Stimmen des Krieges: „Mein Mann und mein Sohn wurden bei einem Luftangriff verletzt.“

 

Oleksandr Vasyljev

Iryna Olijnyk hatte nicht mit einem Krieg, der die gesamte Ukraine erfassen würde, und schaffte es nicht, sich rechtzeitig aus Borodjanka evakuieren zu lassen. Am ersten März setzten Luftangriffe ein. Bei einem Angriff wurden ihr Mann und ihr zweijähriger Sohn verletzt. Ihre Wohnung ist zerstört. Aber Iryna möchte weiter in Borodjanka leben und hofft darauf, Geld für eine neue Wohnung verdienen zu können.

 

Ich heiße Iryna Petrivna Olijnyk, ich bin 49 Jahre alt. Ich wohne in Borodjanka im Gebiet Kyjiv. Vor dem Krieg war ich in Mutterschutz, mein Kind ist zweieinhalb Jahre alt.

 
Iryna Olijnyk, Borodjanka

 

Wie war der erste Tag der flächendeckenden Invasion Russlands für Sie?

Ich habe es nicht sofort erfahren. Ich hatte den Fernseher nicht eingeschaltet, weil ich mit meinem Kind beschäftigt war, ich hatte keine Nachrichten gesehen. Aber dann sagte mir meine Mutter, dass der Krieg angefangen hat. Aber ich hätte nicht gedacht, dass er die ganze Ukraine erfassen würde. Aus irgendeinem Grund hatte ich keine Angst. Am dritten Tag des Krieges als russische Panzer in Borodjanka auftauchten, hatte ich auch keine Angst, obwohl ich sie von meinem Balkon aus sehen konnte. Aber da wusste ich noch nicht, was echte Angst ist, Angst um ein Kind. Das echte Grauen begann am 1. März.

Was geschah am 1. März?

Am Abend vorher fuhren die ganze Nacht russische Panzer. Wir konnten nirgendwo hin. Sie fuhren und schossen, beschossen absichtlich Häuser, zielten auf die Fenster. Ich verabredete mit einer Freundin, die am anderen Ende von Borodjanka wohnt, dass sie uns Unterschlupf gewährt. Aber wir trauten uns nicht, unter dem Beschuss aus dem Haus zu gehen. Wir waren sehr erschrocken. Ich dachte, am Morgen würde der Beschuss vielleicht nachlassen und dann könnten wir los. Aber das klappte nicht. Wir wurden ausgebombt. Am 1. März tagsüber, als ich mit meinem Sohn spazieren ging, flogen Hubschrauber und Flugzeuge. Viele Häuser um uns herum waren schon zerbombt. Ein Bekannter von uns bot uns an, bei ihm zu wohnen, aber wir lehnten ab.

Abends gingen wir in die Wohnung, aßen etwas und brachten Jegor ins Bett. Um 18:00 Uhr gingen wir runter in den Keller. Wir saßen dort und warteten, dass die Panzer vorbeifuhren, dann hörten wir Stille. Keine Flugzeuge, keine Panzer. Meine Mutter ging, um etwas zu essen zu machen. Nach zwanzig, dreißig Minuten hörten wir eine gewaltige Explosion, dann wieder eine Explosion, danach noch eine. Mein Sohn und mein Mann wurden schwer verletzt. Irgendein Mann von der Territorialverteidigung kam herbeigelaufen und brachte uns ins Krankenhaus. Ich erinnere mich, dass uns um 22:00 Uhr ein Arzt untersuchte.

Was für Verletzungen erlitten Ihr Mann und Ihr Kind?

Mein Sohn hatte eine Schädel-Hirn-Verletzung, ich fand ihn bewusstlos, auf dem Weg ins Krankenhaus verlor er ständig das Bewusstsein … . In den nächsten drei Monaten während der Evakuierung wurde ihm permanent übel. Allein der Anblick von Essen ekelte ihn. Aber als wir nach Borodjanka zurückkehrten, bekam Jegor wieder Appetit. Mein Mann hatte vier gebrochene Rippen, und die Lunge war durchstoßen.

Wie kam es zu den Verletzungen bei Ihrem Mann und Ihrem Sohn?

Wir kamen gerade aus dem Keller und waren am Eingang, als die Explosion ertönte. Alle, die im Keller waren, blieben unverletzt. Wir waren in den Eingangsbereich gegangen, weil wir dachten, dass keine weiteren Schläge mehr kommen würden. Wären wir zur Tür hinausgegangen, würden wir nicht mehr leben. Noch zwei, drei Schritte und das wär's gewesen … . Es heißt im Nachbarhaus sind zehn Menschen umgekommen. Als ich nach draußen trat, sah ich, dass die Hälfte des Nachbarhauses nicht mehr da war. Dass es dort Opfer gegeben hatte, erfuhr ich später.

 


Zerstörtes Haus in Borodjanka


Wie schafften Sie es zum Krankenhaus, nachdem Ihr Mann und Ihr Sohn verletzt worden waren?

Wir gingen zu Fuß, durch die Höfe. Im Krankenhaus erhielten wir medizinische Hilfe und übernachteten dort im Keller. Am 2. März begann die Evakuierung, wir wurden fast als Letzte evakuiert.

Wie genau wurden Sie evakuiert?

Morgens verließen wir den Keller des Krankenhauses, auf der Straße standen Busse. Wir hatten nicht einmal Kleidung dabei: Was wir am Leibe trugen, damit fuhren wir los. Der Fahrer des Kleinbusses sagte, wir sollten schnell einsteigen, weil es am Abend schon keine Evakuierungen mehr geben würde. Zuerst fuhren sie uns ins Dorf Saralzi im Kreis Borodjanka. Da bekamen wir zu essen, man gab uns Kleidung, weil es die Sachen meines Sohnes in Fetzen gerissen hatte. Dann fuhr man uns ins Dorf Piskivka, das ist im Kreis Butscha. Da waren wir zwei Tage und übernachteten in der Schule. Dann fuhren wir nach Horodnyzja im Gebiet Zhytomyr.

Wie geht es Ihrem Mann und Ihrem Kind jetzt?

Mein Mann hat Schmerzen im Brustkorb, wenn er tief einatmet. Und mein Kind habe ich zum Neurologen gebracht und habe es Spezialisten gezeigt. Sie haben gesagt, dass man es noch beobachten soll, und wenn Übelkeit auftritt, zum Arzt bringen muss.

Haben Sie vor dem 24. damit gerechnet, dass es Krieg geben könnte?

Nein! Wenn ich das vorhergesehen hätte, wäre ich sofort am 24. weggegangen. Es gab Leute, die vorausgesehen haben, dass es Krieg geben würde. Sie sind gleich am ersten Tag evakuiert worden. Ich hatte diese Vorahnung leider nicht.

Warum ließen Sie sich nicht gleich am ersten Tag der russischen Invasion evakuieren?

Wir hatten Angst. Ich hatte im Internet gelesen, dass die Russen Autos beschießen. Wir wussten nicht, wohin wir hätten fahren sollen, wo sie [die Russen] waren, um uns herum flogen Flugzeuge. Wir hatten furchtbare Angst. Ich verließ den Keller überhaupt nicht, hatte sogar Angst, nach Borodjanka rein zu laufen.

Wissen Sie von Kriegsverbrechen russischer Soldaten gegen die Zivilbevölkerung?

Als wir in Horodnyzja wohnten, hörte ich, dass in Borodjanka schreckliche Verbrechen begangen wurden … . Die Russen hatten Mädchen vergewaltigt, sie aufgehängt und erschossen. Aber als ich hierher zurückkam, erzählte davon schon niemand mehr.

Was wurde aus Ihrem Eigentum?

Alle Möbel sind zerstört. Alles ist zertrümmert. Nur die Waschmaschine im Bad ist noch ganz, aber wir wissen nicht, ob sie funktioniert. Alles muss von Grund auf neu gekauft werden. Mein Mann und ich sind früher nach Polen gefahren, haben Geld verdient, wir haben so viel in die Wohnung investiert, alles umsonst... 

 


Iryna Olijnyk aus Borodjanka vor den Trümmern ihres zerstörten Hauses.

 

Wo wohnen Sie jetzt?

Wir wohnen jetzt in Borodjanka in einem Modulhaus. Dort gibt es heißes Wasser, die Bedingungen in der Küche: acht Küchenherde für 22 Zimmer. Das Zimmer ist klein, sechs Meter, Doppelstockbetten. Das ist für mich mit Kind sehr eng. Es ist sehr schwer, man fühlt sich nicht zuhause. Wenn ich an unserem Haus vorbeifahre, möchte ich weinen. Ich will nach Hause!

Wie hilft Ihnen der Staat jetzt?

Was Wohnraum betrifft, haben Sie uns gesagt, dass wir uns auf eine Warteliste setzen lassen sollen. Wahrscheinlich werden sie uns irgendwelche Wohnungen in Neubauten im Gebiet Kyjiv zuweisen. Aber ich will hier wohnen, in Borodjanka oder wenigstens in derselben Entfernung von Kyjiv. Sobald der Krieg vorbei ist, möchte ich raus aus der Ukraine. Wenigstens für eine Zeit, um Geld für eine Wohnung zu verdienen. Ich will nicht, dass mein Kind ohne Zuhause aufwächst. Ein spätes Kind und dann so ein Schicksal … .

Hat sich Ihre Haltung den Russen gegenüber verändert?

Ja! Zum Negativen. Ich habe Verwandte in Russland. Wir haben jetzt keinen Kontakt mit ihnen. Sie interessieren sich nicht einmal dafür, wie es uns hier geht. Das sind nahe Verwandte, keine entfernten … . Ich will nicht einmal mehr ihre Filme sehen. Und die Zeichentrickfilme, die ich meinem Sohn früher gezeigt habe, will ich jetzt nicht mehr einschalten.

Was planen Sie jetzt als Nächstes?

Ich weiß es nicht. Ich warte auf den Sieg!

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

Ein Video-Interview mit Iryna Olijnyk finden Sie hier.

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

4. April 2023

 

 

Copyright © 2024 memorial.de. Alle Rechte vorbehalten.
MEMORIAL Deutschland e.V. · Haus der Demokratie und Menschenrechte · Greifswalder Straße 4 · 10405 Berlin
Joomla! ist freie, unter der GNU/GPL-Lizenz veröffentlichte Software.
Back to Top