89 Familien aus dem Gebiet Kyjiv warten auf ihre Liebsten aus der Gefangenschaft

 

Andrij Didenko, Emilija Prytkina

 

Warum das humanitäre Völkerrecht bei der Befreiung von zivilen Geiseln machtlos ist, ob staatliche und internationale Organisationen den Angehörigen von Gefangenen helfen und wie man die Hoffnung nicht verliert


Ein Gespräch mit Vertreterinnen der Initiativgruppe „Unsere Liebsten“

 

Hanna Myschtykova und Olha Manuchina sind Vertreterinnen der Initiativgruppe „Unsere Liebsten“. In der Gruppe sind 89 Familien aus dem Gebiet Kyjiv zusammengeschlossen. Seit zweieinhalb Jahren warten Ehefrauen, Eltern und Kinder auf ihre Liebsten aus der Gefangenschaft, so Anna auf ihren Ehemann und Olha auf Ehemann und Sohn, der in Gefangenschaft 22 Jahre alt geworden ist. 

Die Russen nahmen, als sie sich zu Beginn der Großinvasion rasch auf das Gebiet Kyjiv zubewegten, Bewohner gefangen. Allein aus der Gemeinde Dymerska wurden 42 Menschen entführt. Eine noch größere Zahl Zivilisten nahmen die Invasoren mit, als sie sich zurückzogen. Im Juli 2022 teilte „Investigation Info“ mit, dass die russischen Soldaten Zivilisten entführt hatten und sie als „menschliche Schutzschilde“ einsetzen, um die russische Armee und Technik bei ihrem Abzug Ende März auf das Territorium von Russland und Belarus zu sichern.

 

 
Hanna Myschtykova und Olha Manuchina – Vertreterinnen der Initiativgruppe „Unsere Liebsten“

 

„Das sind alles Zivilisten! Bei uns gibt es keine militärischen Berufe. Das sind Bauarbeiter, Köche Fahrer, Manager. Mein Mann hat nicht einmal in der Armee gedient“, sagt Hanna Myschtykova. „Mein Mann und mein Sohn haben nicht einmal einen Militärausweis“, fügt Olha Manuchina hinzu. 

Die Praxis der Verschleppung von Zivilisten, die die Russen in den vorübergehend besetzten Gebieten anwenden, ist nicht neu. 

„Die demonstrative Abrechnung mit Zivilisten, um die restliche Bevölkerung einzuschüchtern, das ist die Politik der Besatzer, die vor zehn Jahren begann“, erinnert sich Oleksandr Pavlitschenko, Geschäftsführer der Ukrainischen Helsinki Union für Menschenrechte, während eines Runden Tisches im Ukrainischen Krisen-Medienzentrum. 

Seit nun schon mehr als zwei Jahren ähnelt jeder Morgen für die Frauen schmerzhaft dem anderen. Eine kurze Begrüßung, Kommunikation mit anderen Initiativgruppen, Planung von Veranstaltungen, endlose Appelle an staatliche und internationale Stellen. 

„Es ist nicht der Morgen, der beginnt, sondern es sind 24 von 24 Stunden. Ohne Schlaf. Wir kommen natürlich fast gar nicht zur Ruhe. Das ist Stress, das sind Nervenzusammenbrüche, das sind Tränen und das ist Warten. Sobald wir von einem Austausch hören… Das machen nicht nur wir mit, das machen alle mit, deren Angehörige in Gefangenschaft sind“, Anna Myschtykova kann die Tränen kaum zurückhalten. 

„Wir schreiben an den Koordinierungsstab, wir schreiben an das Ministerium für Re-Integration, wir wenden uns an unsere Abgeordneten. Wir haben uns an Kyrylo Budanov gewandt. An wen haben wir nicht alles appelliert… . Wir hatten eine Aktion im Schevtschenko-Park. Wir hatten Gelegenheit, unter vier Augen mit dem Menschenrechtsbeauftragten Lubinez zu sprechen. Jede Frau will, dass ihr Liebster so schnell wie möglich zurückkehrt, jede Mutter, dass ihr Sohn so schnell wie möglich zurückkommt. Unsere Kinder wollen ihre Väter sehen. Bei uns hat sich sogar einer vor den Bevollmächtigten niedergekniet. Sie haben Zugang auf internationaler Ebene. Wir wollen, dass auch sie unseren Schmerz fühlen, unseren Verlust“, sagt Olha Manuchina.

 

 
© Andrij Didenko / KHPG (Charkiver Menschenrechtsgruppe)

 

Leider ist das gewünschte Resultat bislang ausgeblieben. Seit Beginn der Großinvasion ist es lediglich gelungen, zwei Bewohner der Gemeinde zurückzuholen. Einer von ihnen ist nach der Gefangenschaft zuhause gestorben. 

Die Frauen kennen den Ort, an dem alle Gefangenen festgehalten werden, aber weigern sich, die Quelle dieser Informationen zu nennen. Allerdings erleichtert dieses Wissen nicht die Kommunikation. Es gibt keinerlei Möglichkeit, wirklich zu korrespondieren und Pakete zu übermitteln. Nur kurze Briefe, die sie einmal erhalten haben – Ende August 2022. 

„Bin am Leben und gesund. Das sind die wichtigsten Worte“, sagt Anna Myschtykova, Ehefrau eines gefangenen ukrainischen Zivilisten. 

Das Völkerrecht verbietet, Zivilisten gefangen zu nehmen. Wie Artur Dobroserdov, Beauftragter des Innenministeriums der Ukraine für unter besonderen Umständen vermisste Personen, feststellt: „Zivile Geiseln oder Personen, denen die persönliche Freiheit entzogen wurde, können nicht ausgetauscht werden. Nach dem Humanitären Völkerrecht darf es keine zivilen Geiseln geben. Und wenn es welche gibt, müssen sie freigelassen werden.“ 

Natürlich kann von einer Freilassung keine Rede sein. Einige Gefangene werden ohne ihre persönlichen Angaben in Gefangenschaft gehalten, man bringt sie absichtlich von Ort zu Ort, um die Suche zu erschweren, überführt sie in den ungesetzlichen Status von Personen, die „Gegner der SVO“ [militärische Spezialoperation] sind, hält sie ohne Status fest oder führt fabrizierte Prozesse durch, in denen ihnen Kriegsverbrechen zur Last gelegt werden.

 

 
© Andrij Didenko / KHPG

 

Anna Myschtykova sagt, dass sie in russischen Telegram-Kanälen Fotos von fast allen Gefangenen aus ihrer Gemeinde gesehen hat. Unter einigen Fotos war vermerkt, dass sie Kriegsgefangene seien. Als Antwort auf eine Anfrage erhielt sie die Information, gegen Zivilisten aus dem Gebiet Kyjiv seien keine Strafverfahren von Seiten der Russischen Föderation anhängig. 

„Unsere Jungs sind durch nichts geschützt. Soldaten haben wenigstens gewisse Rechte. Auf die eine oder andere Weise schützt sie unser Staat. Aber unsere Jungs sind doch genauso Menschen. Sie sind auch Bürger der Ukraine. Zivilisten sind in der Tat denselben Folterungen ausgesetzt wie unsere Soldaten“, sagt Olha Manuchina. 

Menschen, deren Angehörige von den Russen entführt wurden, befinden sich oft in einem Dilemma. Sollen sie Öffentlichkeit fordern oder schweigen, um ihren Lieben nicht noch mehr zu schaden? Das ist nicht verwunderlich, denn die Grausamkeit der Russen erstreckt sich auf Kämpfende ebenso wie auf Zivilisten. Die Charkiver Menschenrechtsgruppe schreibt von einem zweistufigen Netz von Orten illegaler Inhaftierung und Folter von Zivilisten im Gebiet Charkiv. 

„Weil Olha und ich die Koordinatorinnen der Gruppe sind, bemühen wir uns, den Leuten zu vermitteln, dass man nicht aufgeben darf. Es braucht eine maximale Öffentlichkeit. Man darf nicht schweigen. Man muss einander unterstützen. Gemeinsam auf die gefangenen Angehörigen warten“, sagt Anna Myschtykova. „Wenn wir nicht an alle Türen klopfen, werden diese Türen sich auch nicht öffnen!“, fasst Olha Manuchina zusammen.

 

 
© Andrij Didenko / KHPG


Die Charkiver Menschenrechtsgruppe hat eine Hotline eingerichtet für die Suche nach Vermissten oder gefangenen Zivilisten und Soldaten. Im Laufe der Jahre konnten über 30 Prozent der dort gemeldeten Menschen aufgefunden werden. 

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


Das Video mit Anna Myschtykova und Olha Manuchina finden Sie hier


Das Projekt wird vom People in Need gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.


29. September 2024

 

 

 

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