Die Verhaftungen in Russland im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine gehen täglich weiter. Bis zum 2. März meldete OVD-Info insgesamt 6.824 verhaftete Personen und zieht ein Fazit der Tage vom 24. - 27. Februar, in denen mindestens 5.935 Menschen verhaftet wurden. Wir bringen die Informationen in Übersetzung leicht gekürzt.
Gewalt und gesetzeswidriges Verhalten der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten
Festnahmen von Journalisten
Strafverfahren
Bislang sind zwei Strafverfahren wegen Teilnahme an Anti-Kriegsdemonstration bekannt: Am 24. Februar hatte in Moskau eine junge Frau einen Molotov-Cocktail in Richtung Sicherheitskräfte geworfen, am 27. Februar war ein Mann mit einem Wagen, auf den Anti-Kriegs-Losungen geschrieben waren, in eine Absperrung gerast und hatte danach das Auto angezündet. Die Frau wurde in Untersuchungshaft genommen wegen Gewaltanwendung gegen Polizeibeamte (Art. 318 StGB RF), gegen den Mann wurde ein Verfahren wegen Rowdytums eingeleitet (Art. 213 StGB RF). Über gegen ihn verhängte freiheitsbeschränkende Maßnahmen ist bislang nichts bekannt.
Widerstand ohne Führung
Die 75-jährige Petersburger Künstlerin Marina wurde am 26. Februar bei der Demonstration am Gostinjy Dvor festgenommen, wo sie zusammen mit ihrer Tochter und deren Freundin war. Man ließ sie laufen, weil der Gefangenenbus überfüllt war, ihre Tochter brachte man auf das Polizeirevier: „Noch war alles ruhig, die Leute hatten sich gerade versammelt. Ich ging auf einen Polizisten zu. Die Kinder sagten mir, ich solle das lassen, aber ich ging trotzdem hin. Ich sage ihnen: \'Na, wie geht\' euch? Ihr habt sicher eine schwierige Arbeit.\' Sie antworten mir: \'Wir tun unsere Pflicht.\' Ich sage: \'Schnappt euch wenigstens nicht die Mädchen, sondern nur Jungs.\' Sie sagen: \'Wie, wollen Sie Ungehorsam nach Gendermerkmalen unterteilen?\' Ich sage: \'Ja, das würde ich gern.\' Kaum ging ich von ihnen weg, zerrten sie vor meinen Augen meine Tochter in den Gefangenentransporter.“
Für Marina war dies ihre erste Demonstration. Neben ihr in der Menge der Demonstranten stand die 60-jährige Tatjana, auch sie das erste Mal auf einer Protestaktion: „In der letzten Zeit war ich nicht mehr auf solchen Veranstaltungen, aber 1991 bin ich auch auf die Straße gegangen. Und damals wie heute ist es beängstigend. Aber ich muss auf die Straße. Dort ist es doch noch beängstigender: Es ist Krieg, Menschen kommen um. Und die wirtschaftlichen Folgen für unser Land, die menschlichen Opfer, das alles macht Angst. Aber wenn man jetzt nicht auf die Straße geht, wie werden wir dann unseren Kindern in die Augen sehen?“
Der 65-jährige Rostislav steht in eine der ersten Reihen, nah bei den Polizeibeamten, die in einem fort mitteilen, dass die Protestierenden gegen das Verbot von Massenveranstaltungen im Zusammenhang mit dem Corona-Virus verstoßen. „Ich habe keine Angst, dass sie mich festnehmen. Ich weiß sehr genau, dass ich einfach dafür verhaftet werden kann, dass ich hier stehe. Bei uns ist man sogar ein Verbrecher, wenn man gegen die Regierung schweigt. Es reicht langsam, Angst zu haben. 20 Jahre haben wir Angst gehabt. Mittlerweile habe ich schon vor nichts mehr Angst.“
Rostislav ist im Donbass aufgewachsen. Für ihn ist der Beginn der Kriegshandlungen Russlands auf dem Territorium der Ukraine auch eine persönliche Tragödie: „Leider ist der okkupierte Teil dort von der russischen Propaganda vergiftet, so wie auch der größte Teil der russischen Bevölkerung. Aber dafür stehe ich jetzt neben reinen und offenen Menschen.“
Die 25-jährige Galina steht weitab von der Menge: „Ich gehe immer zu Demonstrationen, wenn ich kann. In der letzten Zeit verwandelt sich das immer mehr in eine Flucht vor großen Leuten in schwarzen Uniformen (OMON-Mitarbeiter). Aber im Land geht gerade so Schreckliches vor sich. Die Menschen kommen nicht nur hierher, um der Welt zu zeigen, dass wir gegen den Krieg in der Ukraine sind, sondern um sich in ihrer Haltung geeint zu fühlen.“
Der Maßstab der Proteste nähert sich seit dem Moment von Putins Amtsantritt einem Rekordhoch. Ein ähnliches Maß an Unzufriedenheit war vor einem Jahr zu spüren im Zusammenhang mit der Vergiftung Navalnyjs, seiner Verhaftung bei der Rückkehr nach Russland und der Veröffentlichung des Films über Putins Palast in Gelendzhik. Doch damals existierte ein Netz von Navalnyj-Stäben und andere oppositionelle Gruppen, die gleichzeitig in verschiedenen Städten agierten. Im Laufe des Jahres 2021 wurden die Repressionen verstärkt: Hunderte Menschen wurden aus politischen Motiven verfolgt, tausende verließen das Land, weil sie Verfolgung fürchteten.
Ablauf der Festnahmen
Es sind viele Fälle von Verhaftungen bei Einzelkundgebungen gegen den Krieg bekannt, von Menschen, die mit gelb-blauen Luftballons und Blumen, Abzeichen, medizinischen Masken oder Kleidung mit pazifistischer Symbolik unterwegs waren. Die Polizisten gehen zu Menschen, die Anti-Kriegsplakate in ihre Fenster gehängt haben. Weitere Anlässe für Verhaftungen sind Post und Reposts mit Ankündigungen von Demonstrationen, die Verbreitung von Flugblättern oder das Anbringen von Anti-Kriegsparolen auf Wänden. In Moskau erzählten Verhaftete von überfüllten Gefangenenbussen. In Nizhnij Novgorod und St. Petersburg verwendete man mitunter Stadtbusse anstelle von Gefangenentransportern.
Anklagen
Verstoß bzw. wiederholter Verstoß gegen das Versammlungsrecht (Art. 20.2 Teil 5, Teil 8, Teil 2 Ordnungsstrafrecht RF), Widerstand gegen die Staatsgewalt (Art. 19.3 Ordnungsstrafrecht RF), Organisation der gleichzeitigen Anwesenheit von Bürgern an einem öffentlichen Ort, die zu einer Störung der öffentlichen Ordnung führt (Art. 20.2.2 Teil 1 Ordnungsstrafrecht RF), mildes Rowdytum (Art. 20.1 Ordnungsstrafrecht RF), Behinderung der öffentlichen Infrastruktur (20.2 Teil 6.1 Ordnungsstrafrecht RF), Nichteinhaltung von Notfallvorschriften (Art. 20.6.1 Ordnungsstrafrecht RF), Verstoß gegen Coronavirus-Beschränkungen (Art. 8.6.1 Ordnungsstrafrecht der Stadt St. Petersburg) sowie Drogenkonsum (Art. 6.9 Ordnungsstrafrecht RF)
Mögliche Sanktionen
Geldstrafen zwischen 2000 und 300 000 Rubel (ca. 16,- bis 2420,- Euro), Haftstrafen von bis zu 30 Tagen.
2. März 2022