Tatjana Gluschkova erläutert die wesentlichen Bestimmungen des geplanten Gesetzes

 

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Was ist passiert?

Die Regierung hat einen Gesetzentwurf in die Duma eingebracht, der den Behörden noch mehr Möglichkeiten gibt, NGOs zu liquidieren, die als „ausländische Agenten“ registriert sind, oder ihnen zumindest ihre Arbeit zu erschweren. Wenn der Entwurf durchkommt, werden die als „ausländische Agenten“ registrierten NGOs verpflichtet, das Justizministerium über alle geplanten Programme und Veranstaltungen zu informieren. Und das Justizministerium erhält seinerseits das Recht, die Umsetzung dieser Programme vollständig oder in Teilen zu untersagen. Wenn die NGO ein derartiges Verbot missachtet, kann das Justizministerium bei Gericht die Auflösung der NGO beantragen.

Das Gesetz betrifft alle NGOs, die im entsprechenden Register für „ausländischer Agenten“ eingetragen sind. Darunter sind z. B. die Stiftung für die Bekämpfung der Korruption (von Alexej Navalnyj), Transparency International Russland, das Menschenrechtszentrum Memorial und Memorial International.

Tatjana Gluschkova, Juristin beim Menschenrechtszentrum Memorial, erklärt bei "Meduza", welche Gefahren dieser Gesetzentwurf für die NGOs mit sich bringt.

 

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Welche Programme sollen verboten werden?

Das wissen wir nicht. Im Gesetzentwurf ist lediglich davon die Rede, dass eine Entscheidung des Justizministeriums. die die Realisierung eines Programms untersagt, „begründet“ sein muss. Mögliche Gründe werden jedoch nicht genannt.

Die Behörden können somit jede beliebige als „ausländischer Agent“ registrierte NGO vor die Wahl stellen, entweder ihre bisherige Tätigkeit aufzugeben oder aufgelöst zu werden. Die Entscheidung für jede dieser Varianten ist gleichbedeutend mit einer Zerstörung der NGO.

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Liegt die Entscheidung beim Gericht?

Ja, im Falle einer zwangsweisen Schließung einer NGO liegt das letzte Wort beim Gericht, das eine Beurteilung über die Tätigkeit der betreffenden NGO mit "Agenten-Status" abgeben muss. Wenn sie will, kann sich eine NGO auch selbst ans Gericht wenden, um das Verbot eines ihrer Programme anzufechten. Aber angesichts der Praxis in solchen Fällen sind die Chancen hier sehr ungleich: Die Gerichte stehen fast immer auf Seiten der Behörden.

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Aber die Behörden können auch jetzt schon NGOs auflösen, die als „ausländische Agenten“ registriert sind?

Ja. Aber bisher sind die Gründe, eine NGO mit „Agenten-Status“zu schließen, dieselben, wie bei einer NGO ohne diesen „Status“: z. B. wenn eine NGO eine Tätigkeit ausgeübt hat, die gesetzlich verboten ist oder nicht den Zielen ihrer Satzung entspricht, wenn sie wiederholt ihrer Rechenschaftspflicht nicht nachgekommen ist usw.

Die bekanntesten NGOs mit „Agenten-Status“, die per Gerichtsverfahren liquidiert wurden, sind „Za prava cheloveka“ (Für Menschenrechte) und „Agora“. Viele haben sich jedoch selbst aufgelöst (weil sie den Forderungen der Behörden nicht nachkommen wollten): die Assoziation „Golos“, die Organisation „Juristen für Verfassungsrechte und Freiheiten“, das „Gedenkzentrum für die Geschichte politischer Repressionen ‚Perm-36‘“, die LGBT-Organisation „Vychod“ (Coming out) und viele andere.

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Was ändert sich dann durch das geplante Gesetz? Wenn Sie sagen, dass die Gerichte ohnehin so gut wie immer auf Seiten des Justizministeriums standen?

Der Gesetzentwurf bringt eine wesentliche Verschlechterung. Wenn es um eine Tätigkeit geht, die gesetzlich verboten ist, dann ist klar, was verboten wird: Es gibt einen Gesetzeskorpus, aus dem einigermaßen klar wird, was erlaubt ist und was nicht. Jetzt hingegen wird das Justizministerium die Tätigkeit einer konkreten NGO untersuchen und entscheiden, welche Arbeit sie fortführen darf und was man ihr verbieten wird, und die Gründe für ein Verbot können ganz beliebig sein. So gibt es bei Memorial das Programm zur „Unterstützung politischer Gefangener“. Das könnte man etwa mit der Begründung verbieten, dass es in Russland offiziell keine politischen Häftlinge gibt. Und vor Gericht kann die NGO (theoretisch) nur ins Feld führen, dass sie ein bestimmtes Programm beendet hat, aber nicht die Begründung, mit der das Programm verboten wurde.

Außerdem müssten zurzeit nur die russischen Vertretungen ausländischer NGOs (z. B. Amnesty International oder Human Rights Watch) das Justizministerium über die von ihnen durchgeführten Programme informieren. Von NGOs mit dem Status des „ausländischen Agenten“ (das können nur russische Organisationen sein) verlangten die Behörden lediglich häufigere Rechenschaftsberichte und die Kennzeichnung aller Materialien mit dem Etikett „ausländischer Agent“. Gerade mit diesem Argument hatte das Verfassungsgericht das „Agentengesetz“ als verfassungsgemäß eingestuft.

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Wie hat das Verfassungsgericht konkret geurteilt?

Im April 2014 hatte das Verfassungsgericht in seinem Urteil festgehalten, dass das Gesetz für NGOs, die als „ausländische Agenten“ eingestuft werden, keinerlei Einschränkungen mit sich bringt, weder hinsichtlich ihrer Finanzierungsquellen noch im Hinblick auf ihre Tätigkeiten. Aber seitdem wurde diesen NGOs konsequent verboten, Wahlen oder Referenden zu beobachten, Kandidaten für die öffentlichen Beobachtungskommissionen (zur Kontrolle von Haftanstalten) aufzustellen und Gesetzentwürfe im Hinblick auf Korruptionsgefahr zu begutachten. Zudem wurden ihnen „gesellschaftlich nützliche Dienstleistungenuntersagt, wodurch ihr Zugang zu staatlicher Finanzierung erheblich eingeschränkt wurde.

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Es geht also nicht mehr lediglich um Rechenschaftspflichten und um die Kennzeichnung?

Nein, aber auch diese sind ein Problem. Das Gesetz verlangt von einer NGO mit „Agenten-Status“ die Kennzeichnung aller von ihr „herausgegebenen und verbreiteten“ Materialien mit dem Hinweis auf ihren Agenten-Status. Allerdings ist der Begriff „Material“ im Gesetzentwurf nicht definiert. Deshalb sind NGOs mit „Agenten-Status“ ständig der Gefahr ausgesetzt, mit einer weiteren Geldstrafe überzogen zu werden, weil sie Unterlagen nicht gekennzeichnet hatten, die bisher sie nicht als „Material“ galten. Und die Geldstrafen belaufen sich auf mindestens 300.000 Rubel.

Wie wird das in der Praxis aussehen?

In letzter Zeit ist noch das Problem der sozialen Netze hinzugekommen. Früher hat niemand verlangt, sie zu kennzeichnen, aber 2019 wurden gleich mehrere Organisationen zu Geldstrafen verurteilt, weil das „Agenten“-Label auf Seiten in den sozialen Netzen fehlte. De facto muss sich eine NGO mit „Agenten-Status“, die Geldstrafen entgehen will, von allen Seiten mit solchen Etiketten bekleben.

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Und was ist mit der Rechenschaftspflicht?

Das ist vor allem für kleine NGOs problematisch. Jede Fristversäumnis bei der Abgabe des Rechenschaftsberichts, auch wenn es sich nur um einen Tag handelt, wird mit einer Geldstrafe von mindestens 100.000 Rubeln geahndet. Das jährliche Audit, dass für „ausländische Agenten“ obligatorisch ist, ist ziemlich kostspielig. Faktisch bedeutet die Einstufung als „ausländischer Agent“ für kleine, in erster Linie regionale NGOs, dass ein Großteil ihrer ohnehin geringen Finanzmittel dafür aufgewendet werden muss, die Vorschriften dieses Gesetzes zu erfüllen.

Außerdem ist eine konstruktive Zusammenarbeit mit Vertretern des Staats für „ausländische Agenten“ äußerst schwierig. Darüber hinaus sind in den letzten Jahren mehrere ausländische Organisationen, die russische NGOs – „ausländische Agenten“ – finanziert haben, als „unerwünscht“ eingestuft worden. Damit kann jegliche Zusammenarbeit mit ihnen strafrechtliche Konsequenzen haben.

Wenn der jetzige Gesetzentwurf in Kraft tritt, werden NGOs mit „Agenten-Status“ willkürlich auch in ihren Tätigkeiten und in ihren Finanzierungsquellen eingeschränkt werden, denn das Justizministerium kann ihre Programme aus beliebigen Gründen verbieten. Damit wird die Argumentation, die das Verfassungsgericht 2014 zugunsten des NGO-Gesetzes angeführt hat, endgültig obsolet.

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Wird der Entwurf angenommen?

Davon ist auszugehen. Erstens hat ihn die russische Regierung eingebracht. Zweitens gewinnen die meisten Initiativen, die die Tätigkeit „ausländischer Agenten“ einschränken, Gesetzeskraft. Drittens zielt es eindeutig darauf ab, die Gesetzgebung in Einklang mit den jüngsten Änderungen zu bringen, die auf Verfassungsebene festlegten, dass Urteile internationaler Instanzen künftig nicht mehr verbindlich umzusetzen sind. Unter den NGOs, die der russische Staat als „ausländische Agenten“ bezeichnet, sind etliche, die sich an diese internationalen Instanzen wenden und dort Verfahren gewinnen. Deshalb verwundert es nicht, dass man sie unter totale Kontrolle stellen will.

Natürlich können NGOs nach Verabschiedung des Gesetzes beim Verfassungsgericht dagegen klagen. Aber das wird kaum irgendeinen Effekt haben.

 

November 2020

 

 

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