(09.12.2004)
Meine Damen und Herren,
 Im Namen der Internationalen Gesellschaft für Historische Aufklärung,  Menschenrechte und Soziale Fürsorge MEMORIAL möchte ich zunächst  denjenigen danken, die uns für diese Auszeichnung vorgeschlagen haben.  Wir sind uns der Bedeutung dieser Auszeichnung für  zivilgesellschaftliche Initiativen bewusst und stolz darauf, dass man  unsere Organisation dieser höchsten solchen Auszeichnung für würdig  hält.
 Besonders erfreut sind wir über die Begründung der Jury, in der es  heißt, dass "Geschichte aufgezeichnet und verstanden werden muss, und  dass nur bei uneingeschränkter Achtung der Menschenrechte dem Erbe der  Vergangenheit mit tragfähigen Lösungen begegnet werden kann".
 In dieser Erklärung spiegeln sich die Grundsätze der Arbeit von MEMORIAL.
 MEMORIAL begann vor 15 Jahren als Organisation für historische  Aufklärung. Dabei handelte es sich um eine Gruppe von Menschen, die sich  die Behandlung der jüngsten Vergangenheit unseres Landes auf die Fahnen  geschrieben hatte - einer Vergangenheit, die das Wort GULAG ins  menschliche Bewusstsein brannte. In jenen Tagen glaubten wir ebenso wie  heute daran, dass Russland ohne eine aufrichtige, schlüssige Analyse des  sowjetischen Staatsterrors weder eine Gegenwart noch eine Zukunft haben  werde.
 Während Russland einen schmerzhaften Bruch mit seiner totalitären  Vergangenheit vollzog, beschloss MEMORIAL, dass es seine Arbeit nicht  länger auf rein historische Untersuchungen beschränken könne.  Wiederholten Rückfällen in totalitäre Politik gegenüber konnten wir  nicht gleichgültig bleiben. Daher nahmen wir kurz nach der Gründung von  MEMORIAL den Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen auf.
 Grundsätzlich sehen wir diese beiden Aspekte unserer Arbeit - den Kampf  um die Durchsetzung der historischen Wahrheit und den Kampf um die  Achtung der Menschenrechte in der Gegenwart - als organisches Ganzes,  dessen wichtigste Quelle in einem elementaren Bekenntnis zur Herrschaft  des Rechts liegt.
 Einerseits bietet uns die Sprache des Rechts die Möglichkeit, uns den  Tragödien der Vergangenheit wie dem stalinistischen Terror auf eine neue  Weise zu nähern und sie so als Teil einer Gesamtpolitik zu begreifen,  die auf die konsequente Unterdrückung der Rechte und Freiheiten des  Einzelnen gerichtet war.
 Andererseits betrachten wir die Verletzungen der Menschenrechte, wie sie  heute täglich, ja stündlich in Russland geschehen, als Folgen der  Geschichte und des imperialen und totalitären Denkens, das noch immer  nicht der Vergangenheit angehört.
 Zu den Rückfällen gehören Versuche, die Massenmedien und die Wirtschaft  sowie unabhängige politische und nichtstaatliche Einrichtungen der  staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Dazu gehört der  Geheimhaltungswahn, dem bereits mehrere russische Journalisten,  Umweltaktivisten und Wissenschaftler zum Opfer gefallen sind. Und dazu  gehört zweifellos auch die Schaffung stets neuer Mechanismen der so  genannten "gelenkten Demokratie" durch die Behörden.
 Dreh- und Angelpunkt aller Geschehnisse im heutigen Russland jedoch ist  Tschetschenien. Der erste Tschetschenienkrieg begann vor zehn Jahren,  etwa zu dieser Zeit.
 Die Historiker und Menschenrechtsaktivisten bei MEMORIAL gehen auf  gleiche Weise zu Werke: Beide Gruppen tragen Fakten zusammen, die sie  verifizieren, systematisch aufarbeiten und analysieren, um sie dann der  Öffentlichkeit zu präsentieren.
 Dieser einheitliche Ansatz ist vielen Aspekten unserer Arbeit gemein:  Schutz der Rechte diskriminierter ethnischer Minderheiten;  Flüchtlingsrechte; Rechte ehemaliger Opfer politischer Unterdrückung und  Bildungsprojekte mit Schülern, Studenten und Lehrern.
 Er liegt auch der Arbeit zugrunde, die wir in Tschetschenien und anderen  "hot spots" überall in der ehemaligen UdSSR leisten, ebenso wie unserer  Arbeit in historischen Archiven, die für uns aufgrund ihrer begrenzten  Zugänglichkeit ebenfalls "hot spots" bleiben.
 Menschenrechte leiten unser gesamtes Handeln. Sie sind keine neue  allgemein gültige Religion oder Ideologie. Vielmehr sind sie ein  einfaches Koordinatensystem, das unserer Orientierung dient - sowohl  durch die tragischen Irrgärten der Vergangenheit als auch durch die  schnelllebige Welt von heute, die immer gefährlicher und  entmenschlichter wird. Wenn MEMORIAL von grausamen und offenkundigen  Verletzungen der Menschenrechte in Vergangenheit und Gegenwart spricht,  so steht dies nicht für einen Glauben, sondern für die Werte, denen  unsere tägliche Arbeit gilt.
 Ich habe natürlich nicht vergessen, dass man die Auszeichnung, die uns  heute verliehen wird, oft als "Alternativen Nobelpreis" bezeichnet. Wir  werden also nicht nur als russische Organisation geehrt, und auch nicht  allein als Organisation, die sich mit der sowjetischen Vergangenheit und  der postsowjetischen Gegenwart auseinandersetzt. Und das ist richtig.
 Hinter unserer Arbeit steht der Einsatz für Wahrheit und Recht. Damit  muss der Versuch einhergehen, die Vergangenheit zu verstehen und  Antworten auf aktuelle Herausforderungen zu finden. Die tragische  Vergangenheit, die wir zu analysieren und verstehen angetreten sind, ist  unsere gemeinsame Vergangenheit. Denn die Katastrophen des 20.  Jahrhunderts - Auschwitz, Hiroshima und die Strafkolonie Kolyma im  fernen Norden Russlands - sind Tragödien der Welt, nicht einzelner  Völker oder Länder. Hätten wir sie verstehen können, gäbe es vielleicht  klarere Antworten auf die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts, auf  den 11. September und den Angriff auf die Schule in Beslan. Auch diese  Herausforderungen betreffen die gesamte Menschheit, nicht allein die USA  und Russland. Sie gelten denselben Werten: der Freiheit, der Würde und  der Unabhängigkeit des Einzelnen.
 Unsere Beschäftigung mit Vergangenheit und Gegenwart ist nicht auf eine  bestimmte Epoche beschränkt. Sie ist ein lebendes Werk. 
 Die sprichwörtliche Einheit von Vergangenheit und Gegenwart zum Wohle  der Zukunft wird für all jene, die an dieser Arbeit beteiligt sind,  immer wichtiger werden. Der inhärente Zusammenhang zwischen historischem  Gedächtnis und Eintreten für Menschenrechte wird den Menschen immer  deutlicher bewusst.
 Vielen Dank! 	 
 Elena Zhemkowa - Internationale Gesellschaft MEMORIAL
 Übersetzt aus dem Englischen von Katrin Granzow
(09.12.2004)
Meine Damen und Herren,
 Im Namen der Internationalen Gesellschaft für Historische Aufklärung,  Menschenrechte und Soziale Fürsorge MEMORIAL möchte ich zunächst  denjenigen danken, die uns für diese Auszeichnung vorgeschlagen haben.  Wir sind uns der Bedeutung dieser Auszeichnung für  zivilgesellschaftliche Initiativen bewusst und stolz darauf, dass man  unsere Organisation dieser höchsten solchen Auszeichnung für würdig  hält.
 Besonders erfreut sind wir über die Begründung der Jury, in der es  heißt, dass "Geschichte aufgezeichnet und verstanden werden muss, und  dass nur bei uneingeschränkter Achtung der Menschenrechte dem Erbe der  Vergangenheit mit tragfähigen Lösungen begegnet werden kann".
 In dieser Erklärung spiegeln sich die Grundsätze der Arbeit von MEMORIAL.
 MEMORIAL begann vor 15 Jahren als Organisation für historische  Aufklärung. Dabei handelte es sich um eine Gruppe von Menschen, die sich  die Behandlung der jüngsten Vergangenheit unseres Landes auf die Fahnen  geschrieben hatte - einer Vergangenheit, die das Wort GULAG ins  menschliche Bewusstsein brannte. In jenen Tagen glaubten wir ebenso wie  heute daran, dass Russland ohne eine aufrichtige, schlüssige Analyse des  sowjetischen Staatsterrors weder eine Gegenwart noch eine Zukunft haben  werde.
 Während Russland einen schmerzhaften Bruch mit seiner totalitären  Vergangenheit vollzog, beschloss MEMORIAL, dass es seine Arbeit nicht  länger auf rein historische Untersuchungen beschränken könne.  Wiederholten Rückfällen in totalitäre Politik gegenüber konnten wir  nicht gleichgültig bleiben. Daher nahmen wir kurz nach der Gründung von  MEMORIAL den Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen auf.
 Grundsätzlich sehen wir diese beiden Aspekte unserer Arbeit - den Kampf  um die Durchsetzung der historischen Wahrheit und den Kampf um die  Achtung der Menschenrechte in der Gegenwart - als organisches Ganzes,  dessen wichtigste Quelle in einem elementaren Bekenntnis zur Herrschaft  des Rechts liegt.
 Einerseits bietet uns die Sprache des Rechts die Möglichkeit, uns den  Tragödien der Vergangenheit wie dem stalinistischen Terror auf eine neue  Weise zu nähern und sie so als Teil einer Gesamtpolitik zu begreifen,  die auf die konsequente Unterdrückung der Rechte und Freiheiten des  Einzelnen gerichtet war.
 Andererseits betrachten wir die Verletzungen der Menschenrechte, wie sie  heute täglich, ja stündlich in Russland geschehen, als Folgen der  Geschichte und des imperialen und totalitären Denkens, das noch immer  nicht der Vergangenheit angehört.
 Zu den Rückfällen gehören Versuche, die Massenmedien und die Wirtschaft  sowie unabhängige politische und nichtstaatliche Einrichtungen der  staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Dazu gehört der  Geheimhaltungswahn, dem bereits mehrere russische Journalisten,  Umweltaktivisten und Wissenschaftler zum Opfer gefallen sind. Und dazu  gehört zweifellos auch die Schaffung stets neuer Mechanismen der so  genannten "gelenkten Demokratie" durch die Behörden.
 Dreh- und Angelpunkt aller Geschehnisse im heutigen Russland jedoch ist  Tschetschenien. Der erste Tschetschenienkrieg begann vor zehn Jahren,  etwa zu dieser Zeit.
 Die Historiker und Menschenrechtsaktivisten bei MEMORIAL gehen auf  gleiche Weise zu Werke: Beide Gruppen tragen Fakten zusammen, die sie  verifizieren, systematisch aufarbeiten und analysieren, um sie dann der  Öffentlichkeit zu präsentieren.
 Dieser einheitliche Ansatz ist vielen Aspekten unserer Arbeit gemein:  Schutz der Rechte diskriminierter ethnischer Minderheiten;  Flüchtlingsrechte; Rechte ehemaliger Opfer politischer Unterdrückung und  Bildungsprojekte mit Schülern, Studenten und Lehrern.
 Er liegt auch der Arbeit zugrunde, die wir in Tschetschenien und anderen  "hot spots" überall in der ehemaligen UdSSR leisten, ebenso wie unserer  Arbeit in historischen Archiven, die für uns aufgrund ihrer begrenzten  Zugänglichkeit ebenfalls "hot spots" bleiben.
 Menschenrechte leiten unser gesamtes Handeln. Sie sind keine neue  allgemein gültige Religion oder Ideologie. Vielmehr sind sie ein  einfaches Koordinatensystem, das unserer Orientierung dient - sowohl  durch die tragischen Irrgärten der Vergangenheit als auch durch die  schnelllebige Welt von heute, die immer gefährlicher und  entmenschlichter wird. Wenn MEMORIAL von grausamen und offenkundigen  Verletzungen der Menschenrechte in Vergangenheit und Gegenwart spricht,  so steht dies nicht für einen Glauben, sondern für die Werte, denen  unsere tägliche Arbeit gilt.
 Ich habe natürlich nicht vergessen, dass man die Auszeichnung, die uns  heute verliehen wird, oft als "Alternativen Nobelpreis" bezeichnet. Wir  werden also nicht nur als russische Organisation geehrt, und auch nicht  allein als Organisation, die sich mit der sowjetischen Vergangenheit und  der postsowjetischen Gegenwart auseinandersetzt. Und das ist richtig.
 Hinter unserer Arbeit steht der Einsatz für Wahrheit und Recht. Damit  muss der Versuch einhergehen, die Vergangenheit zu verstehen und  Antworten auf aktuelle Herausforderungen zu finden. Die tragische  Vergangenheit, die wir zu analysieren und verstehen angetreten sind, ist  unsere gemeinsame Vergangenheit. Denn die Katastrophen des 20.  Jahrhunderts - Auschwitz, Hiroshima und die Strafkolonie Kolyma im  fernen Norden Russlands - sind Tragödien der Welt, nicht einzelner  Völker oder Länder. Hätten wir sie verstehen können, gäbe es vielleicht  klarere Antworten auf die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts, auf  den 11. September und den Angriff auf die Schule in Beslan. Auch diese  Herausforderungen betreffen die gesamte Menschheit, nicht allein die USA  und Russland. Sie gelten denselben Werten: der Freiheit, der Würde und  der Unabhängigkeit des Einzelnen.
 Unsere Beschäftigung mit Vergangenheit und Gegenwart ist nicht auf eine  bestimmte Epoche beschränkt. Sie ist ein lebendes Werk. 
 Die sprichwörtliche Einheit von Vergangenheit und Gegenwart zum Wohle  der Zukunft wird für all jene, die an dieser Arbeit beteiligt sind,  immer wichtiger werden. Der inhärente Zusammenhang zwischen historischem  Gedächtnis und Eintreten für Menschenrechte wird den Menschen immer  deutlicher bewusst.
 Vielen Dank! 	 
 Elena Zhemkowa - Internationale Gesellschaft MEMORIAL
 Übersetzt aus dem Englischen von Katrin Granzow