Im Sommer 1997 war Dmitriev maßgeblich an der Entdeckung der Massengräber im Waldstück von Sandormoch beteiligt. Zu diesem Zeitpunkt waren erst 1.011 Personen bekannt, die hier erschossen worden waren. Sie waren mit einem Transport von den Solowezkij-Inseln hierher geschafft worden.

In den folgenden Jahren leistete er eine titanische Arbeit, um die Namen der übrigen hier Ermordeten herauszufinden. Dank Dmitrijews Suche in Archiven kennen wir heute die Namen aller in Sandormoch Hingerichteten. 6.241 Namen, ihr Geburtsjahr, ihren Beruf, das genaue Datum der Verhaftung, des Urteils und der Hinrichtung. Jede Hinrichtung konnte er mit Einträgen in Archivdokumenten belegen. Es gibt in ganz Russland keinen anderen, auf diesem Niveau dokumentierten Ort der Opfer staatlichen Terrors. 

Aber leider sind die Worte Dmitriev und Sandormoch nicht aus diesem Grund zu Synonymen geworden. Dies lag vielmehr daran, dass in den letzten Jahren der Versuch unternommen wurde, einerseits Jurij Dmitriev moralisch und physisch zu vernichten und andererseits die Authentizität der Grabstätten in Sandormoch in Frage zu stellen. Es ist kein Wunder, dass die Öffentlichkeit die Fälle „Dmitriev“ und „Sandormoch“ als Glieder einer Kette wahrnimmt. So ist die Version entstanden, dass Dmitriev „wegen Sandormoch eingesperrt wurde“, ja sogar, dass der „Fall Dmitriev“ die Rache der Stalinisten für seine historisch-landeskundliche Arbeit zur Wiederherstellung des Gedenkens an den Terror in Karelien sei. 

Der „Fall Dmitriev“ wurde ohne Zweifel auf Anweisung von oben in Gang gesetzt. Allerdings glaube ich nicht, dass ihn dieselben Personen losgetreten haben, die in den Medien die haltlosen und absurden Theorien darüber in die Welt setzen, dass im Waldstück Sandormoch sowjetische Kriegsgefangene liegen, die in finnischen Lagern umgekommen sein sollen. Vermutlich sind das unterschiedliche Kreise, die vielleicht sogar in verschiedenen Behörden arbeiten. Wir wissen ja bisher nicht, wer genau den Fall Dmitriev und wer Sandormoch „bestellt“ hat. Das müsste eigens untersucht werden, und sicher wird das geschehen, schließlich ist das nicht schwerer, als die Namen von über sechstausend Menschen herauszufinden, die vor mehr als achtzig Jahren ermordet wurden. 

Ich glaube nicht, dass das Verfahren gegen Dmitriev und der Fall „Sandormoch“ eine einzige geplante Operation ist. Allerdings haben beide Geschichten zweifellos einen gemeinsamen Hintergrund. Beide gehen aus einem Konflikt zwischen Gedenken und Verfälschung hervor, zwischen Person und Staat. 

Heute findet in Russland, dem „Land mit einer nicht vorhersehbaren Vergangenheit“ – das ist ein alter und bitterer Scherz – erneut ein Kampf um die Geschichte statt. Und die Frontlinie verläuft wiederum beim Hauptthema, bei der Haltung, die der Staat zum Terror einnimmt. Gegen uns wird ein hybrides Gedächtnis in Stellung gebracht, das, ebenso wie hybride Kriege, nichts anderes ist als ein schäbiger Versuch, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Aber je aufdringlicher die staatliche Propaganda ihre Ideologie verbreitet, deren Kern darin besteht, dass der Staat das Recht auf Mord hat, desto schneller wächst das öffentliche Bedürfnis nach Erinnerung und nach Aufklärung über den Terror der Sowjet-Epoche.

Dieses Bedürfnis entsteht aus Versuchen, die heutigen politischen Realitäten und die heutigen Verbrechen zu verstehen, es bildet sich aus dem gegenwärtigen Kampf gegen Folter und Gewalt und für die Freilassung von politischen Gefangenen. Das Schicksal Jurij Dmitrievs verknüpft die Geschichte mit der Gegenwart, den Terror der Vergangenheit mit den derzeitigen politischen Verfolgungen, das Gedenken an die sowjetischen Verbrechen mit dem aktuellen Kampf um Gerechtigkeit und Freiheit. Über 20 Jahre seines Lebens hat er sich der Erforschung von Terror und GULag gewidmet, er hat die Namen der Opfer zusammengetragen ihre Biographien geschrieben und ihre Grabstätten ausfindig gemacht. Er hat Tausende archivierter Untersuchungsakten studiert: Vernehmungsprotokolle, Urteile, Erschießungsakte… Er hat die Wege Tausender nachvollzogen, von Verhaftung, Foltern und Verhören bis zum Erschießungsort. Und er ist ein freier Mensch geworden. Frei zu sein – das heißt sich zu erinnern, zu wissen und zu verstehen.

 Durch seinen Kampf um die Wahrheit ist Jurij Dmitriev frei geworden. 

Das betrifft die Vergangenheit. Aber in der Gegenwart kämpft er tapfer gegen die monströsen Beschuldigungen und Fälschungen der Ermittlung, kämpft um die Freiheit, die Liebe, seine Familie. Tausende haben sich im „Fall Dmitriev“ zusammengefunden, der in unseren Tagen das bekannteste Symbol für menschliche Solidarität und den Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit geworden ist. Und wir werden die Gerechtigkeit erreichen. Weder im Hinblick auf die Vergangenheit noch auf die Gegenwart werden wir Verfälschungen zulassen. Und Jurij selbst hat diesen Kampf bereits gewonnen, unabhängig von dem bevorstehenden Urteil. 

Er hat durchgehalten und ist ein freier Mensch geblieben.

10. Juli 2020

 

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