„Wie soll man ruhig auf diese ganzen Klobürsten schauen, wenn man überhaupt keine Perspektive hat?“

 

Seit der Verhaftung von Alexej Navalnyj kam es bei Protesten in ganz Russland laut Angaben von OVD-Info mittlerweile zu mehr als 11.000 Verhaftungen, dabei sind Gewalt und Willkür an der Tagesordnung. Am 23. Januar fand in Sevastopol auf der Krim die erste Demonstration gegen Präsident Putin seit der Annexion der Krim statt. Dabei wurden unter anderem der 30-jährige, in Sevastopol gebürtige Musiklehrer und DJ Maksim Rozum verhaftet sowie eine Frau namens Dina (Name geändert). Beide erzählen ihre Geschichte nach der Freilassung aus der Haft. Nadezhda Isaeva hat sie in der "Novaja Gazeta" veröffentlicht. Wir bringen ihre Berichte leicht gekürzt in deutscher Übersetzung.

 

Maksim

 

Ich ging gar nicht so sehr auf die Straße, um Navalnyj zu unterstützen. Ich wollte vielmehr gegen das ungesetzliche Verhalten der Behörden protestieren und außerdem einfach mit Leuten reden. Ich liebe meine Stadt sehr und bin bereit, für sie zu kämpfen. Ich habe zig kritische Fragen an die föderalen und die örtlichen Beamten. Wenn wir über Russland als Ganzes sprechen - in Gerichtsverfahren gibt es nur ein Prozent Freisprüche, wir haben politische Gefangene, die Gesetze werden laufend verschärft.

Und dabei verstoßen die Behörden selbst gegen die Gesetze. Die Rentenreform, ständig steigende Steuern, Verfassungsänderungen, eine Masse käuflicher Medien und keine Meinungsfreiheit. Ich kann jetzt gar nicht alles aufzählen. Zur Ökologie: Aus dem Baikalsee wird Wasser abgepumpt und in Sibirien holzt man den Wald ab und transportiert ihn nach China. Allein im letzten Jahr gab es ökologische Katastrophen in Norilsk und auf Kamtschatka. Und niemand hat dafür die Verantwortung übernommen!

Bei uns in Balaklava, einem Stadtteil von Sevastopol, ist die ganze Bucht verschmutzt, dort schwimmen tote Fische und Delphine. Und niemand ist bereit, die Verantwortung zu übernehmen! In Sevastopol steigt die Arbeitslosigkeit ständig an, die meisten Menschen haben ein armseliges Gehalt. Meine Mutter arbeitet im Krankenhaus und verdient weniger als 20.000 Rubel [ca. 220 Euro]. Kann man davon etwa normal leben? Die Beamten bekommen zwischen 300 und 400 Tausend im Monat und die normalen Menschen kommen kaum über die Runden.

In den letzten sieben Jahren hat sich die Einstellung zum Präsidenten und den russischen Machthabern in Sevastopol extrem verschlechtert.Die Menschen hatten gedacht, Papa Putin würde alles richten. Er tut alles, damit Russland wie eine starke Militärmacht wirkt, mit Atomwaffen und allem. Aber an das Volk denkt niemand.

Nehmen wir den Gouverneur von Sevastpol Razvoshaev: Da gibt es nichts in seiner Arbeit, wozu man sagen kann: Respekt! Demonstriert habe ich auch deshalb, weil die Gouverneure von Sevastopol, die Moskau geschickt hat, ihre Arbeit nicht machen.

Freiheit für Navalnyj: Das ist für die Menschen der Impuls, nicht weiter mehr hinzunehmen, was sie früher akzeptiert haben. Ich bin auf den Nachimov Platz gegangen, um meine Meinung zu sagen und zu diskutieren, ich habe keine Losungen geschrien, an keinem Reigen teilgenommen, kein Plakat getragen und jetzt schreibt man mir die Organisation einer Demonstration zu.

Auf dem Platz waren Provokateure, sie zerrissen Plakate, zerrten die Leute an den Armen, versuchten ins Gespräch zu kommen, um an Informationen zu kommen.

Die Behörden haben mich für etwas verhaftet, das ich nicht getan habe und  mich auf Grund von Aussagen eines Zeugen zu sieben Tagen Haft verurteilt. Da war so ein Polizistenhelfer, der vor Gericht als Zeuge auch gegen andere Jungs auftrat. Sie brachten mich in eine Strafanstalt. Erst befragten mich die Polizisten, dann führten sie mich zur medizinischen Untersuchung. Die Krankenschwester fragte mich: „Bist du für Navalnyj? Bist wohl zugedröhnt oder was?“ Ich fragte sie, wie viel sie verdient. Sie antwortete: „Das fragen Sie besser nicht.“ Ich sagte ihr, dass ich genau deswegen auf die Demonstration gegangen bin.

In der Haftanstalt ließen sie mich zwei Tage ohne Essen und ohne Wasser. Am Tag nach der Verhaftung verhörte mich ein Mann in Zivil, der sich trotz meiner Bitte nicht auswies. Ich beantwortete Frage um Frage und fragte sie dann, ob denn ihnen alles passt im Land. Sie schwiegen und ließen dann ziemlich schnell von den Verhören ab.

Die Jüngeren verhörten sie auf eine Weise, dass die danach ganz bleich waren vor Angst. Sie kamen nach dem Verhör völlig blaß in die Zelle zurück, legten sich hin und antworteten auf nichts mehr. Einige fingen an zu rauchen, obwohl sie bis dahin überhaupt nie geraucht hatten. Es ist klar, dass man sie unter Druck gesetzt hatte. Ich bin dreißig Jahre alt, mir zuzusetzen ist schwieriger. Die Jungen haben noch keine klare Position. Sie schauen sich Filme an und denken, man muss nur auf die Straße gehen und die Regierung verändert sich.

Mir wurde als einem der letzten der Prozess gemacht. Vor der Urteilsverkündung entfernte sich der Richter Andrej Gratschev ins Beratungszimmer und kam nach ein paar Minuten mit der schon ausgedruckten Entscheidung zurück. Zwei Tage nach der Verhandlung wurde ich wieder zum Verhör geholt. Vermutlich von einem FSBler, er stellte sich ebenso wie die anderen nicht vor. Er fragte, ob ich von hier sei oder nicht und schlug mir vor, nach Odessa zu gehen, wenn es mir in Russland nicht gefalle. Ich sagte ihm, dass ich hier geboren sei und meine Stadt liebe und weiter für sie einstehen werde.

 

Dina (Name geändert)

 

Ich bin in Sevastopol geboren, wohne, arbeite und bezahle hier Steuern. Ich war noch niemals in gesetzeswidrige Handlungen verwickelt. Ich habe das zweite Mal im Leben eine von Navalnyjs Recherchen gesehen. Die erste war „Für Sie ist er nicht Dimon“. Ich interessiere mich nicht besonders für Politik, weiß dass Navalnyj ein Oppositioneller ist, eine Frau hat, die Julija heißt und keine üblen Recherchen macht.

Nachdem ich das Video über Putins Palast gesehen hatte, war ich ausgesprochen wütend und habe wahrscheinlich endgültig das Vertrauen in den Präsidenten verloren. Ich denke nicht, dass ich für das ganze Land beurteilen kann, was wie geändert werden muss. In Sevastopol wird einerseits in Bezug auf Urbanismus viel getan: Parks, Straßen. Andererseits  für das Geld, das aus Moskau kommt, könnte man noch mehr tun. Ich habe in einer staatlichen Behörde gearbeitet und einige Budgets und Kostenpläne gesehen. Aber was dabei tatsächlich herauskommt? In sechs Jahren hat man nicht mal eine Mülltrennung organisiert, das Wasserproblem nicht gelöst. Zur Zeit des „Krimfrühlings“ war ich ein Teenager. Wir hörten damals auf unsere Eltern und dachten, dass alles richtig sei, dass es keinen Krieg geben werde. Wir dachten, Sevastopol würde sich zu einer Stadt von föderaler Bedeutung entwickeln. (…)

Jetzt haben wir nicht einmal normale Banken. Ich bekomme weniger als 20 000 im Monat, aber die Preise sind sehr hoch. Ich möchte normale Preise und wenigstens ein angemessenes Gehalt. Wie soll man ruhig auf diese ganzen Klobürsten schauen, wenn man hier überhaupt keine Perspektive hat?

Ja, wir haben Losungen gerufen, Reigen getanzt, am Schluss haben wir auch noch gerufen: „Putin - Artikel 158“ (Diebstahl, Veruntreuung großen Stils). Es waren viele Provokateure dort, besonders einer stach hervor, der riss Plakate weg.

Dann kam es zu der verhängnisvollen Aufforderung: „Mitkommen“. Man stellte mir keinen Anwalt, sie sagten, es gäbe Aussagen mehrerer Zeugen, ich hätte „Freiheit für Navalnyj“ geschrien und deswegen müsse ich das Protokoll wegen Teilnahme und Organisation einer Demonstration unterschreiben. Ich unterschrieb, weil ich dachte, dann kämen wir schneller frei, aber ich wurde verhaftet.

Das Unangenehmste war die Untersuchungshaft, wir wurden zu Verhören gezerrt, sie sagten, wir seien alle dumme Kinder und wüssten nicht, was wir täten, dass Putin überhaupt klasse sei und Navalnyj ein Verräter. Und das sagte jeder Polizist. Einige sagten, eure Eltern werden Probleme auf der Arbeit bekommen. Es kamen Personen ohne Uniform, machten Fotos, stellten Fragen. Und keiner stellte sich vor. Wir bekamen nichts zu essen, gut, dass ich einen kleinen Imbiss dabei hatte.

Als ich dann verurteilt war, wurde es besser (…): Wir schliefen, aßen, lasen Bücher, man ließ uns zum Spaziergang auf den Hof. Niemand beleidigte uns. Ich dachte schon, das war's, aber am letzten Tag riefen sie mich zum Verhör, brachten mich in irgendeinen Keller. Dort war ein eiserner Käfig, da setzten sie mich hinein und einige Leute in Zivil befragten mich. Ich glaube, die waren vom Zentrum E (Extremismus), der Kriminalpolizei und vom FSB. Sie bemühten sich alle der Reihe nach mir zu sagen, dass Navalnyj ein Stück Scheiße sei, Putin den Palast nicht für sich, sondern für das Volk gebaut habe und dass er Staatseigentum sei und wenn ich Präsident werden würde, auch da leben könnte. Sie fragen mich, was ich über Navalnyj und die Verfassung wüsste und sagten, dass alle diese Verfassungsänderungen zu unserem Nutzen seien. Anfangs versuchten sie, mich zu belehren, aber dann fragten sie nach dem Organisator. Zeigten mir Zettel aus dem Chat „Freies Sevastopol“ und sagten, die hätten Auszüge von jedem Sie sagten, ich solle meine Freunde verraten.

Als sie anfingen mich unter Druck zu setzen, begann ich zu weinen. „Dich wird man rausschmeißen, deiner Mutter kündigen, willst du etwa, dass sie keine Arbeit mehr hat und keine Pension? Wer soll euch ernähren?“ Sie drohten mit der Familie und fragten dann nach meinen Freunden. Zuvor hatte ich FSBler nur in Filmen gesehen.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

2. Februar/9. Februar 2021

 

 

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