Im Laufe des Prozesses gegen Jurij Dmitriev reisten seit Beginn des Verfahrens regelmäßig Unterstützer zu den Verhandlungstagen nach Petrozavodsk. Da der Prozess nicht öffentlich war, durften die Angereisten sich nur in dem Korridor vor dem Verhandlungssaal bzw. vor dem Gerichtsgebäude aufhalten. Der Kontakt zu Dmitriev war somit auf die wenigen Minuten beschränkt, in denen er von den Sicherheitskräften durch den Flur zur Verhandlung geführt wurde. „Takie Dela“ sprach mit drei Personen, die regelmäßig dabei waren. Wir bringen ihre Erzählungen leicht gekürzt in Übersetzung.
Svetlana Panitsch, Übersetzerin, Moskau
Es gibt Ereignisse, die nicht direkt zur dir in Beziehung stehen, die aber unterschwellig, unbemerkt ein Teil deiner Biographie werden. Der Prozess gegen Dmitriev wurde für mich zu einem solchen Ereignis. Da ein Teil meiner wissenschaftlichen Studien mit der Erforschung von Erinnerungsnarrativen über die Tragödien des 20. Jahrhunderts verbunden ist, wusste ich auch vorher schon, dass es in Karelien diesen Historiker Jurij Dmitriev gibt, der seit vielen Jahren Erschießungsgruben findet und den Opfer des Terrors ihre Namen wiedergibt. Darauf beschränkte sich das Wissen. Als Jurij Dmitriev das erste Mal verhaftet wurde, blieb ich distanziert-mitfühlend. Aber dann fiel mir der Aufsatz von Schura Burtin „Der Fall Chottabytsch“ in die Hände.
Ich brauchte mehrere Tage, um wieder zu mir zu kommen: Hier, in unserer Zeit, vor unseren Augen geschah genau das, worüber alle Opfer totalitärer Regime schrieben: Ein unschuldiger Mensch verliert seine Freiheit für ein nicht existierendes Verbrechen oder genauer gesagt, dafür, dass er allein mit der Tatsache seines unkontrollierbaren menschlichen Lebens einen Übergriff auf die Unantastbarkeit eines unmenschlichen Systems wagt. Um es mit den Worten von Nadeshda Mandelstam zu sagen: „Nicht für was, sondern warum.“
Allerdings wurde die Anklage im vorliegenden Fall mit besonders zynischer Berechnung gewählt, nämlich so, dass die Reputation einer nicht immer bequemen, aber zweifellos reinen und freien Persönlichkeit auf ewig besudelt ist, dass schmutziges Geflüster provoziert wird, nach dem Motto \'Kein Rauch ohne Feuer\', und damit die öffentliche Unterstützung moralisch geschwächt und entzogen wird.
Ich begann diese Geschichte aufmerksamer zu verfolgen, aber weiter als die Teilnahme an Abenden, Unterschriften und Versammlungen zugunsten Jurij Dmitrievs ging es nicht, bis ich aus eigener Erfahrung erleben musste, was Verleumdung mit einem Menschen macht und wie heilsam es ist, wenn sich jemand findet, der das nicht glaubt, egal, welche Masken der Plausibilität die Lüge auch anzieht.
Mir nahestehende Menschen begannen nach Petrozavodsk zu fahren, um Dmitriev zu unterstützen. Früher habe ich keine Gerichtsverhandlungen besucht, andere Formen des Mitgefühls waren mir näher, aber plötzlich wurde mir klar: Man muss dorthin fahren, genauer gesagt, man kann nicht nicht fahren. Im Herbst 2017 war ich das erste Mal im Korridor des Petrozavodsker Gerichts und verstand in aller Selbstverständlichkeit, wovon ich mich später immer wieder überzeugen konnte: Hier passiert etwas außerordentlich Wichtiges. Gute Leute kommen nicht einfach so zusammen, um einen unschuldig Verurteilten zu unterstützen. In einem Raum von Entfremdung, Angst und Unglück geschieht das, was man am treffendsten mit dem biblischen Begriff \'Chesed\' bezeichnen kann – ein uneigennütziges Beteiligtsein, eine bedingungslose, außerhalb einer Organisation stehende Solidarität als Form des Widerstands gegen Gesetzlosigkeit. Schwer zu sagen, in wie weit unsere Anwesenheit die rechtliche Seite beeinflusst. In gewisser Weise nimmt sie natürlich Einfluss, weil sie immerhin zeigt: Den karelischen Memorial-Mitarbeiter benötigen sehr viele, sehr unterschiedliche Menschen und die werden nicht zurückweichen. Auf jeden Fall aber verändert diese Anwesenheit „die Luft“ in den Gerichtskorridoren: Mehrfach habe ich in den Augen der Gerichtswachtmeister, die aufgestellt wurden, um unsere angeblichen Ausschreitungen zu unterbinden, eine nicht vorschriftsgemäße, mitfühlende Nachdenklichkeit gesehen. Lohnt es sich also, um Dmitriev ein paar Minuten im Flur zu applaudieren, dorthin zu fahren?
Unbedingt. Erstens: Weil sich der Sinn des Ereignisses nicht durch seine Dauer definiert; Verleumdung wird entwaffnet und Gesetzeslosigkeit durch die Anwesenheit derer entlarvt, die mit ihr aktiv nicht einverstanden sind. Zweitens: Genau um dieser Solidarität der Generationen willen, die stets, zu allen Zeiten ein Faktor bürgerlicher Freiheit war. Drittens: Die aus sehr unterschiedlichen Menschen bestehende Gemeinschaft, die sich rund um das „Verfahren Dmitriev“ versammelt hat, fühlt nicht einfach nur mit, unterstützt und sorgt sich gemeinsam, sondern führt in gewisser Weise sein Lebenswerk weiter.
Eine lebendige Gemeinschaft tritt für einen Menschen ein, der mühselig und behutsam die Gemeinschaft derjenigen wiederhergestellt hat, die aus einem häuslichen, warmen und schutzlosen Leben herausgerissen, in Herden und Scharen wie am Fließband erschossen wurden, Menschen allen Alters, aller Nationalitäten, Schichten, Berufe, Gläubige, Atheisten, Privatpersonen in all ihrer Verschiedenartigkeit. Und wir, die wir einfach nur heil geblieben sind, weil wir später geboren wurden, sind dafür verantwortlich, dem Menschen seinen guten Namen und die Freiheit wiederzugeben.
Ksenija At, Musikerin, Minsk
Ich erfuhr von Jurij Dmitriev aus dem Artikel Schura Burtins „Der Fall Chottabytsch“. Bis dahin hatten mich politische Dinge nicht interessiert, aber das hat mich ergriffen: Ich las den Text die ganze Nacht und am nächsten Morgen entschied ich, umgehend nach Karelien nach Sandarmoch zu fahren, anzuschauen, womit sich Dmitriev beschäftigte. Am nächsten Tag holte ich Tickets für Medvezhegorsk.
Sandarmoch erwies sich als ein gleichzeitig heller und düsterer Ort: hölzerne Gedenkpfähle (traditionelle Gedenkzeichen auf Friedhöfen des russischen Nordens; Red. Takie Dela), Kirchen mit gerade erloschenen Kerzen, Plakate mit der Suche nach Verwandten, es begrüßte uns die klingende Stille des Waldes. Wer das erste Mal in dieses Waldstück gerät, wird von seiner Atmosphäre, seiner Geschichte, der Schwere der Bedeutung etwas niedergedrückt. Man steht inmitten eines internationalen Massengrabes – eines Denkmals für Gefangene, das sich über 10 Hektar erstreckt.
Zur Verhandlung fahren konnte ich erst im April 2018. Ich verstand, dass ich einfach verpflichtet war, Dmitriev irgendwie zu unterstützen. Damals stand er unter Ausreiseverbot. Nach der Verhandlung machten wir uns bekannt und freundeten uns an, wir haben ganz ähnliche Ansichten zu vielen Dingen und beide lieben wir die Kartographie. Die Eindrücke waren riesig, es stellte sich heraus, dass man sich mit einem solch monolithischen und erstaunlichen Menschen so nah und warm austauschen kann!
Dreimal fuhr ich zur Verhandlung. Seit Beginn des zweiten Verfahrens befindet sich Jurij Dmitriev in Untersuchungshaft und man kann ihm jetzt nur noch im Flur zuwinken, wenn er in den Gerichtssaal geführt wird. Ich weiß, dass ihn das unterstützt, deshalb bin ich immer froh, wenn ich hinfahren kann, um ihn zu sehen und sei es nur für ganz kurz. Für einen vollwertigeren Austausch stehen wir im Briefverkehr, soweit es der Zensor des FSIN [Föderaler Strafvollzugsdienst, Anm. d. Übers.] gestattet. Die Briefe sind für den Austausch von Meinungen und Ereignissen, aber die Unterstützung vor Gericht wie eine warme Erinnerung daran, dass wir in der Nähe sind.
Im letzten Sommer habe ich beobachtet, wie die Russische Militärhistorische Gesellschaft RVIO in Sandarmoch Ausgrabungen vornimmt (Die Russische Militärhistorische Gesellschaft versucht in Sandarmoch Überreste sowjetischer Kriegsgefangener zu finden, die dort angeblich von den Finnen während des Kriegs erschossen worden sind. Wissenschaftliche Beweise für diese Hypothese gibt es nicht. Red. Takie Dela). Wir fuhren dorthin, um sorgfältig aufzuzeichnen, was dort vor sich geht und damit nichts in die Gräben geworfen wird. Für mich ist ebenfalls sehr wichtig, dass die Unterstützergruppe von Jurij Dmitriev sehr vielfältig, kraftvoll und intelligent ist. Es ermutigt mich sehr, dass wir alle zusammen kleine Dinge dafür tun, dass Jurij Dmitrievs Werk nicht vernichtet wird.
Viktor Tumarkin, Computertechnologe, Moskau
Die letzten 14 Jahre habe ich mich mit der elektronischen Übersetzung von Archivdokumenten aus der Zeit des Großen Vaterländischen Kriegs beschäftigt, war beteiligt an der Herstellung von Homepages des Verteidigungsministeriums mit den Datenbanken „Memorial“, „Podvig Naroda“, „Pamjat Naroda“ [Datenbanken zum Großen Vaterländischen Krieg; Anm. d. Übers.]. Vor dem Prozess wusste ich nichts über Dmitriev und seine Tätigkeit. Ich erfuhr das aus den Medien, begann genauer darüber zu lesen. Und ziemlich schnell wurde klar, wofür man ihn tatsächlich verfolgt. Im Herbst 2017 luden Freunde aus der Vereinigung „Freies Wort“ mich ein, mit ihnen nach Petrozavodsk zur Verhandlung zu fahren. Es gelang mir damals nicht, mich loszueisen, geklappt hat das erst im März 2018.
Bei der Gelegenheit konnte ich ihn sogar kennenlernen. Ich stellte mich vor, wir wechselten ein paar Worte. Da waren viele Menschen bei der Verhandlung, aus der Umgebung, aus Moskau und aus Petersburg. Beeindruckt hat mich Jurij Dmitriev selbst und diese Situation, die um ihn herum entstanden war. Damals wusste natürlich niemand, dass es einen Freispruch geben würde. Lediglich der Anwalt trat sehr sicher auf und betonte, man könne siegen. Und Dmitriev hielt sich großartig. Ich erinnere mich, dass ihm jemand zu dem positiven Resultat des psychiatrischen Gutachtens gratulierte. Er antwortete: „Zu was gratulieren Sie mir denn? Dazu, dass ich kein Pädophiler bin? Das weiß ich selbst.“
Während der Fahrt kam es auch zu einer beeindruckenden Reise nach Krasnyj Bor (Erschießungsstätte bei Petrozavodsk, die Dmitriev 1997 entdeckt hatte; Anm. Takie Dela), die der Historiker und Freund Dmitrievs Anatolij Razumov leitete.
Ich war zuvor nie bei Gerichtsverhandlungen gewesen. Und auch damals hätte ich nicht gedacht, dass ich noch so oft fahren würde. Als der Freispruch kam, war von Anfang an klar, dass dies noch nicht das Ende ist, dass die Staatsanwaltschaft Widerspruch einlegen würde. Aber das, was dann folgte, hatte ich persönlich nicht erwartet. Diese Methoden, die die Ermittlung angewendet hat, kann man nicht anders als unmenschlich nennen. Sie haben das Schicksal des Mädchens zerstört. Vor nichts haben sie Halt gemacht, um mit Dmitriev abzurechnen.
Und dann noch diese abscheuliche Entweihung von Sandarmoch. Die Suche nach umgekommenen Rotarmisten, das hängt direkt mit meiner Arbeit zusammen und es fällt mir nicht schwer, die ganzen Lügen der RVIO und der übrigen Barbaren zu erkennen. Und ich begriff, dass ich weiterhin dorthin fahren muss, um im Korridor zu stehen, um zusammen mit den anderen Unterstützern zu applaudieren, um in Moskau die dürftigen Informationen zu überbringen, die man im Flur des Gerichts bekommt, denn die vielen Leute, die zuhause geblieben sind, warten auf Neuigkeiten und Fotos, sorgen sich, saugen jedes Körnchen Information aus Petrozavodsk auf.
Man muss der Unterstützergruppe aus Petrozavodsk, die zu jeder Verhandlung gekommen ist, einen riesengroßen Dank aussprechen. Das sind wunderbare Menschen! Natürlich lernten wir uns alle gegenseitig in diesen Korridoren kennen. Ich weiß nicht, wie oft ich dort war. Ich habe das nicht gezählt. Wann immer ich mich freimachen konnte, bin ich gefahren. Ich weiß, dass sehr viele Leute zur Urteilsverkündung fahren werden. Und sie werden beisammen sein, sich entweder freuen oder sich entrüsten.
Und auch das wird noch nicht das Ende sein. Eine Berufung wird es auf jeden Fall geben, entweder von der einen oder von der anderen Seite. Ich will unbedingt, dass die Gerechtigkeit triumphiert. Gab es etwa viele, die vor dieser scheußlichen Verfolgung von Dmitriev und Sandarmoch wussten? Und jetzt weiß die ganze Welt davon. Damit haben sie kaum gerechnet. Ich begann einen Briefwechsel mit Jurij Dmitriev und überzeugte mich ein weiteres Mal davon, was das für ein unbeugsamer Mensch ist. Ich hoffe, dass sich unsere Bekanntschaft unter normalen Umständen fortsetzt. Eines möchte ich noch sagen. Man versucht Gerüchte zu verbreiten, dass man Dmitriev für seine professionelle Tätigkeit unterstützt und ihm dabei alle möglichen Sünden verzeiht. Das ist Blödsinn! Dmitriev wird unterstützt, weil er unschuldig ist, weil die Anklage fabriziert ist und das auch noch derart grob, dass nur der dies nicht sehen kann, der es nicht sehen will.
Was aber seine professionelle Tätigkeit betrifft, ja, die verdient tiefsten Respekt und Anerkennung. Auf solche Menschen wie ihn muss man stolz sein. Ich erinnere mich, wie Lidia Tschukovskaja irgendwann in den 70er Jahren sagte, dass es bei uns eine Solschenizyn Straße geben wird und einen Akademiker-Sacharov-Platz. Man hat sie ausgelacht. Ich zweifele nicht daran, dass es in Petrozavodsk eine Jurij-Dmitriev-Straße geben wird.
Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker
Juli/September 2020