Bericht des Menschenrechtszentrums Memorial
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kam am 31. August 2021 im Fall der 2009 ermordeten Natalja Estemirova, Mitarbeiterin der tschetschenischen Vertretung des Menschenrechtszentrums Memorial, zu dem Urteil, dass die Behörden der Russischen Föderation die Verantwortung für die unzureichende Untersuchung dieses Verbrechens tragen.
Festgestellt wurde ein Verstoß gegen die verfahrensrechtlichen Verpflichtungen gemäß Artikel 2 (Recht auf Leben) der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie ein Verstoß gegen Artikel 38 (Prüfung der Rechtssache), da die russischen Behörden es versäumt hatten, dem EGMR größere Teile der Akte zur Verfügung zu stellen.
Leider stellte der EGMR keinen substantiellen Verstoß gegen Artikel 2 fest, das heißt es sah keine Verantwortung der Staatsvertreter für die Ermordung der Aktivistin. Die Schwester Natalja Estemirovas erhält eine moralische Kompensation in Höhe von 20 000 Euro.
Natalja Estemirova war am frühen Morgen des 15. Juli 2009 neben ihrem Haus in Grozny entführt worden. Einige Stunden später fand man ihre Leiche mit Schussverletzungen in Inguschetien unweit des Dorfes Gasi-Jurt. Seit Anfang der 1990er Jahre kämpfte Natalja Estemirova gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien. Im Herbst 1999, zu Beginn des Zweiten Tschetschenischen Kriegs, begann sie mit dem Menschenrechtszentrum Memorial zusammenzuarbeiten. Dank ihrer unerschrockenen Arbeit erfuhr die Welt von dem Raketenangriff auf das Zentrum von Grozny im Jahr 1999, bei dem mehr als hundert friedliche Zivilisten ums Leben gekommen waren, von dem Mord an Dutzenden friedlichen Bürgern durch die russischen Sicherheitskräfte im Dorf Novye Aldy im Februar 2000, von gewaltsamen Entführungen, Folterungen, außergerichtlichen Hinrichtungen und Brandanschlägen zur Bestrafung in den Jahren 2007 – 2009 sowie von vielen anderen Verbrechen zunächst der russischen Soldaten und Polizei und später der Mitarbeiter tschetschenischer Sicherheitsstrukturen.
2008 verlangten die tschetschenischen Behörden, dass Frauen ein Kopftuch tragen müssten. Estemirova sprach sich dagegen aus. Daraufhin drohte ihr Staatsoberhaupt Ramzan Kadyrov persönlich. Eines der letzten Verbrechen, dass sie öffentlich machte, war die öffentliche Hinrichtung Rizvan Albekovs durch bewaffnete Personen am 7. Juli 2009 in dem Ort Achkintschu-Borzoj. Auch danach erhielt Natalja Drohungen.
Trotzdem lautet die Hauptversion, an der die russischen Behörden festhalten, dass Estemirova von dem Kämpfer Alchazur Baschaev getötet wurde. Diese Version taucht im Januar 2010 auf, nachdem der mutmaßliche Verbrecher nach der offiziellen Version bei einer Spezialoperation am 13. November 2009 ums Leben gekommen war. Die Ermittler hatten den Mord an Natalja Estemirova zunächst damit in Zusammenhang gebracht, dass sie von der Beteiligung Baschaevs an der Anwerbung von Kämpfern wusste und darüber geschrieben hatte. Später wurde diese Version vom Ermittlungskomitee ergänzt: Angeblich habe Baschaev Estemirova auf Befehl von Doku Umarov getötet (zu diesem Zeitpunkt Anführer des Kaukausus-Emirats, einer in Russland verbotenen terroristischen Organisation) mit dem Ziel, die Behörden Russlands und Tschetscheniens vor den anstehenden Verhandlungen zwischen dem russischen Präsidenten Dmitrij Medvedev und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel zu diskreditieren.
Im Jahr 2013 umfasste die Strafakte zum Mord an Natalja Estemirova nicht weniger als 95 Bände. Jedoch gestatte man dem Anwalt ihrer Schwester, die in dem Verfahren als Geschädigte anerkannt worden war, lediglich neun der Bände zu lesen und auch das nur unter der Bedingung der Geheimhaltung. Gleichzeitig gelang es ihm nicht, Zugang zu den Materialien des Verfahrens zu erhalten, die die Untersuchungen im ersten halben Jahr nach dem Mord, also von Juli 2009 bis zum Januar 2010 betreffen. Die russischen Gerichte erklärten, die Verweigerung der Akteneinsicht sei rechtmäßig gewesen. Am 21. Juni 2011 reichte die Schwester Natalja Estemirovas Svetlana Klage beim EGMR ein.
Nach Eingang der Klage legten die Behörden der RF dem EGMR lediglich eineinhalb Tausend von mehr als zehntausend Seiten der Verfahrensakte vor. Bei den durch die Regierung zur Verfügung gestellten Dokumente fehlten:
Man kann sagen, dass das von den Behörden an den EGMR übermittelte Material so ausgewählt wurde, dass es die offizielle Version, Alchazur Baschaev habe den Mord begangen, bestätigt. Für diese Version werden in der Untersuchung die folgenden Argumente angeführt:
Memorial hält die Hauptversion der Ermittlungen aus folgenden Gründen für unhaltbar:
Der EGMR hat festgestellt, dass die Untersuchung des Mordes an Natalja Estemirova nicht als effektiv angesehen werden kann und dass die Version der Ermittlung nur wenige Beweise enthält, zu denen es unschlüssige und gegensätzliche Expertenbefunde gibt. Im Einzelnen konstatierte der EGMR, dass durch die Sachverständigen nicht genau festgestellt wurde, dass …
Der EGMR stellte ebenso fest, dass die Ermittlung nicht erklärte, warum am Körper Estemirovas sowie am Tatort keine DNA-Spuren von Baschaev und anderen Mitgliedern illegal bewaffneter Gruppen gefunden wurden. Für das Gericht war nicht ersichtlich, dass die Behörden den Versuch unternommen haben, alle am Verbrechen Beteiligten zu identifizieren. Der EGMR bemerkte außerdem, dass die Behörden nicht alle Dokumente des Verfahrens zur Verfügung gestellt haben.
Das Menschenrechtszentrum Memorial bedauert, dass der EGMR die Verantwortung der Staatsmacht für den Tod Natalja Estemirovas nicht anerkannt hat. Zuvor hatte Oleg Orlov, Leiter des Programms „Gorjatschie Totschki“ [Brennpunkte] die Verantwortung Ramzan Kadyrovs ausführlich dargelegt. In Zusammenhang damit war Oleg Orlov der Verleumdung beschuldigt worden, man eröffnete ein Strafverfahren gegen ihn, jedoch wurde er vor Gericht freigesprochen. Seinen vollständigen Auftritt zu seiner Verteidigung vor Gericht finden Sie hier (auf Russisch).
Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker
31. August / 17. September 2021