Erklärung des Menschenrechtszentrums Memorial

Zehn oppositionell eingestellte Einwohner der Stadt Moskau und der Moskauer Region werden beschuldigt, im Dezember 2017 die extremistische Organisation Novoe Velitschie (Neue Größe) gegründet zu haben, angeblich mit dem Ziel eines gewaltsamen Sturzes der Regierung sowie der konstitutionellen Regierungsform der Russischen Föderation (Art. 282.1 StGB RF).

Wir haben die Unterlagen des Verfahrens gründlich geprüft und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Organisation Novoe Velitschie im Wesentlichen von den Sicherheitsdiensten gegründet worden ist, die sich bemühten, der Gruppe extremistische Züge zuzuschreiben.

Einer der Gründer und Führer von Novoe Velitschie ist offensichtlicher Agent der Sicherheitsorgane (wahrscheinlich des FSB) und den Mitgliedern der Gruppierung als Ruslan D. bekannt. Bei seiner Befragung als Zeuge wurde er im Protokoll als Aleksandr Konstantinov eingetragen (weitere Personalien werden geheim gehalten). Er war Führungsmitglied, Sekretär der Organisation und Leiter des finanziellen Bereichs. Mit Hilfe von Ruslan D. verfassten die Geheimdienste selbst Satzung und Programm von Novoe Velitschie, und zwar so, dass es den Merkmalen einer extremistischen Vereinigung entsprach, und mieteten für die Gruppierung ein Büro mit „Wanzen“ an.

Als die minderjährige Anna Pavlikova die Gruppe wegen eines Streits verließ, überredete der Agent sie zurückzukommen. Nach einem Monat wurde sie verhaftet und verbrachte ein halbes Jahr in Untersuchungshaft, wobei ihre Gesundheit ernsthaften Schaden nahm.

Neben Ruslan D. wurden zwei weitere Mitarbeiter der Polizei in Novoe Velitschie eingeschleust sowie offenbar ein oder zwei weitere Informanten. Aber ungeachtet der Anstrengungen der Provokateure finden sich in Satzung, politischem Programm und Flugblättern keine konkreten Worte und Leitsätze darüber, dass die Mitglieder auf gewaltsamem Weg den Sturz der Regierung beabsichtigen oder die konstitutionelle Regierungsform Russlands verändern wollen. In den auf der Website der Gruppierung veröffentlichten Texten sehen wir keine direkten Aufrufe zur Gewalt.

Das sogenannte Verfahren Novoe Velitschie ist ein Symbol der Brutalität und Ungerechtigkeit des Kampfes gegen Extremismus im heutigen Russland, erklärt Sergej Davidis, Leiter des Programms zur Unterstützung politischer Gefangener im Menschenrechtszentrum Memorial. Eine Gruppe oppositionell eingestellter junger Menschen ist zum Opfer von Provokationen der Machthaber geworden. Sie haben keine gewalttätigen Handlungen verübt, keine Terroranschläge und Überfälle geplant.

Sie werden Gesprächen und nicht das Gesetz verletzender Handlungen beschuldigt, die nur deswegen für verbrecherisch erklärt werden, weil sie angeblich im Rahmen einer extremistischen Organisation stattfanden, die von eingeschleusten Mitarbeitern der Geheimdienste gegründet wurde.

Die Angeklagten erkennen ihre Schuld nicht an. Die Teilnahme in der Gruppierung Novoe Velitschie leugnen sie nicht, betonen aber die Legalität ihrer Tätigkeit und dass sie nicht vorhatten, Regierung und Verfassung mit gewaltsamen Mitteln zu stürzen.

Die Gruppierung aus 13 Personen bestand zu fast einem Drittel aus Vertretern verschiedener Sicherheitsorgane, die offenbar in Konkurrenz zueinander standen, die Organisation gründeten und unterstützten und deren Ziel nicht der ‚mythische Sturz‘ der verfassungsgemäßen Ordnung war, sondern das Hervorrufen eines Strafverfahrens.

Die Einhaltung des Gesetzes im Verfahren Novoe Velitschie bedeutet die Einstellung des Verfahrens und wir stellen fest, dass dies eine Frage des politischen Willens ist. Das Scheitern der Provokation von Ruslan D. ist offensichtlich, und die Geheimdienste selbst sind daran interessiert, solche Praktiken in ihren Reihen zu stoppen, heißt es in einer von der Novaja Gazeta vorbereiteten Petition an die russische Führung, die auf dem Portal von Change.org unterzeichnet werden kann.

Wir sind der Meinung, dass die beschriebenen Aktionen der Sicherheitskräfte eine Provokation der Polizei darstellen, die nach Art. 5 des Gesetzes  „Über operative Untersuchungen“, verboten ist: „Den Ermittlungen durchführenden Behörden ist es verboten, zu widerrechtlichen Handlungen anzustiften, zu überreden oder direkt oder indirekt dazu anzuregen.“

Memorial betrachtet Anna Pavlikova, Marija Dubovik, Ruslan Kostylenkov, Maksim Roschtschin, Petr Karamsin, Pavel Rebrovskij, Dmitrij  Poletaev, Sergej Gavrilov, Vjatscheslav Krjukov und Raschid Rustamov als politische Gefangene und fordert ihre sofortige Freilassung und die Bestrafung der für ihre Strafverfolgung Verantwortlichen.

Die Anerkennung von Personen als politische Gefangene durch Memorial bedeutet keine Übereinstimmung oder Billigung mit deren Ansichten, Äußerungen und Handlungen.

23. September 2018

 

 

 

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