Münchner Straßenbenennung - Ausstellung - Publikation - Anbringen einer Gedenktafel in Moskau

1. Carola Neher. Ein prominentes Verfolgungsschicksal des 20. Jahrhunderts
Die in München geborene Carola Neher gehörte zu den bekanntesten Schauspielerinnen der Weimarer Zeit. Nach frühen Engagements in Baden-Baden und an den Münchner Kammerspielen machte sie zunächst in Breslau, später, vorübergehend, in Wien und Berlin Karriere. Als Ehefrau des erfolgreichen, aber todkranken Autors Klabund, der ihren Charme in Gedichten feierte und ihr Bühnenstücke auf den Leib schrieb, sorgte sie ebenso für Aufsehen wie als Inspirationsfigur Bertolt Brechts, der ihre Schauspielkunst schätzte und sie in wichtigen Inszenierungen besetzte. Carola Nehers Verkörperung der Polly in der "Dreigroschenoper" wurde zu einem der größten Theatererfolge der Weimarer Zeit.

Als sie nach Klabunds frühem Tod zu Beginn der 30er Jahre eine Liaison mit Herrmann Scherchen, einem mit dem Marxismus sympathisierenden Komponisten einging und gemeinsam mit ihm einen Russisch-Kurs besuchte, verliebte sie sich in ihren Russischlehrer Anatol Becker, einen aus Bessarabien stammenden Ingenieur und begeisterten Anhänger der Sowjetunion. Gemeinsam mit ihm emigrierte sie zur Zeit des Nationalsozialismus in die UdSSR, wo sie ihren Sohn Georg zur Welt brachte.

Im vermeintlichen "Vaterland des Sozialismus" erwiesen sich jedoch alle Hoffnungen auf künstlerische Entwicklungsmöglichkeiten als Illusion: sie erfuhr die Moskauer Wohnungsnot und musste unter erbärmlichen Umständen leben, Karrierechancen blieben nahezu vollständig aus. Schon 1936, ein Jahr vor Beginn des Großen Terrors, gerieten sowohl ihr Mann Anatol Becker als auch sie in den Sog der Stalinschen Säuberungen. Anatol Becker wurde nach kurzer Haftzeit erschossen, sie selbst 1937 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, ihr Sohn Georg in ein Waisenhaus eingewiesen. Carola Neher starb am 26. Juni 1942 im Lager Sol Ilezk.

2. Münchner Straßenbenennung und Ausstellung im Deutschen Theatermuseum
Da zuvor in ihrer Heimatstadt München keine öffentliche Stätte an Carola Neher erinnerte, beantragten wir 2010 im Rahmen von MEMORIAL Deutschland die Benennung einer Münchner Straße nach Carola Neher. Diese Initiative wurde dankenswerterweise von Anfang an vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Herrn Schwarz, sowie vom Verein Gegen Vergessen, Frau Ilse Macek, unterstützt. Am Freitag, den 15. November 2013 wurde die Carola-Neher-Straße im Münchner Bezirk Obersendling feierlich eingeweiht.

Als sich die Chance auf Bewilligung der Straßenbenennungsinitiative abzuzeichnen begann, regten wir an, eine Ausstellung über Carola Neher im Deutschen Theatermuseum in München zu realisieren. Dankenswerterweise griff Frau Dr. Blank, die Leiterin des Museums, diese Anregung auf, so dass am Tage der Straßenbenennung auch die Ausstellung "Carola Neher. Wir Schauspieler sind erst auf der Bühne in unserem Element. Wir stolpern nur im Leben" im Deutschen Theatermuseum eröffnen konnte, die - u.a. mit Material aus der Sammlung von Herrn Georg Becker, dem Sohn Carola Nehers - von Herrn Micha Neher, ihrem Neffen und Frau Petra Kraus vom Deutschen Theatermuseum kuratiert wurde.

Begleitend zu dieser Ausstellung realisierte MEMORIAL Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Münchner Kulturreferat und "Gegen Vergessen - für Demokratie" ein breites Programm. Reinhard Müller, namhafter Stalinismusforscher, hielt einen Vortrag im Münchner Literaturhaus, die Otto-Falckenberg-Schauspielschule inszenierte mit Schauspielschülern das Carola Neher gewidmete Schauspiel: "Bleiche Mutter, zarte Schwester" von Jorge Semprún und das Münchner Filmmuseum präsentierte den Film "Die Dreigroschenoper" in einer Sondervorführung. Im Deutschen Theatermuseum lasen die Schauspieler Caroline Ebner, Hildegard Schmahl, René Dumont und Steven Scharf gemeinsam mit der Moderatorin Julia Cortis (BR) die (bereits 2010 im Münchner Gasteig erstmals präsentierte) szenische Lesung für fünf Stimmen "Flieg zum Flammengott der Schmerzen".

3. Der MEMORIAL Sammelband "Carola Neher. Gefeiert auf der Bühne, gestorben im Gulag. Kontexte eines Jahrhundertschicksals"
Die Entscheidung des Projektleiters des Berliner Literaturhauses, Herrn Lutz Dittrich, die Münchner Ausstellung in Berlin im Herbst 2016 (Eröffnung am 28. Oktober 2016) zu zeigen, eröffnete nicht nur die Aussicht, die wunderschöne, sehenswerte Ausstellung auch in der Stadt von Carola Nehers größten Erfolgen präsentieren zu können, sondern zugleich die Chance, einen von MEMORIAL gemeinsam mit dem Stalinismusforscher Reinhard Müller geplanten Aufsatzband über Carola Neher veröffentlichen zu können.

Dabei setzten sich die Herausgeber das Ziel, in dem Band Beiträge von Autoren unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen zu vereinen und sich somit dem vielschichtigen Schicksal Carola Nehers multiperspektivisch zu nähern, die Bedeutung ihres Wirkens und die Zusammenhänge ihres Verfolgungsschicksals im (kultur)geschichtlichen Kontext dieser Zeit herauszuarbeiten, sowie relevante Fragestellungen, die ihr Schicksal aufwirft, zu diskutieren. Anders als in bereits vorliegenden Biographien über Carola Neher liegt damit der Schwerpunkt dieser Publikation auf der Zeit von Carola Nehers bislang wenig erforschtem Schicksal im sowjetischen Exil. Dankenswerterweise ermöglichte es die Stiftung Aufarbeitung durch eine Projektförderung, dieses Vorhaben zu realisieren.

Den Herausgebern gelang es, für dieses Vorhaben namhafte deutsche und russische Wissenschaftler zu gewinnen. Prof. Völker würdigt einleitend in einem großen, kenntnisreichen Aufsatz Carola Nehers Leistung als Schauspielerin von ihren Münchner Anfängen bis zur Exilzeit. Er analysiert ihre künstlerische Entwicklung, wobei er zugleich einen Einblick in die Kreise der Künstler vermittelt, die mit Carola Neher zusammenarbeiteten wie auch in die in der Weimarer Zeit tonangebenden Stoffe. Die Autorin Karin Wieland beschreibt anschließend die "Liebe ohne Heimat" der Künstlerbeziehung und - Ehe zwischen dem Schriftsteller Alfred Henschke, der sich Klabund nannte, und Carola Neher.

Der russische Autor Valerij Zolotukhin informiert über die faszinierende Phase des sowjetischen Avantgardetheaters bis zum Krisenjahr 1926, dem Jahr, in dem Walter Benjamin bei einem Besuch der lettischen Bühnenkünstlerin Asja Lacis in der sowjetischen Hauptstadt, sein "Moskauer Tagebuch" verfasste und die Zeit der Repression bereits ihre ersten Schatten vorauswarf. Er gibt damit einen Überblick über die Bühnenkunst der sowjetischen Moderne, die zur Zeit von Carola Nehers Eintreffen in der Sowjetunion bereits zurückgedrängt worden war.

Wladimir Koljasin beschreibt die spätere Phase der Massenrepressionen, die Zeit des Großen Terrors, dem Carola Neher, wie viele andere deutsche Politemigranten, zum Opfer fiel: Er analysiert den Prozess der Unterjochung sowjetischer Künstler unter das Diktat des totalitären Staats und schildert eingehend die erschütternden Verfolgungsschicksale der bedeutenden Künstlerpersönlichkeiten Sergej Tretjakow und Wsewolod Meyerhold.

In einem großen, quellengesättigten Aufsatz schildert Anne Hartmann die ganze Spannbreite, wie deutsche Emigranten, zu denen auch Carola Neher zählte, das Exil in der Sowjetunion erfahren konnten, und treffend bezeichnet Christoph Hesse Carola Neher in seinem Aufsatz als "Die Unsichtbare" im deutsch-sowjetischen Filmexil: er stellt die wenigen Filmproduktionen deutscher Emigranten im vor, die in dieser Zeit, nicht selten unter widrigsten Umständen entstanden.

"Zeugin der letzten Wegstrecke" Carola Nehers durch die Lager des Gulag war ihre Mitgefangene Hilda Dutý, mit der der Theaterwissenschaftler Dr. Diezel nach deren Rückkehr in die DDR ein langes Gespräch, welches in unserem Band in voller Länge und neu kommentiert widergegeben wird. Ebenso publizieren wir erstmals in deutscher Sprache die von Peter Diezel in der Moskauer Lenin-Bibliothek kopierten, bislang nur auf Russisch in der UdSSR veröffentlichten Aufsätze Carola Nehers in der Zeitschrift „Ogonjok“ aus den Jahren 1935-36.

Doch selbst mit dieser groß aufgemachten Reihe über "Deutsche Theaterkünstler im Exil" (so der Titel der Aufsatzreihe) mit Aufsätzen Carola Nehers über Max Pallenberg, Albert Bassermann, Erwin Piscator, Ernst Busch, Alexander Granach und Max Reinhardt sowie einem abschließenden Aufsatz von Alexander Granach über Carola Neher konnte ihr erschütterndes Verfolgungsschicksal nicht abgewendet werden. Reinhard Müller gibt Einblick in die Zeit ihrer Haftjahre und veröffentlicht erstmals bislang unbekanntes Aktenmaterial aus dem Verfahren gegen Carola Neher und gegen Zenzl Mühsam, die eine Zeit lang ihre Zellengefährtin im Moskauer Butyrka-Gefängnis war.

Er analysiert darüber hinaus eingehend die passive Position, die Bertolt Brecht öffentlich gegenüber den Moskauer Schauprozessen einnahm, wobei er sich nicht mit Vermutungen zufrieden gibt, sondern nachverfolgt, welche Informationen und Quellen Brecht zugänglich waren und wie er sich über die Thematik im Meinungsstreit mit anderen Intellektuellen, im freundschaftlichen Austausch und im nicht selten widersprüchlichen Selbstgespräch auseinandersetzte.

Abschließend schreibt Irina Scherbakowa, die Georg Becker bei seiner ersten Reise zurück in die Sowjetunion begleitete, über das Schicksal der Kinder der vom Stalinismus Verfolgten.

4. MEMORIAL-Tagung im Literaturhaus
Am 5. November 2016 stellen die vier der Autoren, Klaus Völker, Anne Hartmann, Reinhard Müller und Irina Scherbakowa ihre Aufsätze auf einer Tagung im Berliner Literturhaus vor. (Beginn der Tagung 14.00 Uhr, Ende 18.00 Uhr).

5. Eine Gedenktafel für Carola Neher in Moskau im Rahmen der Initiative "Die letzte Adresse", MEMORIAL Moskau
Auf Initiative von Irina Scherbakowa (MEMORIAL Moskau) ist am 5. Februar 2017 an "der letzten Adresse" Carola Nehers in Moskau eine Gedenktafel für sie und Anatol Becker angebracht worden.

Ansprechpartnerin: Bettina Nir-Vered
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