Im Juni 2019 wurde Ojub Titiev auf Bewährung aus der Haft entlassen. Memorial hat die Vertretung in Grozny inzwischen geschlossen, da die Sicherheit der Mitarbeiter dort nicht gewährleistet werden kann, Ojub Titiev ist nach Moskau umgezogen. In zwei Interviews äußert sich Titiev ausführlich zu verschiedenen Themen wie die Zeit in Haft, Natalja Estemirova, Tschetschenien, Putin und Kadyrov. Wir bringen das Wichtigste aus beiden Interviews in Übersetzung.

 

Umzug nach Moskau

Wann sind Sie nach Moskau gezogen und wann wurden Sie aus der Lagerhaft entlassen?

Aus dem Lager wurde ich am 21. Juni entlassen. Hierher [nach Moskau] bin ich dann am 10. Juli gekommen. Ich hatte Probleme mit den Zähnen. Ich bekam Implantate und danach bin ich nach Moskau umgezogen. [Als Ojub im Januar 2018 verhaftet wurde, fuhr er gerade zum Zahnarzt, wo er eine Prothese bekommen sollte. In der Untersuchungshaft erlaubte man ihm fast einen Monat nicht, einen Zahnarzt aufzusuchen, obwohl Titiev unter Schmerzen litt und keine feste Nahrung zu sich nehmen konnte.] Hier habe ich mich zur Registrierung sofort an die entsprechenden Behörden gewandt. Und höchstwahrscheinlich muss ich mich in regelmäßigen Abständen bei der Bezirkspolizei melden.

Sie wurden auf Bewährung entlassen. Schränkt dieser Status in irgendeiner Form Ihre Arbeit als Menschenrechtsaktivist ein?

Er schränkt die Mobilität ein, ich kann nicht fahren, wohin ich will. Ich arbeite im Büro, in dem Sinne ist es eine Einschränkung. Wenn ich irgendwo hinfahren möchte, muss ich das kundtun und eine entsprechende Erlaubnis der Rechtsorgane einholen.

 

Verhaftung und Zeit in der Haft

Sie haben gesagt, dass die Verhaftung für Sie nicht unerwartet kam. Hatten Sie Drohungen irgendeiner Art erhalten?

Ich arbeite seit 17 Jahren jeden Tag. Natürlich ist es praktisch unmöglich, ständig eine Verhaftung oder ähnliches zu erwarten. Aber wir haben angenommen, dass solche Möglichkeiten bei unserer Arbeit eintreten können. Jemand, der für die Menschenrechte arbeitet, hat bei uns im Land keinerlei Schutz. In Russland meine ich, vor allem im Kaukasus.

Als Sie ins Gefängnis kamen, haben Sie dieses System von innen gesehen. Haben Sie etwas erfahren, das Sie vorher noch nicht wussten?

Selbstverständlich habe ich das, natürlich. Aber das System von innen zu untersuchen, daraus habe ich einen großen Nutzen gezogen. Ich habe praktisch ein Jahr und drei Monate in einer Zelle verbracht. Durch diese Zelle gingen neun Personen. Und ich kann mit Sicherheit sagen, dass von diesen neun lediglich drei ein Verbrechen begangen hatten. Die anderen, ich eingeschlossen, hatten nichts verbrochen. Aber keiner von den neun kam frei, alle erhielten eine Haftstrafe.

Wofür denn? Welcher Art waren die Verbrechen?

Paragraph 208, Bildung einer illegalen bewaffneten Gruppe. Und Paragraph 222 – das ist Aufbewahrung von Waffen. Aber am häufigsten kam bei denen, die durch die Zelle gingen, Paragraph 208 vor. Zwei waren wegen 222 dort, aber keiner von ihnen hatte eine Waffe auch nur in die Hand genommen.

Sind diese Leute schon draußen?

Nein, sie sitzen ein. Zwei bekamen kurze Strafen, einer ein Jahr, ein anderer anderthalb. Die anderen aber erhielten jeweils drei, ich vier Jahre Haftstrafe. Also keine kurzen Strafen, wenn man berücksichtigt, dass die Personen überhaupt kein Verbrechen begangen hatten.

Wie verhielten sich die Mitarbeiter des tschetschenischen Strafvollzugsdienstes? Waren Sie großem Druck ausgesetzt?

Man kann sagen, dass die Einstellung mir gegenüber von allem Anfang an in gewisser Weise eine negative war. Zu Beginn saß ich in Einzelhaft. Die anderen wurden dreimal täglich aus der Zelle geführt. Ich wurde auch rausgebracht, aber erst nachdem alle anderen in ihre Zellen gesperrt waren. Es wurde alles dafür getan, dass ich nicht mit anderen Personen zusammenkam, nicht mit ihnen sprechen konnte – das sagten mir die Wächter völlig offen. Jedes Mal, nachdem ich rausgeführt wurde, sogar nach den Treffen mit dem Anwalt, wurde ich vollständig durchsucht, sie untersuchten meinen ganzen Körper. Bei anderen machten sie das nicht. Die Mitarbeiter sagten mir, sie hätten den Auftrag, mich jedes Mal so gründlich zu überprüfen. Das ist natürlich eine sehr erniedrigende Prozedur, vor allem in meinem Alter.

Während Sie in Haft waren hat Ihre Familie Tschetschenien verlassen.

Ja.

Warum? Wurde Ihre Familie weiterhin bedroht, nachdem man Sie ins Gefängnis gesteckt hatte?

Am Tag der Verhaftung wurde die Straße, in der ich wohnte, abgesperrt. Bis spät am Abend standen dort Fahrzeuge, LKWs, maskierte Soldaten, bewaffnete Leute. Und kurz vor Mitternacht drangen sie in mein Haus ein und durchsuchten es. Es gab keinerlei Durchsuchungsbefehl. Sie weckten die Schlafenden und durchsuchten das Haus über eine Stunde. Sie fanden dort nichts. Am nächsten Tag wendeten sich die Polizisten an das Gericht und das Gericht rechtfertigte ihre Handlungen, obwohl sie nichts gefunden hatten. Am zweiten Tag dann schreibt der dafür befugte Polizist, der mit mir im selben Dorf wohnte und auch den Bericht am ersten Tag geschrieben hatte, einen zweiten Bericht. In diesem Dokument benennt er dann den genauen Ort, an dem ich die Drogen aufbewahre. Mit diesem Bericht wenden sich die Mitarbeiter der Polizei ans Gericht und das Gericht genehmigt ihnen eine zweite Untersuchung direkt am nächsten Tag. Es war absurd, diese zwei Berichte zu lesen. Einer ist wie der andere, der Text ist gleich. Hinzugefügt wurde nur, dass es eine neue Information gibt mit Angabe des genauen Ortes, an dem ich Drogen für den privaten Konsum aufbewahre.

Zuhause?

Zuhause, ja, im Schrank. Und das Gericht genehmigte die Durchsuchung. Meine Familie fuhr sofort weg, am zweiten Tag. Am ersten Tag, als sie mich auf die Polizeistation gebracht hatten, sagten sie mir: „Wenn du nicht gestehst, dass das deine Drogen sind, bringen wir deinen Sohn hinter Gitter.“ Danach blieb mir nichts übrig, als sie wegzuschicken.

Erzählen Sie, wie sich ihre Familie zu Ihrer Arbeit verhält. Das ist doch wirklich eine sehr riskante Arbeit.

Ich habe meine Familie darüber nicht in Kenntnis gesetzt, habe mit meiner Familie nie über meine Arbeit diskutiert. Ich habe mich all die Jahre, die ich arbeite, immer bemüht, nicht in der Öffentlichkeit zu stehen. Es gibt viele Fälle, in denen man meinen Kollegen Drogen untergeschoben hat, sie getötet hat. Sehr viele. So war es erforderlich, leise zu arbeiten, ohne Lärm, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen. Meine Familie wusste praktisch gar nicht, womit ich mich beschäftige.

Warum hat man es vorgezogen, Sie wegen Drogen ins Gefängnis zu stecken anstatt Sie zu töten?

Ich habe keine Ahnung. Mich umzubringen, wäre nicht kompliziert gewesen. Ich bin mehrmals die Woche von Grozny, wo Memorial ein Büro hatte, nach Hause aufs Land gefahren. 50 Kilometer Fahrt. Niemand hätte einen Überfall verhindert, ich fuhr allein.

Und warum hat man Sie freigelassen?

Das verstehe ich auch nicht.

Gab es aus Russland dazu vielleicht einen Wink, das zu tun?

Ich glaube nicht, dass Russland an einer Tätigkeit von Memorial in Tschetschenien interessiert ist. Umso mehr als diese Tätigkeit jetzt eingestellt und eigentlich unmöglich ist.

Hat Ihnen in Tschetschenien jemand Unterstützung entgegengebracht?

Ins Gericht kamen Dorfbewohner und machten Aussagen und es waren nicht wenige. Niemand hat mich verleumdet, obwohl andere Dorfbewohner – Mitarbeiter der Polizei – durchs Dorf liefen, auf der Suche nach einem Judas. Nach der Freilassung war, glaube ich, halb Kurtschaloj bei mir zuhause, alle kamen und brachten ihre besten Gefühle zum Ausdruck.

Wie erklären Sie sich den Paragraphen, wegen dessen Sie angeklagt wurden? Es war doch klar, dass Sie Sportler und Lehrer sind, den man sich ziemlich schwer mit Drogen vorstellen kann...

Um Glaubwürdigkeit hat sich niemand gekümmert. Sie wollten mich maximal erniedrigen. Und ein solcher Paragraph ist – vor allem für einen Menschenrechtler – besonders demütigend, obwohl das natürlich niemand geglaubt hat: Eine Demonstration: Wir können alles machen, was wir wollen. Ich verstehe tatsächlich nicht, warum sie Natalja Estemirova getötete haben, mich aber nicht. Vielleicht haben sie die Reaktion auf den Tod Nataschas gesehen und entschieden, dass es leichter ist, mich zu verleumden.

Ihnen wurde Drogenbesitz vorgeworfen. Wenn ich die Regeln für eine Bewährungsstrafe richtig verstehe, muss man seine Schuld anerkennen, um rauszukommen.

Das verstehen Sie nicht richtig. Ich habe keine Schuld eingestanden und werde sie nie eingestehen. In meinem Antrag auf vorzeitige Entlassung auf Bewährung findet sich nichts dergleichen. Bei der Freilassung wurde diese Frage überhaupt nicht gestellt. Überhaupt haben wir vor Gericht bewiesen, dass das alles absurd war. Das ist offensichtlich. Die ganze Anschuldigung ist erdacht, aus den Fingern gesogen.

 

Memorial und Tschetschenien

Ist die Entscheidung, Memorial in Grozny zu schließen, eine endgültige? Wie viele Menschen betrifft diese Entscheidung? Wie viele haben bei Ihnen gearbeitet?

Wie viele Menschen bei uns gearbeitet haben, darüber werden wir nicht sprechen, aber die Entscheidung haben die Kollegen gemeinsam mit mir getroffen. Solange es keine Sicherheitsgarantie für die Arbeit von Menschenrechtlern in Tschetschenien gibt, haben wir beschlossen, das Büro und die Vertretung zu schließen. Aber ich hoffe, dass wir in naher Zukunft die Arbeit wieder aufnehmen können.

Wie viele Menschen wandten sich an Sie? Kann man das abschätzen? Und was waren Ihre Anliegen?

Schätzen kann ich das jetzt nicht mehr, es waren in den verschiedenen Jahren unterschiedlich viele. Wenn in Tschetschenien negative Dinge geschahen - Angriffe von Kämpfern, Festnahmen, Entführungen – dann kamen mehr Menschen. Wenn es ruhig war, waren es weniger. Weniger aufgrund von Entführungen, meine ich. Wegen Hilfestellung in juristischen Angelegenheiten kamen die Leute jeden Tag. Es gab zum Beispiel Fälle, in denen ein Mensch verschwand. Die Angehörigen kommen zu mir, weil sie ihn nicht finden können. Wir nehmen das Gesuch entgegen und beginnen zu arbeiten. Dann findet man ihn, er sitzt irgendwo ein, ein Verfahren ist eingeleitet. Und die Angehörigen kommen zu mir und bitten, ihr Gesuch zurückzunehmen: „Wir haben ihn gefunden, er ist nach Hause zurückgekommen.“ Aber tatsächlich weiß ich, dass er gar nicht nach Hause zurückgekehrt ist. Die Angehörigen aber verlangen, dass wir nicht weiter arbeiten.

Warum?

Wahrscheinlich, weil man sie dazu gezwungen hat. Ich kann ihr Gesuch aber nicht zurücknehmen, weil wir schon angefangen haben zu arbeiten. Aber wir sagen den Leuten: Wir werden nicht weiter an der Sache arbeiten, machen Sie, was Sie wollen. Es gab Fälle, in denen Menschen verschwunden sind und zwei Monate nicht klar war, wo sie sich befinden. Nach unserer Einmischung wurden sie dann gefunden und kehrten tatsächlich nach Haus zurück.

In St. Petersburg und Moskau verhält sich die Staatsmacht zu Menschenrechtlern wie zu Aussätzigen, so genannten „Ausländischen Agenten“: Ihr arbeitet für Geld aus dem Westen, versucht, das Boot zum Kentern zu bringen. Welche Haltung hat man Aktivisten gegenüber in Tschetschenien? Ich meine nicht nur die Machthaber. Welche Einstellung haben die Menschen?

Eine normale. Die Leute haben nie gesagt, ihr seid Westler, der Westen füttert euch. Und daran, dass Vertreter der Regierung sich so über Menschenrechtler äußern, gibt es nichts Sonderbares. Die Regierung mag es nicht, wenn sie kritisiert wird. Die meisten Menschenrechtsorganisationen erhalten Zuschüsse aus europäischen Fonds. Bis 2011 wurden in Tschetschenien die meisten unserer Projekte durch das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge [UNHCR] finanziert. Aber 2011 sagten dann die Machthaber, dass es bei uns keine Flüchtlinge gibt, und das UNHCR musste das Land verlassen. Seither läuft die Finanzierung bei uns aus unterschiedlichen Quellen. Ich beschäftige mich damit nicht und bin nicht auf dem Laufenden, aus welchen Quellen genau, aber es gibt ausländische Fonds. Es gab eine Zeit, ich glaube nur ein Jahr, in dem wir aus dem Fond des Präsidenten finanziert wurden, danach verweigerte man uns das. Die Regierung wird uns natürlich nicht bezahlen. Irgendwoher müssen wir das Geld für unsere Mitarbeiter nehmen, die Leute müssen etwas zu essen haben und ihre Familien ernähren.

Den Machthabern gefällt es wahrscheinlich nicht, dass die Leute sich an Menschenrechtler wenden. Werden diejenigen, die ein Gesuch einreichen, bedroht?

Drohungen gab es immer, nicht nur in Tschetschenien, sondern auch in Russland, im ganzen Land. Nach meiner Verhaftung wurde das Büro [von Memorial] in Inguschetien angezündet, das Auto unseres Vertreters in Dagestan angesteckt. Der Leiter der Vertretung in Inguschetien wurde verprügelt. Es gab viele solcher Fälle, die Einstellung der Regierung ist also nicht nur in Tschetschenien eine negative, sondern überall.

Eine der Tendenzen der letzten Zeit in Tschetschenien sind ständige Entschuldigungen. Letzte Woche entschuldigte sich ein 16-jähriger Junge 46 Minuten live im Fernsehen dafür, wie er sich in den sozialen Medien über die Regierenden Tschetscheniens geäußert hatte. Wo kommt das eigentlich her?

Ich weiß es nicht, das ist nicht normal, das ist völlige Willkür. Eine Aufrechterhaltung von Angst, nichts weiter, damit die Leute Angst haben und niemand es wagt, über die Regierung zu schimpfen.

Hat man sich wegen solcher Fälle auch an Sie gewandt?

Sie wenden sich nach so etwas an niemanden, auch nicht an uns. Sie haben Angst, sind eingeschüchtert. Deshalb bemühen sie sich, alles geheim zu halten und nicht an die große Glocke zu hängen.

Wie geht das vor sich? Einer schreibt irgendetwas in den sozialen Medien und dann kommt jemand zu ihm?

Das ist eine gängige Praxis. Wenn jemand etwas in den sozialen Medien geschrieben hat und er entlarvt wird, dann holen ihn die Sicherheitskräfte, weiter wird er gefoltert, geschlagen und gezwungen, zu reden.

Machen die sich gar keine Gedanken um die Legalität? Da hat jemand was auch immer in den sozialen Medien geschrieben, dafür darf man ihn doch nicht verhaften. Die eröffnen da doch keine Verfahren?

Natürlich nicht. Keiner hat ein Auge auf die Sicherheitskräfte, nicht die Staatsanwaltschaft, nicht das Ermittlungskomitee. Die kontrollieren nicht, das interessiert keinen. Während der Mensch geschlagen wird, entschuldigt er sich. Die bloße Tatsache, dass er dort weint, sich entschuldigt und alle ihn sehen... . Aber nicht eine einzige Ermittlungsbehörde, da bin ich sicher, hat ihn auch nur befragt: Warum hast du das gemacht, wie hat man dich dazu gezwungen? Das interessiert einfach keinen.

Hat man Ihnen nach der Verhaftung nicht dasselbe vorgeschlagen?

Mit mir hat niemand gesprochen, aber selbst, wenn jemand das getan hätte: Ich habe nichts, wofür ich mich entschuldigen muss, ich habe kein Verbrechen begangen und niemanden beleidigt. Wenn sich die Leute an mich gewendet haben, habe ich gearbeitet und versucht diesen Menschen zu helfen. Das war's.

Können Sie erklären, wie die Leute auf diese öffentlichen Entschuldigungen reagieren? Wird das diskutiert?

Niemand unterstützt das, selbst die Sicherheitskräfte nicht. Aber öffentlich wird das niemals jemand sagen.

Was für einen Sinn hat Memorial in Tschetschenien jetzt noch?

Keinen Sinn, sondern eine Pflicht. Die letzte Sache, mit der wir uns beschäftigt haben, hing mit dem Verschwinden von 27 Menschen zusammen. Offenbar sind alle umgekommen. Es darf nicht sein, dass Menschen verschwinden, jemand muss nach ihnen suchen. Aber im Moment kann ich da keinen Einfluss nehmen, schon ein Büro zu mieten ist gerade unrealistisch – die Leute wollen [uns] nicht einmal zwei Zimmer vermieten.

Über Menschenrechtsarbeit

Wen würden Sie als den effektivsten Menschenrechtsaktivisten in der russischen Geschichte bezeichnen?

Wissen Sie, Effektivität ist beim Gespräch über Menschenrechte nicht ganz das richtige Wort. Menschenrechtsarbeit garantiert keine Resultate. Das Maximum, was sie erreichen kann, ist, jemanden aus Zähnen und Klauen herauszureißen und der ganzen Welt die Fakten zu verkünden. Das geschieht aber hauptsächlich deswegen, weil es Menschen gibt, die nicht schweigen können. Ihr Gewissen ist quälender als die Angst. Wenn man jemanden laufen lässt, dann nicht weil man Angst vor der Öffentlichkeit hat. Es ist für sie zu irgendeinem Zeitpunkt einfach nicht mehr von Nutzen. Wenn sie Zugeständnisse machen, dann nicht, weil sie Demonstrationen fürchten. Sie wollen der Volksmeinung einfach ihre Aufmerksamkeit demonstrieren. Kann man sagen, dass Politkovskaja effektiv war? Gelungen ist ihr nur wenig, aber sie war eine Heldin. Die größte Autorität in der Geschichte des Dissidententums ist für mich Sacharov, aber bedeutend ist nicht, was er erreicht hat, sondern der Weg, den er gegangen ist. Vom sowjetischen Akademiker, dem Schöpfer einer Bombe, zu einem Verbannten, der zwangsernährt wurde.

 

Tschetscheniens Zukunft und Vergangenheit

Ich weiß wenig über Ihre Position zum Jahr 1995. Waren Sie für die Unabhängigkeit?

Ja, ich bin auch jetzt noch für die Unabhängigkeit. Ich denke, man muss ein Volk selbst über sein Schicksal entscheiden lassen. Einigermaßen gut lebte Tschetschenien nur unter Breschnew: Im Februar 1944 wurden etwa 600.000 Tschetschenen und Inguschen nach Kasachstan und Kirgisien deportiert. Bis zum Frühling 1945 starb etwa ein Drittel von ihnen an Hunger und Krankheiten. Das ist eine sehr große Wunde für ein kleines Volk, das heilt nicht.

Aber scheint es Ihnen nicht, dass die Islamisierung der neunziger Jahre Tschetschenien geschadet hat, die weltliche Kultur und Bildung stark gelitten hat, dass man begann, mehr Moscheen zu bauen als Schulen und Universitäten?

Über eine Wiedergeburt des Islam bezüglich Tschetschenien zu sprechen, ist nicht richtig: Der Islam ist von dort nirgendwohin verschwunden. Er war immer ein Teil des Lebens und der Kultur. Derzeit bauen viele Moscheen, um ihre Loyalität oder ihren Reichtum zu demonstrieren, aber das hat mit Glauben nichts zu tun.

Was glauben Sie, war der größte Fehler des Kreml in Tschetschenien?

Nach Kriegsende hätte man freie Wahlen durchführen müssen. Man darf nicht einfach die eigenen Leute aufzwingen, auf deren Loyalität man sich verlassen kann.

Aber wir hätten nun einen islamischen Staat innerhalb der Grenzen Russlands.

Was ist denn schlecht an einem islamischen Staat? Der Islam verbietet Mord. Niemand hatte vor, mit Russland zu kämpfen, es zu überfallen: Alle hatten den Krieg satt. Und als Ergebnis wird Tschetschenien mit Hilfe des Terrors regiert. Es herrscht vollständiger Terror, ständig verschwinden Menschen, und das geschieht nicht immer auf Befehl von oben. Manchmal haben es lokale Machthaber eilig, ihre Ergebenheit zu demonstrieren. Sie ergreifen Leute, die völlig unschuldig sind. Sie schnappen, wen sie in die Finger bekommen, wer unvorsichtig genug war, Zorn auf sich zu ziehen. Nicht unbedingt die Unzufriedenen. Die Unzufriedenen sind es gewohnt zu schweigen.

Wie kann sich der nicht einfache tschetschenische Charakter mit einer solchen schamlosen Unterdrückung abfinden?

Irgendein besonderer Charakter existiert nicht. Der Nationalcharakter ist ein Mythos, weil wir alle Kinder desselben Vaters sind. Die Republik hat nur zwei zerstörerische und verheerende Kriege erlebt und es hat sich jener schwierige Charakter gebildet, von dem Sie sprechen. Dreißig Jahre ein ruhiges Leben – und Tschetschenien wird sich durch nichts von anderen Republiken unterscheiden.

Wird der Konflikt mit Inguschetien weiterbestehen?

Ich halte diesen Konflikt für einen künstlichen, weil wir ein Volk sind und dieselben Wurzeln haben.

 

Natalja Estemirova

Sie haben bei Memorial mit Natalja Estemirova zusammengearbeitet. Können Sie etwas über Ihre gemeinsame Arbeit erzählen?

Natalja Estemirova hat mich zu Memorial gebracht, so kann man es kurz sagen. Das erste Treffen fand 2001 in unserem Dorf statt, als eine solche grausame „Aufräumaktion“ durchgeführt wurde: Fünf Menschen waren getötet, hunderte junger Leute verkrüppelt worden. Und meine heutigen Kollegen kamen zu uns in den Ort nach Kurtschaloj. Damals lernten wir uns kennen. Danach kam Estemirova regelmäßig zu uns in den Ort und in die Gegend und ich holte sie ab. Damals waren die Wege gesperrt. Innerhalb eines Ortes, einer Stadt oder einer bewohnten Gegend durfte man fahren, aber um rauszufahren, brauchte man eine Genehmigung, es gab Kontrollpunkte. Und in eben diesen Fällen holte ich sie ab. Den Kontrollpunkt überquerte sie zu Fuß und dann arbeiteten wir im Dorf zusammen. Oder wenn sie in Bergdörfern arbeitete, brachte ich sie zu mir nach Hause. Sie zog sich dort solche Kleidung an, dass man sie für eine alte Frau hielt und fuhr in die Bergregionen. Da blieb sie dann zwei, drei Tage bei unseren freiwilligen Mitarbeitern, sammelte Informationen und fuhr zurück. Ich habe sie begleitet. Auf diese Weise arbeiteten wir die ersten ein, zwei Jahre. Danach, als wir dann ungehindert vom Land in die Stadt fahren konnten, arbeitete sie im Büro in Grozny und ich in Gudermes. Wir trafen uns regelmäßig.

Erkläutern Sie die „Säuberungsaktionen“ von 2001 genauer. Was war das und wer hat das gemacht?

Das ist die vollständige Durchsuchung eines bewohnten Ortes. Der ganze Ort wird eingekreist (in diesem Fall handelte es sich um 20 000 Einwohner), von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Soldaten liefen durch die Häuser und durchsuchten alles. Normalerweise hatte sie Listen bei sich, auf denen nur Vornamen standen, zum Beispiel Machmut oder Ojub oder Hassan. Jeden, bei dem im Pass einer dieser Namen stand, nahmen sie mit. Nach diesen Aktionen sind viele Menschen verschwunden.

Taten das föderale Kräfte?

Föderale, genauer das Militär.

Das waren keine Verhaftungen mit dem Ziel „befragen und freilassen“?

Was denn für eine Befragung? Sie wurden an den Ortsrand gebracht und durch den Fleischwolf gedreht. Überlebt hat, wer nichts damit zu tun hatte, von wem man keine Information bekam oder wenn man nichts gestand, dann ließen sie einen laufen. Oder wenn jemand von den Verwandten

 schon Alarm geschlagen hatte oder Menschenrechtler davon erfahren hatten, nur in diesem Fall. Aber so sind viele verschwunden. Wir haben noch keine genauen Zahlen, haben nicht die ganze Republik abgelaufen. Zwischen drei und fünftausend, das ist die Ziffer, die wir bislang haben.

Für das Jahr 2001?

Für 2000, 2001 und 2002, danach werden es etwas weniger Betroffene. Eine letztendliche Zahl haben wir nicht. Jetzt haben wir dort ja keine Vertretung mehr und man kann sagen auch überhaupt keine Informationen mehr.

Können Sie Reaktionen der tschetschenischen Öffentlichkeit auf den Mord an Natalja Estemirova beschreiben?

Als man ihren Körper aus Inguschetien überführte, trug man ihn auf einer speziellen Bahre über eine zentrale Straße. Diese Straße war zur Gänze mit Menschen ausgefüllt, die Menschen begleiteten sie und weinten.

Bei Memorial wurde gerade der zehnjährige Jahrestag der Ermordung von Natalja Estemirova begangen, vom wem ging die Initiative zu ihrer Ermordung aus?

Ich denke, wenn die Führung des Landes den politischen Willen dazu gehabt hätte, wäre der Mord auf der Stelle aufgeklärt worden. Man hätte ihn aufklären können, solange die Spuren noch heiß waren. Es gab Zeugen der Entführung, es gab Angaben zu allen ihren Kontakten. Aber unter der derzeitigen Regierung werden wir nichts erfahren.

Stellen Sie sich vor, man würde Ihnen ein Treffen mit Putin einrichten. Wonach würden Sie ihn fragen?

Nach rein gar nichts, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, worüber man auf so einem Treffen sprechen könnte. 2010, ein halbes Jahr nach dem Tod von Natascha, gab es ein Treffen mit Medvedev. Er hatte die Kontrolle über das Verfahren zu Estemirovas Ermordung übernommen, das hat nichts geändert. Und wenn es irgendwelche prinzipiellen Unterschiede zwischen 2009 und 2019 gibt, dann die, dass es damals Fragen an die Behörden gab, heute gibt es keine mehr.

 

Russland und die Ukraine

 

Was ist mit Russland und der Ukraine?

Ich habe in der Ukraine in der Armee gedient, deshalb weiß ich etwas Bescheid. Ich weiß, dass mir viele nicht zustimmen, aber mir scheint, dass Russland, die Ukraine und Weißrussland ohnehin historisch ein Volk sind, obwohl es tatsächlich besser ist, sich von dem heutigen Russland fernzuhalten. Es wäre gut, wenn diese Distanz eine politische bliebe, keine innere, kulturelle oder psychologische. Die Trennung ist künstlich. Nach Putin wird auch sie verschwinden.

Wird es Putin nicht schaffen, einen globalen Krieg zu entfesseln?

Das glaube ich nicht. Ich sage noch mehr: Ich werde das nicht zulassen.

 

Putin und Kadyrov

 

Ich möchte eine Frage stellen, die viele Menschen in und außerhalb von Russland bewegt: Welche Perspektiven hat ein Ramzan Kadyrov?

Ich sage da nichts Neues: Solange es Putin gibt, wird es Kadyrov geben. Nach Putin... . Ich glaube, Feinde hat er genug. Vor allem beim FSB, in Russland genauso wie in Tschetschenien. Unter Putin wird sich kaum etwas verändern. Aber in Tschetschenien gibt es einen Kreis ihm ergebener, treuer Leute, die die ganze Republik kontrollieren. Dieser Kreis ist vergleichsweise klein, ein bedeutender Teil der Tschetschenen unterstützt Kadyrov nicht, aber die Angst hält sie zurück.

Und welche Aussichten hat Putin?

Lebenslange Regierung. Ein Nachfolger ist unmöglich, nach einer Revolution riecht es nicht einmal, so sehr ist alles befestigt. Das bedeutet nicht, dass man den Widerstand einstellen soll. Man muss das tun, was von jedem Einzelnen abhängt: auf Demonstrationen gehen, Ermittlungen durchführen, für jedes einzelne Schicksal kämpfen. Aber rechnen muss man damit, dass niemand Macht abgeben wird.

Was für eine reale Haltung haben die Leute in Tschetschenien Ramzan Kadyrov gegenüber? Unterstützen Sie ihn oder hält sich alles nur durch Angst?

Es gibt verschiedene Einstellungen, aber niemand spricht offen darüber. In Tschetschenien waren, glaube ich, letzte Woche ausländische Journalisten. Sie sagen: Wir haben Befragungen auf den Straßen durchgeführt, die Leute gefragt, wie sie leben. Alle sagen: Wunderbar, wir leben gut. Es gibt keine Gedankenfreiheit, von Freiheit des Wortes ganz zu schweigen.

Im Moment gibt die Republik [Tschetschenien] ein ziemlich furchteinflößendes Bild ab, mir scheint, sogar Journalisten fürchten sich, dort hinzufahren, um zu arbeiten. Könnte Tschetschenien irgendeine Gefahr darstellen? Nicht die Menschen natürlich, aber könnte die tschetschenische Regierung eine Gefahr darstellen, nach dem Abtritt von Putin zum Beispiel?

Sogar unter Putin. Wenn er die Weisung ausgibt, wird es auch keine Gefahr geben. Alles hängt vom Wunsch des Kreml ab, vom Wunsch des Präsidenten höchstselbst. Alles, was in Tschetschenien vor sich geht, passiert mit Billigung des Kreml. Alles hängt davon ab, wer Putin ablöst.

Am 9. August werden es 20 Jahre, dass Vladimir Putin an der Macht ist, an diesem 9. August hat Boris Jelzin ihn zum Premierminister ernannt. Sie als Aktivist, der in Tschetschenien arbeitete, können Sie die Arbeit von Vladimir Putin zusammenfassen? Ist er ein guter Präsident oder nicht?

Für mich fand in diesen 20 Jahren der Tschetschenische Krieg statt, dieser Krieg kam in jedes Haus, jedes Haus hatte Leid zu beklagen. Dieser Krieg verschonte keine bewohnte Stelle vor Bombardierungen und vor Artillerie-Feuer. Entführte Menschen verschwanden – zwischen drei und fünftausend. Wie kann ich sagen, dass er ein guter Präsident ist? Das ist die Antwort.

 

August 2019

 

Quellen:

https://www.currenttime.tv/a/oub-titiev-interview/30093815.html
https://sobesednik.ru/dmitriy-bykov/20190806-oyub-titiev-poka-budet-putin-budet-kadyrov

Zusammenstellung und Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

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