Frage an die russische Regierung: Warum haben Sie unsere Kinder getötet?

Am 3. Dezember wurde in Charkiv die Ausstellung „Engel der Region Charkiv“ eröffnet. Sie erinnert an Kinder der Region, die von der russischen Armee getötet wurden. Angeregt wurde diese Ausstellung von Tetjana Matjasch-Mirna, der Mutter des getöteten elfjährigen Mark. Die Charkiver Menschenrechtsgruppe und die Gebietsstaatsanwaltschaft haben die Umsetzung dieser Idee unterstützt.

Iryna Skatschko, 4. Dezember 2025

 

Foto: Olha Solapanova
Foto: Olha Solapanova

 

Mut sich zu erinnern

An den Wänden sind Portraits: Junge, lachende Gesichter, Jugendliche und ganz kleine Kinder. Im Hintergrund zerstörte mehrstöckige Häuser von Charkiv, Isjum, Tschuhujiv. Menschen bringen Blumen und Spielzeug in die Halle der Charkiver Medienzentrums. 106 Kinder sind im Gebiet Charkiv seit Beginn der Vollinvasion getötet worden. 36 Familien haben sich an der Ausstellung beteiligt. Es ist sehr schwer, in die Augen des getöteten Kindes im Großformat eines Ausstellungsplakats zu sehen.

Foto: Olha Solapanova
Foto: Olha Solapanova

 

Tetjana Putjatina, die im Februar 2024 fünf Familienmitglieder verloren hat - ihren Sohn, ihre Schwiegertochter und drei Enkel – berührt vorsichtig das kalte Papier, auf dem der siebenjährige Oleksij, der dreijährige Mychajlyk und der zehn Monate alter Pavlyk immer noch lachen und sich umarmen. Tetjana beklagt, dass sie ihren Liebsten kein Denkmal errichten konnte. Auf dem Friedhof stehen fünf Kreuze. Die Bezirksregierung habe dafür derzeit kein Geld.

Tetjana Putjatina. Foto: Olha Solapanova
Tetjana Putjatina. Foto: Olha Solapanova

 

Journalisten umgeben Tetjana Matjasch-Mirna, Sie muss ihre furchtbare Geschichte ständig aufs Neue erzählen. Auf dem Portrait neben ihr ist ihr Mark zu sehen, der für immer elf Jahre alt bleiben wird. Er ist im Oktober 2024 ums Leben kommen: Eine russische 500-Kilo-Bombe hatte ein mehrstöckiges Wohnhaus in Charkiv getroffen.

Tetjana Matjasch-Mirna. Foto: Olha Solapanova
Tetjana Matjasch-Mirna. Foto: Olha Solapanova

 

„Heute haben wir uns nicht zu Zwecken der Kunst, sondern um der Wahrheit willen versammelt“, sagt Tetjana. „Die Geschichte dieser Ausstellung war kein Zufall. Sie wurde aus dem Schmerz geboren, über den man nicht schweigen kann. Es ist der Schrei der Eltern, die ihre Kinder verloren haben, und mein eigener Aufschrei unter ihnen. Den Schmerz zu verschweigen hieße, mich damit abzufinden – das ist mir in einem bestimmten Moment klar geworden. Das Schweigen erlaubt es, unsere Kleinen und Schutzlosen weiterhin zu töten. Russland tötet Kinder, und das muss die ganze Welt sehen. Das ist keine Politik, keine Statistik. Das sind Kinder, die in die Schule gingen, die Träume hatten, malten, sich ihres Lebens freuten. Aber ihr Leben wurde abgebrochen, ihre Namen sind ein Teil einer großen Wunde, die niemals verheilen wird.

Die Idee zu dieser Ausstellung war für mich kein Traum, sie war für mich ein Ziel. Sie ist in Lettland bei der Rehabilitation entstanden, als ich zum ersten Mal anhalten und meine Stille wahrnehmen konnte. Da begriff ich, dass die ganze Welt diese Kinder kennen muss, die ganze Welt muss ihre Gesichter sehen. Denn sie tragen keinerlei Schuld, sie hätten nicht sterben dürfen! Das muss aufhören! Und dafür muss jemand laut die Stimme erheben.

Ich bitte Sie heute darum, schauen Sie nicht weg, schweigen Sie nicht, gewöhnen Sie sich nicht daran! Erinnern Sie sich, dass die Tragödie der Kinder die Tragödie der ganzen Menschheit ist. Und diesen Glockenschlag muss die ganze Welt hören! Die Eröffnung dieser Ausstellung soll keinen Raum dekorieren, sondern die Augen öffnen. Sehen Sie her, erinnern Sie sich, sprechen Sie! Die Erinnerung an diese Kinderist in unseren Herzen und an diesen Wänden. Und möge sie eine große Kraft werden, die die Welt verändert.“

Foto: Olha Solapanova
Foto: Olha Solapanova

 

Svitlana Atschkasova, Staatsanwältin der Charkiver Gebietsstaatsanwaltschaft, verliest einen Brief von Tetjana Tarasenko, die selbst nicht kommen konnte. Das Portrait ihres Sohnes ist ebenfalls hier zu sehen.

„Ich bin die Mutter des ersten Kindes, das in der Ukraine nach der Vollinvasion der Russischen Föderation in die Ukraine getötet wurde. Am 24. Februar 2022, in den ersten Kriegsstunden, kam unser 13-jähriger Sohn Anton in unserer Heimatstadt Tschuhujiv durch eine feindliche Rakete ums Leben. Aber heute spreche ich nicht nur in meinem Namen, ich spreche im Namen aller Eltern, die ihre Kinder in diesem grausamen Krieg verloren haben. Aufgrund ihrer Lebensumstände sind viele von uns heute in der ganzen Welt verstreut, manche befinden sich im Ausland, nicht alle haben die Kraft, vor den Augen ihrer Kinder zu stehen. Diese Ausstellung ist äußerst wichtig für uns… Das ist ein Ort, an dem heute unserer Kinder gedacht wird … Heute in diesem Saal sind die Gedanken und Herzen vieler Eltern, die ihre Kinder verloren haben. Hier, in der Stadt, wo unsere Kinder alle Anwesenden nur noch von einem Foto aus betrachten…“

Foto: Olha Solapanova
Foto: Olha Solapanova

 

Das ist Genozid

Jevhen Sacharov, Foto: Olha Solapanova
Jevhen Sacharov, Foto: Olha Solapanova

 

Viele Familien, deren Kinder durch russische Soldaten getötet wurden, leistet die Charkiver Menschenrechtsgruppe rechtliche und psychologische Hilfe Der Direktor der Organisation Jevhen Sacharov erklärte zur Ausstellungseröffnung:

„Ich möchte Tetjana Matjasch und allen anderen Eltern der getöteten Kinder aufrichtig danken, dass sie die Kraft und den Mut gefunden haben, die Fotos ihrer Kinder für die Ausstellung zur Verfügung zu stellen und über die Getöteten zu berichten. Außerdem möchte ich der Gebietsstaatsanwaltschaft von Charkiv danken, mit der wir diese Ausstellung gemeinsam vorbereitet haben. Wir führen bereits das vierte Jahr zusammen Ermittlungen über die Gewalttaten durch, die Russen im Gebiet Charkiv begangen haben, insbesondere zu den getöteten Kindern. In der Datenbank der Charkiver Menschenrechtsgruppe, die die Verbrechen der russischen Streitkräfte während der Vollinvasion erfasst, sind über 14.000 getötete Zivilpersonen dokumentiert, darunter 672 Kinder, 106 davon im Gebiet Charkiv.

Ich frage die russische Regierung und die russischen Soldaten: Warum haben Sie unsere Kinder getötet? Meine Antwort: Weil sie Bürger der Ukraine waren. Dieses Verbrechen hat einen Namen: Es ist ein Genozid.

Diese Ausstellung muss in der ganzen Welt gezeigt werden, damit sie die Gesichter der Kinder, ihre Augen im Gedächtnis behält, damit sie sieht, was die russische Armee dem ukrainischen Volk antut. Ich habe keine Worte für die Eltern der ermordeten Kinder. Allenfalls eines: Sie ruhen in Gott, und ihre Seelen kehren hierher zu einem neuen Leben zurück. Ich möchte allen Politikern sagen, russischen, amerikanischen, europäischen, ukrainischen: Stimmt eure Friedenspäne zuerst mit den Eltern der getöteten Kinder ab – und diskutiert danach untereinander.“

Foto: Olha Solapanova
Foto: Olha Solapanova

 

Der Menschenrechtsbeauftragte der Ukraine Dmytro Lubinez unterstrich ebenfalls die Notwendigkeit, über die russischen Verbrechen zu informieren:

„Seit 2014 führen die Russen einen gezielten Krieg gegen die Ukraine, der auf die totale Vernichtung hinausläuft. Totale Vernichtung beginnt mit den Kindern, deshalb töten die Russen ukrainische Kinder, verstümmeln sie, vergewaltigen sie, deportieren sie. Sie tun dies bewusst und gezielt, systematisch, grausam und unverhohlen. Wir müssen das in die ganze Welt hinausschreien. Die Welt muss endlich aufwachen. Es ist der Eindruck entstanden, dass die Welt nicht nur schläft, sondern gar nicht aufwachen und nicht verstehen will, was in der Ukraine passiert. Sie will nicht verstehen, dass ein ukrainisches Kind jeden Tag getötet werden kann. Und leider gibt es viele Kinder, die die Russen getötet haben. Hier sieht man einen kleinen Teil dieser Kinder, die Angehörigen haben erlaubt, hier ihre Portraits mit Informationen dazu zu zeigen. Ich möchte Ihnen besonders für Ihren Mut danken. Wahrscheinlich versteht niemand Ihren Schmerz außer jenen, die sich in demselben Zustand befinden.

Der Leiter der Gebietsstaatsanwaltschaft von Charkiv, Amil Omarov, sagte zu, dass ukrainische Strafverfolger alles unternehmen werden, um Personen, die Kriegsverbrechen begehen, auf nationaler und internationaler Ebene zur Verantwortung zu ziehen.

Die Ausstellung ist bis zum 25. Dezember zu sehen. Sie kann in der Charkiver Medienstelle, Svoboda-Platz 5, Eingang 5 besichtigt werden.

Foto: Olha Solapanova
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