steven Scharf gemeinsam mit der Moderatorin Julia Cortis (BR) die (bereits 2010 im Münchner Gasteig erstmals präsentierte) szenische Lesung für fünf Stimmen "Flieg zum Flammengott der Schmerzen".

3. Der MEMORIAL Sammelband "Carola Neher. Gefeiert auf der Bühne, gestorben im Gulag. Kontexte eines Jahrhundertschicksals"
Die Entscheidung des Projektleiters des Berliner Literaturhauses, Herrn Lutz Dittrich, die Münchner Ausstellung in Berlin im Herbst 2016 (Eröffnung am 28. Oktober 2016) zu zeigen, eröffnete nicht nur die Aussicht, die wunderschöne, sehenswerte Ausstellung auch in der Stadt von Carola Nehers größten Erfolgen präsentieren zu können, sondern zugleich die Chance, einen von MEMORIAL gemeinsam mit dem Stalinismusforscher Reinhard Müller geplanten Aufsatzband über Carola Neher veröffentlichen zu können.

Dabei setzten sich die Herausgeber das Ziel, in dem Band Beiträge von Autoren unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen zu vereinen und sich somit dem vielschichtigen Schicksal Carola Nehers multiperspektivisch zu nähern, die Bedeutung ihres Wirkens und die Zusammenhänge ihres Verfolgungsschicksals im (kultur)geschichtlichen Kontext dieser Zeit herauszuarbeiten, sowie relevante Fragestellungen, die ihr Schicksal aufwirft, zu diskutieren. Anders als in bereits vorliegenden Biographien über Carola Neher liegt damit der Schwerpunkt dieser Publikation auf der Zeit von Carola Nehers bislang wenig erforschtem Schicksal im sowjetischen Exil. Dankenswerterweise ermöglichte es die Stiftung Aufarbeitung durch eine Projektförderung, dieses Vorhaben zu realisieren.

Den Herausgebern gelang es, für dieses Vorhaben namhafte deutsche und russische Wissenschaftler zu gewinnen. Prof. Völker würdigt einleitend in einem großen, kenntnisreichen Aufsatz Carola Nehers Leistung als Schauspielerin von ihren Münchner Anfängen bis zur Exilzeit. Er analysiert ihre künstlerische Entwicklung, wobei er zugleich einen Einblick in die Kreise der Künstler vermittelt, die mit Carola Neher zusammenarbeiteten wie auch in die in der Weimarer Zeit tonangebenden Stoffe. Die Autorin Karin Wieland beschreibt anschließend die "Liebe ohne Heimat" der Künstlerbeziehung und - Ehe zwischen dem Schriftsteller Alfred Henschke, der sich Klabund nannte, und Carola Neher.

Der russische Autor Valerij Zolotukhin informiert über die faszinierende Phase des sowjetischen Avantgardetheaters bis zum Krisenjahr 1926, dem Jahr, in dem Walter Benjamin bei einem Besuch der lettischen Bühnenkünstlerin Asja Lacis in der sowjetischen Hauptstadt, sein "Moskauer Tagebuch" verfasste und die Zeit der Repression bereits ihre ersten Schatten vorauswarf. Er gibt damit einen Überblick über die Bühnenkunst der sowjetischen Moderne, die zur Zeit von Carola Nehers Eintreffen in der Sowjetunion bereits zurückgedrängt worden war.

Wladimir Koljasin beschreibt die spätere Phase der Massenrepressionen, die Zeit des Großen Terrors, dem Carola Neher, wie viele andere deutsche Politemigranten, zum Opfer fiel: Er analysiert den Prozess der Unterjochung sowjetischer Künstler unter das Diktat des totalitären Staats und schildert eingehend die erschütternden Verfolgungsschicksale der bedeutenden Künstlerpersönlichkeiten Sergej Tretjakow und Wsewolod Meyerhold.

In einem großen, quellengesättigten Aufsatz schildert Anne Hartmann die ganze Spannbreite, wie deutsche Emigranten, zu denen auch Carola Neher zählte, das Exil in der Sowjetunion erfahren konnten, und treffend bezeichnet Christoph Hesse Carola Neher in seinem Aufsatz als "Die Unsichtbare" im deutsch-sowjetischen Filmexil: er stellt die wenigen Filmproduktionen deutscher Emigranten im vor, die in dieser Zeit, nicht selten unter widrigsten Umständen entstanden.

"Zeugin der letzten Wegstrecke" Carola Nehers durch die Lager des Gulag war ihre Mitgefangene Hilda Dutý, mit der der Theaterwissenschaftler Dr. Diezel nach deren Rückkehr in die DDR ein langes Gespräch, welches in unserem Band in voller Länge und neu kommentiert widergegeben wird. Ebenso publizieren wir erstmals in deutscher Sprache die von Peter Diezel in der Moskauer Lenin-Bibliothek kopierten, bislang nur auf Russisch in der UdSSR veröffentlichten Aufsätze Carola Nehers in der Zeitschrift „Ogonjok“ aus den Jahren 1935-36.

Doch selbst mit dieser groß aufgemachten Reihe über "Deutsche Theaterkünstler im Exil" (so der Titel der Aufsatzreihe) mit Aufsätzen Carola Nehers über Max Pallenberg, Albert Bassermann, Erwin Piscator, Ernst Busch, Alexander Granach und Max Reinhardt sowie einem abschließenden Aufsatz von Alexander Granach über Carola Neher konnte ihr erschütterndes Verfolgungsschicksal nicht abgewendet werden. Reinhard Müller gibt Einblick in die Zeit ihrer Haftjahre und veröffentlicht erstmals bislang unbekanntes Aktenmaterial aus dem Verfahren gegen Carola Neher und gegen Zenzl Mühsam, die eine Zeit lang ihre Zellengefährtin im Moskauer Butyrka-Gefängnis war.

Er analysiert darüber hinaus eingehend die passive Position, die Bertolt Brecht öffentlich gegenüber den Moskauer Schauprozessen einnahm, wobei er sich nicht mit Vermutungen zufrieden gibt, sondern nachverfolgt, welche Informationen und Quellen Brecht zugänglich waren und wie er sich über die Thematik im Meinungsstreit mit anderen Intellektuellen, im freundschaftlichen Austausch und im nicht selten widersprüchlichen Selbstgespräch auseinandersetzte.

Abschließend schreibt Irina Scherbakowa, die Georg Becker bei seiner ersten Reise zurück in die Sowjetunion begleitete, über das Schicksal der Kinder der vom Stalinismus Verfolgten.

4. MEMORIAL-Tagung im Literaturhaus
Am 5. November 2016 stellen die vier der Autoren, Klaus Völker, Anne Hartmann, Reinhard Müller und Irina Scherbakowa ihre Aufsätze auf einer Tagung im Berliner Literturhaus vor. (Beginn der Tagung 14.00 Uhr, Ende 18.00 Uhr).

5. Eine Gedenktafel für Carola Neher in Moskau im Rahmen der Initiative "Die letzte Adresse", MEMORIAL Moskau
Auf Initiative von Irina Scherbakowa (MEMORIAL Moskau) ist am 5. Februar 2017 an "der letzten Adresse" Carola Nehers in Moskau eine Gedenktafel für sie und Anatol Becker angebracht worden.

Ansprechpartnerin: Bettina Nir-Vered
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