Kinder von Volksfeinden

Erinnerungen von Leonid Murawnik, Jelisaweta Riwtschun, Walentina Tichanowa, Olga Zybulskaja und Rosa Schowkrinskaja.
Verhaftung des Vaters – Verhaftung der Mutter – Kinderheim – Der Glaube an kommunistische Ideale – Diskriminierung – Psychische Folgen der Repressionen – Erinnerung an die Eltern

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Drehbuch Video-Interview Kinder von Volksfeinden

Erinnerungen von Leonid Murawnik, Jelisaweta Riwtschun, Walentina Tichanowa, Olga Zybulskaja und Rosa Schowkrinskaja.

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Verhaftung des Vaters
Leonid Murawnik ist Sohn eines Parteifunktionärs. Seine Eltern wurden im Jahre 1937 erschossen. Seit dem Alter von 9 Jahren lebte er in unterschiedlichen Kinderheimen, floh mehrmals und war obdachlos.
Murawnik: Wir wohnten in einem Zimmer in einem Hotel. Papa kam erst nach Mitternacht von der Arbeit, müde und total erschöpft. Ich hörte oft die endlosen Streitgespräche zwischen den Eltern. Mama fragte: „Jascha, hast du gehört, Larin ist verhaftet worden“. Und Papa darauf. „Ja“.
„Hast du gehört, Orlow ist verhaftet worden“.
Papa darauf. „Ja“.
„Und was hältst Du davon?“
„Die Partei wird alles in Ordnung bringen.“
Auf alles gab es immer diese eine Antwort. „Die Partei wird das in Ordnung bringen.“ Er war ein fanatischer Mensch, ganz fanatisch.
Aber was hätte er ihr anderes sagen sollen? Nichts. Und dann kam dieser verhängnisvolle Tag – der 25. Mai -, an dem das Büro des regionalen Parteikomitees tagte und an dem alle, bis auf den letzten, verhaftet wurden. Das war eine minutiös durchgeplante Aktion, so frevelhaft es auch klingt.

Walentina Tichanowa – Adoptivtochter des Volkskommissars der RSFSR für Justiz. Ihr Stiefvater und ihre Mutter wurden erschossen. Walentina lebte 4 Jahre in einem Kinderheim in Dnepropetrowsk.
Tichanowa: Es war der 11. September. In der Nacht wurde ich durch Lärm geweckt, es waren unklare Geräusche zu hören. Ich ging im Morgenrock vom Kinderzimmer durch den Korridor zur Tür des Arbeitszimmers. Da brannte Licht. Unsere Hausangestellte stand in der Tür, und im Zimmer waren zwei Personen in Zivil. Einer hielt den Telefonhörer und sagte. „Ja, wir sind fertig, es ist alles erledigt. Ja, gut.“ Und er legte auf. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie sie weggingen, nur noch daran, wie ich in der Tür stand, und dass ich unwillkürlich anfing zu weinen.

Elisaweta Riwtschun ist die Tochter des Komponisten David Geigner. 1935 kam die Familie aus China zurück. 1938 wurde David Geigner erschossen.
Riwtschun: Das war die letzte Nacht mit Papa. Als alle gegangen waren, saßen wir bis zum Morgengrauen da, wir waren völlig erstarrt. Am Morgen ging ich dann mit meinem Bruder zur Schule, und Mama klapperte die Gefängnisse ab auf der Suche nach Papa. Sie fand ihn einige Tage später in den Listen des Butyrka-Gefängnisses. Zwei Monate brachte sie Pakete und Geld für ihn dorthin, dann sagte man ihr, man habe ihn weggebracht, er sei nicht mehr in den Listen. Und damit verlor sich seine Spur.

„Unsere Bekannten hatten Angst vor uns“
Riwtschun: Wir waren einfach völlig isoliert. Es kamen keine Anrufe mehr, und niemand kam uns besuchen. Unsere Bekannten hatten Angst vor uns. Sie fürchteten ja selbst um ihr Leben. Das habe ich erst später begriffen, damals empfand ich nur die Kränkung und den Horror, dass wir ganz allein waren. Mama fand keine Arbeit. Wenn ich zum Direktor gerufen wurde, dachte ich immer, er wird jetzt sagen: „Dein Vater ist ein Volksfeind, Du darfst nicht mehr in die Schule gehen.“ Davor hatte ich Angst.

Rosa Jussupowna Schowkrinskaja. Ihr Vater war Mitglied im Regionalkomitee der Partei in Dagestan und starb in Haft. Ihre Schwester wurde zu 10 Jahren Lagerarbeiten verurteilt.
Schowkrinskaja: Als Mama uns ins Dorf (im Kaukasus) gebracht hatte und wir am ersten Tag nach draußen gingen – ich weiß nicht, wer den Kindern das beigebracht hat, sie konnten ja kein Russisch – da ließen sie uns nirgends durch. Sie schrien: „Trooootzkisten! Troootzkisten!“ Woher kannten sie dieses Wort? Wir kamen heulend nach Hause und sagten: „Mama, wir gehen nicht mehr raus, und wir gehen auch nicht mehr in diese Schule“.

Murawnik: Als ich damals zu Tante Olja gekommen war, sagte sie nachts zu Onkel Kostja, ihrem Mann: „Wir müssen diesen Gast wieder loswerden. Gnade Gott, die Tschekisten kriegen das mit, und sie verhaften unsere Jungen“. Und mir sagte sie am nächsten Morgen: „Lenja, frühstücke und geh dann zur Oma“. Ich folgte ihr und ging nach dem Frühstück zur Oma, Bertha Moissejewna. Sie fragte: „Was machst du hier?“ Ich antwortete: „Tante Olja sagte, ich soll zu dir kommen.“
Aber die Oma freute sich nicht über mein Kommen. Ich fragte sie „Oma, was ist los? Warum ist das alles so?“ Sie sagte „Weil Du abgestempelt bist.“ „Wieso?“ „Wenn dein Onkel erfährt, dass du gekommen bist, wird er sehr böse sein.“

Verhaftung der Mutter
Murawnik: Und hier auf dieser Bank am Petrowski-Boulevard sahen wir, meine Mutter und ich, uns das letzte Mal. Sie weinte und sagte: „Lenik, mein Kind, ich weiß nicht, ob ich wieder komme oder nicht, ich will dir nichts vormachen. Aber ich will, dass Du ein guter Mensch wirst und dass du mit schweren Situationen fertig wirst. Niemand wird dir in diesem Leben helfen… Lerne, deinen Eltern zu glauben, dann wirst du es leichter haben im Leben.“ Wir gingen zur Oma, ich war völlig erledigt und fertig, ich ging ins Bett und schlief ein. Als ich aufwachte, war Mama schon nicht mehr da.

Riwtschun: Mama lag im Bett, sie hatte 38 Grad Fieber, sie war erkältet. Sie kamen. Mama sagte, sie sei krank. „Aber wir halten Sie ja nicht lange auf. Ihr Mann hat zu vieles vergessen, Sie müssen uns helfen.“ Sie sagte, sie habe Fieber. „Wir bringen Sie wieder zurück“. Sie stand auf, zog einen Morgenrock und warme Hausschuhe an. In diesem Aufzug ging sie mit hinaus. Unten stand das Auto. Danach hat sie niemand mehr gesehen. Später kam heraus, dass sie erschossen worden war.

Kinderheim
Tichanowa: Als ich dahin kam, saß da ein Onkel Mischa in Militäruniform am Tisch. Er fragte mich etwas, daran kann ich mich nicht genau erinnern. Er sagte mir: „Ja, ihr werdet bei uns bleiben.“ Aber ich erinnere mich, dass ich innerlich zusammenzuckte, dass ich Angst hatte. Er sagte: „Wir schicken euch in ein Kinderheim.“

Murawnik: Und eines Tages weckte man uns – etwa 15 Kinder – in der Nacht auf. Wir traten an, man verfrachtete uns in ein Auto mit der Aufschrift „Lebensmittel“. Sie stießen uns in dieses Auto, und es ging zu einem Bahnhof, ich weiß nicht mehr, welcher das war, wahrscheinlich der Kiewer. Als sie uns zum Bahnhof fuhren, fragte ein Mädchen. „Wohin bringen sie uns jetzt? Uns umbringen?“ Die verängstigte Stimme von diesem Mädchen kann ich nicht vergessen.

Der Glaube an kommunistische Ideale
Riwtschun: Ich wollte unbedingt in den Komsomol, unbedingt. Ich war ja schon bald erwachsen. Die ganze Klasse ging zu den Versammlungen, es gab Diskussionen und Gespräche, nur ich war nicht dabei. Es hieß immer: „Was stellst du überhaupt einen Antrag? Wer soll dich aufnehmen? Dein Vater ist ein Volksfeind. Was soll das, willst du dich lächerlich machen?“ Und ich stellte natürlich keinen Antrag. Und dabei wollte ich so gerne Komsomolzin sein! Ich wollte gerne bei den anderen sein! Das war für mich sehr schwer.

Olga Zybulskaja. Ihre Eltern waren Mikrobiologen. Der Vater wurde 1937 erschossen. Die Mutter wurde als „Familienmitglied eines Verräters der Heimat“ zu 8 Jahren Haft verurteilt. Olga wuchs bei Ihren Verwandten auf.
Zybulskaja: Wissen Sie, ich habe das seinerzeit nicht so mit Stalin in Verbindung gebracht. Ich habe fest an ihn geglaubt. Ich war gerade fertig mit der Schule, als er im März 1953 starb. Irina, meine Schwester, hat furchtbar geheult, sie fiel dauernd in Ohnmacht. Ihr Mann, Wladimir Aleksejewitsch, sagte ihr: „Ira, was stellst Du dich an? Da ist ein Blutsauger gestorben, der dir das ganze Leben kaputt gemacht hat, er hat das deines Vaters vernichtet und das deiner Mutter zerstört.“ Sie darauf: „Wolodja, hör auf, so was konnte Stalin gar nicht tun, niemals“. Man glaubte so fest an ihn, dass es für uns jetzt so war, als wäre plötzlich die Sonne verschwunden. Ich erinnere mich, dass ich wer weiß wie geheult habe. Für mich war Stalin einfach eine Ikone.

Diskriminierung
Zybulskaja: Ich sagte, ich wollte Medizin studieren, Mama darauf: „Versuch das gar nicht erst, man wird dich eh nicht zulassen, Kinder von Verhafteten dürfen nicht Medizin studieren“. Ich bewarb mich und gab an, wer meine Eltern waren. Der Rektor kam zu mir und sagte: „Wir nehmen dich nicht auf. Du brauchst es gar nicht erst zu versuchen – wir haben die geheime Anweisung, Kinder verhafteter Eltern nicht zuzulassen, sie werden sonst dem Staat schaden. Also nimm deine Dokumente wieder mit und versuche es gar nicht erst.“

Murawnik: Später schon, als ich irgendwo anfing zu arbeiten, musste ich was schreiben – früher haben wir ja Lebensläufe geschrieben. Ich dachte mir so eine Geschichte aus, keine besonders gute, aber eben irgendwas. Alle aus den Kinderheimen haben ja die Unwahrheit geschrieben. Und ich schrieb, mein Vater sei im Bürgerkrieg ums Leben gekommen, er hatte ja wirklich im Bürgerkrieg gekämpft. Ich schrieb auch, ich und meine Mutter hätten uns verloren, wo das war, wüsste ich nicht mehr. Ich war damals noch klein. Das habe ich geschrieben, und es reichte aus, sie ließen mich dann in Ruhe.

Psychische Folgen der Repressionen.
Zybulskaja: Wahrscheinlich wäre ich sonst fröhlicher, ich bin manchmal ziemlich skeptisch und pessimistisch. Ich habe im Leben nicht diese ganze Zärtlichkeit und Fürsorge erfahren, ich musste mich immer irgendwie mit meiner Arbeit durchschlagen. Außerdem – da Mama zu uns nicht zärtlich war, bin ich das auch nicht meiner Tochter gegenüber. Ich bin nicht zärtlich zu ihr, ich kann das nicht ändern – ich gebe mir Mühe, ich unterstütze sie auch, aber irgendetwas im Inneren hält mich zurück.

Tichanowa: Natürlich hat das Kinderheim meine geistige und intellektuelle Entwicklung erheblich beeinträchtigt, die ganzen vier Jahre, die ich da verbrachte. Das war eine solche Vergewaltigung unserer Seelen, dass es sich natürlich auf unser weiteres Leben auswirkte. Es ist kein Zufall, dass ich von dem Kinderheim vielleicht fünf-sechs Leute nennen kann, denen es irgendwie gelungen ist, eine höhere Bildung zu bekommen.
Irgendwo im Verborgenen eine Angst, eine gewisse Angst war immer in mir. Ich bin nämlich ein explosiver Charakter – ich bin nicht so sanftmütig. Aber diese ganzen Jahre habe ich mich sehr still verhalten. Sehr still. Das hat lange Jahre in mir gesessen. Vielleicht habe ich das bis heute nicht ganz überwunden.

Erinnerung an die Eltern
Riwtschun: Es war, als wäre Papa vom Erdboden verschwunden, absolut – als Mensch und als öffentliche Person.
Als er am Morgen nicht nach Hause kam, also nach dieser Nacht – ich habe mit 13 Jahren noch nicht verstanden, was eine Verhaftung ist, dass Papa verhaftet war. Ich wusste nur so viel, dass im Gefängnis Verbrecher, Diebe und Mörder sitzen. Und jetzt auf einmal mein Vater – ein so wertvoller, guter und völlig unschuldiger Mensch – das war natürlich ein Irrtum. Als ich aus der Schule kam, habe ich sofort nachgesehen, ob nicht oben seine Mütze und sein Mantel an der Garderobe hingen.

Tichanowa: Also zu diesem intellektuellen und seelischen Zusammenbruch. Ein wesentliches Trauma entstand natürlich durch das Kinderheim. Und natürlich hatten alle viel Heimweh. Ich habe buchstäblich jedes Mal, wenn ich aus der Schule kam, gedacht: „Wenn ich jetzt komme, steht ein Auto da, und Mama und Papa kommen mich holen“.
Ich war ganz sicher, dass sie unschuldig waren. Darum kam ich nicht auf die Idee, mich zu fragen, wem gegenüber sie schuldig sein sollten – sie waren einfach unschuldig und fertig. Da war ich mir sicher. In einer Eingabe schrieb ich, dass ein Beweis für die Unschuld meiner Eltern schon darin zu sehen war, wie sie mich erzogen hatten.

Schowkrinskaja: Sie haben alle Ehefrauen verhaftet und alle bedrängt, sich von ihrem Familiennamen loszusagen. Papa hat Mama ein paarmal geschrieben: „Wenn Du den Familiennamen änderst, wird das für die Kinder ein Schlag sein. Sie werden denken, dass ich wirklich ein Verräter, ein Volksfeind bin. Sag den Kindern, dass ich immer aufrichtig, dass ich ein aufrechter Kommunist bin und niemanden verraten habe.“ Wie oft haben sie Mama vorgeladen und ihr immer wieder zugeredet: „Geben Sie den Familiennamen auf. Wir werden den Kindern eine Ausbildung verschaffen.“

Riwtschun: Wissen Sie, ich hatte das ganze Leben den Traum, bis 1956, ob ich denn nicht doch eines Tages würde beweisen können, dass mein Vater völlig unschuldig war. Ich war ganz besessen von dieser Idee. Und das Schicksal ist mir zur Hilfe gekommen. Die Staatsorgane haben das ohne mich in Ordnung gebracht. Verstehen Sie? Und jetzt nach 70 Jahren sind Sie gekommen, um nach ihm zu fragen. Für mich ist das einfach ein Glück. Dass er sozusagen aus dem Nichtsein auftaucht, wenigstens für eine Zeitlang.

Die Zitate sind aus folgenden Interviews entnommen:

Leonid Murawnik
Jelisaweta Riwtschun
Olga Zybulskaja
Walentina Tichanowa
Rosa Schowkrinskaja

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)

Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Boris Kazanskiy (MEMORIAL – Bonn)

© MEMORIAL International 2011

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