Spritzen mit Wodka sterilisieren und Splitter im Rücken finden – Wie ist es, Arzt in einem Luftschutzbunker zu sein?

 

Denys Volocha

Die 31-jährige Anna Schevtschyk arbeitete in einer Entbindungsklinik in Mariupol. Während des Krieges musste sie einen Monat in einem Luftschutzbunker unter einer Süßwarenfabrik verbringen. Ihre Erzählung unterscheidet sich von anderen Geschichten des Lebens unter den Bedingungen der kriegerischen Handlungen durch eine Vielzahl medizinischer Details und macht deutlich, mit welchen Beschwernissen die Menschen konfrontiert sind, die dauerhaft in einem Bunker leben, und wie man ihnen helfen kann, wenn Ausrüstung und Medikamente fehlen.

(Zum Video -> https://www.youtube.com/watch?v=OZP5UzormtQ)

 

Vektorbilder, Depositphotos, Grafik: KHPG

 

Vom ersten Tag an war klar, dass ich der einzige Arzt in dem Bunker war. Deswegen war ich dort mit Gold nicht aufzuwiegen. Jeden Tag riss man mich aufs Neue auseinander. Bei jeder Gelegenheit. Ich bat die Männer, Medikamente zu besorgen. Man brachte uns Arzneimittel, die in zerstörten Apotheken zurückgeblieben waren. Einige Medikamente brachten uns ukrainische Soldaten, womit sie uns sehr halfen. Ich richtete mir einen improvisierten Schrank ein, in dem ich die Medikamente in Gruppen einteilte. Um helfen zu können. Schließlich brachte man mir ein Tonometer und ein Stethoskop, das schlecht war, aber immerhin etwas. Die Menschen wurden krank. Sehr schwer, und in großer Zahl. Eine Frau hatte eine hypertonische Krise und ich musste sie im Luftschutzbunker an den Tropf hängen. Glücklicherweise gab es ein System und Magnesium. Darminfektionen begannen sich auszubreiten. Es fing mit einem vier Monate alten Kind an, Jegorky, das Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall und Fieber bekam. Wir versuchten, Flüssigkeit zuzuführen und mit anderen Methoden zu helfen. Dann verstand ich, dass wir in dieser Situation nicht ohne Antibiotikum auskommen. Eine Darminfektion ist so tückisch, dass jegliches Antibiotikum, das man einem Kind oder Erwachsenen durch den Mund verabreicht, wieder herauskommt.

Wir brauchten injizierbare Formen, es musste also gespritzt werden. Schließlich stand ich vor dem Problem, dass wir injizierbares Antibiotikum hatten, aber praktisch keine Spritzen mehr. 10ml Spritzen hatten wir, aber 2ml Spritzen nur sehr wenige. Alle wurden krank, hatten dieselben Symptome und eine schreckliche Schwäche, die sich durch nichts beseitigen ließ.

Es mussten Spritzen verabreicht werden und ich musste die Spritzen sterilisieren. Einwegspritzen. Das war ein Auswaschen unter irgendeinem Wasser, das wir fanden: Regenwasser oder Schnee. Und danach begossen wir die Spritzen mit Wodka, um sie wenigstens irgendwie zu sterilisieren, damit wir den Leuten helfen könnten. Bei uns war ein autistischer Junge, der Krampfanfälle hatte. Und wir hatten keine Medikamente, um ihm zu helfen. Er hatte auch eine Darminfektion, Gott sei Dank überwand er sie und wurde wieder gesund. Aber dieser viermonatige Junge, er hatte sehr besorgte Eltern, die wollten, dass es ihm auf der Stelle wieder besser geht. Er war natürlich schwach und sehr kapriziös. Nebenan war das „Krankenhaus Nr. 3. – Kinderstädtchen“, in dem eine Entbindungsstation war, von der inzwischen alle wissen.

Am 9. März warf ein Flugzeug der russischen Armee eine Bombe auf die Entbindungsklinik im Zentrum von Mariupol.

Ich sagte ihnen, dass sie dorthin gehen sollten. Möglicherweise könnte er dort eine Infusion bekommen und beaufsichtigt werden, denn ich hatte keine Nadeln, die klein genug waren, ein so kleines Kind zu spritzen.

Der Papa sagte: „Gut, fahren wir, Anja. Wir suchen uns ein Auto, fahren los, gehen zur Sprechstunde und kommen dann zurück.“

Sie fuhren weg und am nächsten Tag wurde dieses Krankenhaus angegriffen. Alle wissen, dass es dort viele Opfer gab. Die Entbindungsstation wurde zerstört. Die somatische Kinderstation wurde zerstört. In diesem Moment setzte ich mich hin und dachte: „Oh mein Gott, ich habe Menschen in den Tod geschickt.“ Ich hatte große Angst, denn in dem Luftschutzbunker waren alle schon wie eine Familie. Man kannte jeden, man kannte die ganze Familie, ihr Schicksal. Wer wo wohnt – sogar in welchem Haus. Von allem anderen ganz zu schweigen. Aber, Gott sei Dank, überlebten sie, alles war gut bei ihnen. Sie kamen zu uns zurück. Zu Fuß: Und Ira, Jegorkys Mama, fiel sofort in Ohnmacht und ich begann, sie mit Ammoniak wieder zu Bewusstsein zu bringen. Sie öffnete die Augen und das erste, was sie sagte, war: „Hast du jemals schwangere Frauen gesehen, die einen Arm oder ein Bein verloren haben?“ Sie sagte: „Anja, du kannst dir nicht vorstellen, was dort los ist. Da liegen tote Kinder herum. Es ist schrecklich.“

Wie oft schon denke ich an all das, aber ich kann dabei nicht ruhig bleiben, ohne zu weinen (Sie wischt sich die Tränen mit einem Tuch ab).

Dann wurden die älteren Kinder krank, so ein anderthalbjähriges Kind. Es musste ebenfalls Spritzen bekommen. Weil die Temperatur nicht runterging. Seit einer Woche ging es ihm nicht besser. Ich fand bei mir Analgin mit Dimedrol, die einzige Ampulle, die ich hatte und spritzte sie ihm auf mein eigenes Risiko. Seine Temperatur sank, aber am nächsten Tag bekam mein Sohn hohes Fieber. Und am folgenden Tag mein Neffe. Ich verstand, dass ich ein Kind zum Schaden eines anderen rettete. Dann begriff ich, dass ich bei meinem Sohn das Fieber senken musste, aber ich hatte nichts mehr dafür. Nichts eben. Das ist Krieg und man muss irgendwie mit dem auskommen, was man hat. Gott sei es gedankt, dass wir Antibiotikum hatten und dass ich einen Rucksack mit Medikamenten eingepackt hatte, die ich zuhause hatte und die ich dann in der Apotheke kaufen konnte. Und ich konnte meinen Kindern, dem Neffen und dem Sohn helfen; und auch anderen Kindern.

Dann wurden auch die Erwachsenen krank. Die Medikamente begannen zur Neige zu gehen, und ich musste auswählen, wem ich welche geben kann und wem nicht. Und ich traf für mich die Entscheidung, wie zu allen Kriegszeiten: Den Jüngeren und den Kindern gebe ich Medikamente, aber den Alten nicht, weil sie dann nicht für die jungen Menschen reichen werden.

Und die Menschen begannen zu sterben. An einem Tag starben bei uns zwei ältere Männer. Dem einen fehlte ein Arm, der andere war ein ganz normaler alter Mann. Sie waren beide alleinstehend, ganz für sich. Familien hatten sie keine oder sie waren woanders, nicht bei ihnen. Sie waren nicht gesprächig.

Es gab sehr starken Beschuss und alles herum brannte: alle Geschäfte rundherum, der zentrale Markt. Auch unsere Fabrik wurde beschossen, es gab dort schon kein Glas mehr und so weiter. Es war unmöglich, die Menschen zu beerdigen. Sie wurden einfach auf die Straße hinausgetragen und in einiger Entfernung hingelegt. Denn es gab keine Möglichkeit, sie zu begraben.

Dann erfuhren wir von unseren Freunden, dass ihr Haus stark beschossen wurde. Sie wurden getroffen und der ganze Hof brannte ab. Mein Bruder schickte Bekannte mit einem Auto, um hinzufahren und sie dort wegzuholen. Sie brachten die ganze Familie. Zwei Familien: Alina mit Ehemann und Sohn und die andere Familie, Oleksij, Ljera und ihr kleines Söhnchen. Ihre Mutter brachten sie ebenfalls, Ljubov.

An diesem Tag fragte Ljera: „Anja, kannst du mal schauen? Sie (Ljubov) klagt über ihr Bein.“

Ich sah, dass sich an ihrer Ferse ein sehr großes diabetisches Fußsyndrom gebildet hatte. Sie hatte ein riesiges Geschwür, dass schlecht mit Blut versorgt wurde. Sie hatte sehr hohen Blutdruck, fühlte sich sehr schlecht und konnte kaum gehen. Ich begann, sie auszufragen. Warum das nicht entdeckt wurde. Sie begann zu erzählen, dass sie vor kurzem Covid überstanden hatte, lange im Krankenhaus war. Sie hatte Diabetes, Bluthochdruck und weitere Begleiterkrankungen.

Das einzige, was ich anbieten konnte, war, das abgestorbene Gewebe zu entfernen, dass sich an der Ferse gebildet hatte, um den Prozess ein wenig zu stoppen.

Ich sagte: „Sie müssen verstehen und sich darauf einstellen, dass ich unter den derzeitigen Umständen nicht sagen kann, ob sie überlebt.“

Ich entfernte das tote Gewebe. Es ging ihr ein bisschen besser. Vom nächsten Tag an ging es ihr dann immer schlechter. Sie wurde zusehends schwächer. Wir legten sie hin, bedeckten sie mit improvisierten Vorhängen, mit Stoff, den jemand gefunden hatte, und Bettlaken.

Ich ging einfach von Zeit zu Zeit zu ihr und beobachtete, was mit ihr passiert. Ljera und Alina, den Töchtern, sagte ich, dass ich ihr die Schmerzen nehmen kann – ich hatte starke Schmerzmittel in meiner Apotheke.

„Aber ihr müsst verstehen, dass wir das nicht auf Dauer machen können. Früher oder später wird sie gehen.“

Ich spritzte ihr Schmerzmittel, es ging ihr besser, sie schlief gut die ganze Nacht. Dann fand ich über die Soldaten Diclofenac in Ampullen und begann, ihr das ebenfalls zu geben.

Alina sagte dann, sie würde die Spritzen nachts selber geben, um mich nicht zu wecken. Denn ich schlief jede Nacht schlecht, weil ständig jemand was von mir wollte. Aber eigentlich war das auch gut. Denn das hat mir viele Momente leichter gemacht, weil ich gebraucht wurde, ich war wichtig. Alles lief so dynamisch: Es gab keine Zeit zu verschnaufen und sich zu bemitleiden. Man konnte nur deswegen jemanden bemitleiden, weil es einen gewissen moralischen Beistand gab.

Nach anderthalb Wochen ging es Ljuba dann ganz schlecht. Ich ging zu ihnen und sagte, dass ich sie an den Tropf hängen und noch etwas am Leben halten könnte. Aber sollten wir das tun, wenn wir doch sowieso wissen, dass sie geht? Wir würden dann wieder Medikamente verschwenden, die andere Menschen bräuchten, die mit Verletzungen kommen und die man noch retten kann. Ljera und Alina verstanden mich. Sie sagten, dass sie mich vollständig unterstützen und begreifen würden, was ich meine. Wir würden einfach warten. Nach anderthalb Woche rief Ljera mich, fragte, ob sie noch atmen würde. Ich setzte mich eine Zeitlang zu ihr und dann starb sie.

So wie bei Toten üblich, banden wir den Kiefer und die Arme zusammen. Ljera und Alina fragten mich, wie man das macht. Ich hatte keine Erfahrung damit, aber ich wusste das alles, weil ich vor kurzem meine Großmutter beerdigt hatte. Ich bat die Männer im Luftschutzbunker flehentlich, eine Grube zu graben, wenn am Morgen etwas Ruhe sein würde, denn das waren Freunde meiner Mutter. Sie bekamen das hin, Alina und Ljera nahmen Abschied von ihrer Mutter, und so wurde sie neben dem Bunker auch begraben. Es fand sich sogar ein Gebetbuch, um eine Totenmesse für sie zu lesen.

Ich hatte zwei Schwangere: eine in der 34. Woche, die andere in der 36. Und eine bekam eine schwere Vergiftung, auch eine Darminfektion. Sie hatte 42 Grad Fieber, das nicht sinken wollte. Ich hatte große Angst, dass sie dort gebären würde. Ich bin zwar Neonatologin und Kinderärztin. Ja, ich weiß vieles, habe viel gelernt, aber noch keine Kinder zur Welt gebracht. Diese Erfahrung fehlte mir noch. Und Gott behüte, dass etwas passieren würde, und wir hätten nichts da.

Ich bat einen jungen Freiwilligen, die Soldaten zu fragen, ob sie irgendwelche Instrumente hätten – Klemmen, Nadeln, Nähzeug. Ich bat um Windeln, Oxytocin, blutstillende Mittel – alles, was man gebrauchen konnte. Gott sei Dank erholten sich die Frauen: Die Vergiftung verschwand, das Fieber ging zurück. Dann konnten ihre Männer und noch ein junger Mann sie mitnehmen und aus der Stadt fahren. Wir wissen nicht einmal, ob sie angekommen sind, ob sie unversehrt sind, ob sie aus der Stadt rauskommen konnten. Jeder tat das auf eigenes Risiko.

Wir hatten natürlich kein Auto. Wir verstanden, dass wir lange dort sein würden. Wir verbrachten einen Monat in dem Luftschutzbunker. Jedes Mal, wenn Menschen wegfuhren und die Leute im Bunker immer weniger und weniger wurden, bekamen wir große Angst, weil wir begriffen, dass wir für wer weiß wie lange hier bleiben würden. Es war nicht klar, ob uns Essen und Wasser reichen würde, ob es regnen würde und so weiter.

„Und dann kamen die Russen.“

Als unsere Ukrainer da waren, war es irgendwie ruhiger. Man wusste, dass unsere Soldaten uns beschützen, dass alles gut wird. Dann kamen die Russen, zerstörten das Schauspielhaus, in dem sich auch viele Menschen befanden. Dort waren mehr als 800 Menschen. Die Hälfte von ihnen kam zu uns, fragte nach irgendetwas zu essen, als der Laden noch geöffnet war.

Dann wurde das Schauspielhaus zerstört und sehr viele starben dort, einige kamen zu uns in den Bunker – in den Keller nebenan. Das war furchtbar mitanzusehen. Wir hatten uns hier schon irgendwie an den Beschuss gewöhnt. Aber wir hatten nicht so viele Verletzte und nicht so viel Leid. Aber sie hatten sehr viel Leid gesehen. Sie kamen mit Verletzten. Natürlich ging jeder durch meine Hände.

Eine Frau war dabei, die durch eine Daunenjacke gerettet wurde. Sie hatte eine sehr dicke schwarze Daunenjacke an und ein Granatsplitter war am Rücken in der Daunenjacke steckengeblieben. Ein anderer war seitlich eingedrungen und steckte in der Wirbelsäule fest. Sie kommt und sagt: „Der Feldchirurg hat uns untersucht und gesagt, da sei kein Splitter.“

Ich beginne nachzuschauen, da war eine riesige Wunde, aus der Eiter floss. Ich behandelte die Stelle, tastete sie ab.

„Du hast da einen Splitter im Rücken.“

„Nein, der Arzt hat ‚Nein' gesagt.“

„Kann sein, dass der Arzt das gesagt hat, aber er ist da.“

„Und was soll ich jetzt machen?“

„Weniger bewegen. Wenn sich der Splitter verschiebt, ist es unmöglich, ihn herauszuholen, weil man etwas verletzten könnte, und du könntest gelähmt werden. Deshalb musst du liegen und hoffen, dass der Organismus ihn als Teil von sich akzeptiert, Bindegewebe darüber bildet und es heilt. Das Wichtigste ist die Behandlung.“

Und es heilte alles sehr gut bei ihr. Ihr Mann fand übrigens einen Metalldetektor, ging damit über ihren Rücken und es stellte sich heraus, dass da wirklich ein Splitter saß. Tja, die Feldchirurgen sahen ihn nicht, aber eine 30-jährige Kinderärztin konnte erkennen, dass er da war. 

 

Ein Video-Interview mit Anna Schevtschyk finden Sie hier.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

26. Januar 2023

 

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