Gefangenenaustausch: Erstmals kam auch eine größere Anzahl von Zivilisten frei

Nachstehend folgt ein Bericht der Charkiver Menschenrechtsgruppe über Einzelheiten des Gefangenenaustauschs

Unter den 120 Zivilisten, die am 23. Mai ausgetauscht wurden, befanden sich ein politischer Gefangener und 15 Personen, die widerrechtlich aus zeitweilig besetzten ukrainischen Territorien in die Russische Föderation deportiert worden waren. Die übrigen sind Ukrainer, die seinerzeit in Russland straffällig geworden sind und ihre Strafe dort bereits verbüßt haben. Wie wurden sie zu Hause aufgenommen?

Der erste Tag des großen Gefangenenaustauschs. Foto: Telegram-Kanal von Volodymyr Selenskyj
Der erste Tag des großen Gefangenenaustauschs. Foto: Telegram-Kanal von Volodymyr Selenskyj

 

Vom 23. bis 25. Mai kamen tausend Ukrainer aus russischer Haft frei. Der große Austausch war das Ergebnis der Verhandlungen vom 16. Mai in Istanbul. Unter denen, die zurückkehren konnten, befanden sich 120 Zivilisten. Diese Kategorie von Gefangenen freizubekommen ist am schwierigsten. Seit März 2022 bis zum 23. Mai 2025 sind lediglich 173 ukrainische Zivilisten im Rahmen der zahlreichen Austauschaktionen freigekommen. Dass jetzt 120 Personen dazukommen, ist ein Meilenstein bei der Lösung des Problems der Zivilgefangenen des Kremls.

Welche Personen kamen durch den Austausch frei?

„Im Zuge des großen Austauschs wurden 120 Personen aus der Ukraine nach Russland gebracht, die wegen Verbrechen gegen die nationale Sicherheit der Ukraine verurteilt worden waren“, berichtet Jevhen Sacharov, der Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe. „Es wäre natürlich zu erwarten gewesen, dass in die Ukraine ebenfalls ukrainische Zivilisten zurückkehren können, die aus politischen Motiven oder wegen ihrer proukrainischen Position verurteilt worden waren. Aber so war es nicht. Unter den 120 Freigekommen befand sich ein einziger politischer Gefangener, Pavlo Sosuljuk.“

 

Der einzige politische Gefangene

Foto: Most
Foto: Most

 

Pavlo Sosuljuk stammt aus Kachovka, er ist Paintball-Trainer. Wie Journalisten der Medien-Initiative für Menschenrechte (MIPL) mitteilten, wurde er von den Besatzern zum ersten Mal am 10. Oktober 2022 entführt. Er stand offenbar im Verdacht, mit der ukrainischen Territorialverteidigung zusammenzuarbeiten. Zwölf Tage wurde er im Polizeirevier in der Melitopoler Straße festgehalten, dann aber freigelassen.

Ein zweites Mal wurde er am 27. Juli 2023 verhaftet. Bei einer Haussuchung „fand“ man angeblich Propaganda-Flugblätter des „Rechten Sektors“ und eine Schreckschuss-Pistole. Einen Monat nach seiner tatsächlichen Entführung wurde wie üblich ein Film über die inszenierte „Festnahme eines schrecklichen Extremisten“ produziert, mit unter der Folter erpressten „Reuebekenntnissen“. Bis Mitte Oktober wussten die Angehörigen nichts über sein Schicksal, bis ein Brief von ihm aus Tschonhar eintraf, wo er sich in Untersuchungshaft befand. Es stellte sich heraus, dass die Russen gegen ihn ein Strafverfahren wegen Aktivitäten im „Rechten Sektor“ von 2014 bis 2016 eingeleitet hatten .Im Juli 2024 gaben Propaganda-Medien bekannt, dass Sosuljuk zu zwei Jahren Haft in einer Strafkolonie im gewöhnlichen Vollzug verurteilt worden sei.

15 Deportierte

Pavlo Sosuljuk hatte seine Haftstrafe de facto verbüßt und hätte entlassen werden müssen, aber die Russische Föderation ließ ihn nicht frei. „Erst durch den Austausch ist es gelungen, ihn zurückzuholen“, sagt Jevhen Sacharov. „Und er war der einzige politische Gefangene unter den 120 ausgetauschten Zivilisten. 15 Gefangene, die zurückkamen, sind ehemalige Häftlinge aus der Ukraine. Sie waren noch vor 2022 für Straftaten in der Ukraine verurteilt worden. Ihre Haftanstalten gerieten danach in besetztes Gebiet, und die Russen deportierten diese Personen aus dem Gebiet Cherson nach Russland. Insgesamt ließen die Besatzer bisher annähernd 3.000 Gefangene aus den besetzten Territorien zurückkehren.“

Die Deportation von Gefangenen aus derzeit besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland, wie auch jede Art von Zwangsumsiedlung der Bevölkerung aus besetzten Regionen verstoßen gegen internationales Recht, insbesondere gegen die Genfer Konvention zum Schutz von Kriegsopfern von 1949. Das ist jedoch nicht das einzige Verbrechen, dass der russische Staat in diesem Fall begeht. Die Menschen werden beim Transport unter unzumutbaren Bedingungen festgehalten, oft ohne Zugang zu rechtlicher Unterstützung und zu ärztlicher Hilfe. Sie werden gezwungen, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Darüber hinaus ist es für die deportierten Gefangenen extrem schwierig, selbst nach Ablauf der Haft nach Hause zurückzukehren.

„Den entführten Ukrainern, deren Haftzeit abgelaufen ist, bieten die Russen einen russischen Pass an und schlagen ihnen vor, in der Russischen Föderation zu verbleiben“, erklärt Sacharov. Die meisten lehnen das ab. Wer einen ukrainischen Pass hat, versucht, entweder über Georgien oder durch einen Korridor auszureisen, der hin und wieder zwischen Russland und der Ukraine eingerichtet wird. Menschenrechtsaktivisten, insbesondere die Organisation "Schutz der Gefangenen der Ukraine“, helfen ihnen bei der Rückkehr, in Kooperation mit russischen Menschenrechtsorganisationen. Wer di erforderlichen Dokumente nicht besitzt, kommt in Russland wiederum in Gewahrsam, diesmal in die Zentren für Abschiebehaft.

Foto: Facebook-Seite von Anna Skrypka
Foto: Facebook-Seite von Anna Skrypka

 

Am 23. Mai kehrten 15 deportierte Gefangener in die Ukraine zurück. Zu Hause wurde ihnen der Aufenthalt in Russland auf die Haftzeit angerechnet. Die Juristin vom „Schutz der Gefangenen der Ukraine“ Anna Skrypka erklärte gegenüber „Suspilne“, dass von diesen fünfzehn drei nach dem Austausch in Haft kamen, um die verbleibende Strafe zu verbüßen. Die übrigen sind frei.

Ehemalige Gefangene

Nach unseren Informationen sind alle übrigen ausgetauschten Zivilisten - 104 Personen - Ukrainer, die in russischen Gefängnissen für Straftaten einsaßen, die sie in Russland begangen hatten. Sie hatten die Strafe verbüßt und waren in die Deportationszentren verbracht worden. Eigenständig zurückkehren konnten sie nicht.

„Viele meiner Kollegen sind enttäuscht, sie hatten erwartet, dass durch den Austausch politische Gefangene freikommen, die mit den Kriegsgefangenen zusammen inhaftiert sind, die gefoltert werden usw.“, betont Sacharov. „Ich verstehe sie, ich würde mir auch wünschen, dass diese Personen zurückkommen, aber andererseits muss ich sagen, dass wir alle Ukrainer zurückholen müssen, die sich in Russland befinden, unabhängig davon, wer sie sind und wie sie dorthin geraten sind.“

Nach Auskunft von Anna Skrypka sind unter den Zivilisten, die letzte Woche zurückkamen, zahlreiche Personen, die Menschenhandel zum Opfer fielen. Wir haben darüber schon mehrfach vor dem großen Krieg berichtet. Ukrainer reisten legal nach Russland ein, um Geld zu verdienen – als Köche, Manager, Bauarbeiter – und gerieten in die Hände von Kriminellen. Man nahm ihnen Ausweise und Mobiltelefone weg und gab ihnen dafür manipulierte Telefone, mit denen man sie kontrollieren konnte und zwang sie, als Drogenkuriere zu fungieren.

Sobald einem der Ukrainer klar wurde, wohin er geraten war und er zu fliehen versuchte, übergaben ihn die „Arbeitgeber“ der russischen Polizei. Eine transnationale kriminelle Gruppe von Anwerbern ist in der Ukraine mindestens seit 2015 aktiv. Strafverfolgungsorgane schätzen die Zahl ihrer Opfer auf annähernd tausend. Die Gruppe war recht komplex, sie hatte eigene Juristen, einen eigenen Sicherheitsdienst, eine „Personalabteilung“ und Werbemanager.

 

Ohne Geld und ohne Bescheinigungen

Was wird nun aus denen, die aus russischer Haft entlassen wurden? Nach Aussage von Anna Skrypka sind die meisten auf staatliche Hilfe angewiesen. Die Organisation „Schutz der Gefangenen der Ukraine“ betreut 15 Personen, kann aber nicht Hunderte von Gefangenen unterstützen, die aus Russland zurückgekehrt sind.

„Sie sind jetzt im Krankenhaus, da ist für sie kostenlos“, sagt Jevhen Sacharov. „Sie hoffen auf Hilfe von Freiwilligen. Im Krankenhaus bekommen sie zu essen, aber minimale Ausgaben haben sie doch, sei es für Kleidung oder Zigaretten. Soldaten erhalten ihr Gehalt. Die meisten haben Familie und eine Wohnung. Aber was sollten Zivilisten ohne staatliche Unterstützung machen, deren Wohnung und Familie sich in besetztem Gebiet befinden? Sie können schlicht nirgendwohin und haben nichts, wovon sie leben könnten.“

„Heute begannen schon die Entlassungen aus dem Krankenhaus, ohne zu wissen wohin die Betreffenden kommen“, sagt Anna Skrypka. „Sie haben keinen Cent und keine Dokumente, die bestätigen, dass sie in Gefangenschaft waren und ausgetauscht wurden. In diesen drei Tagen, seit sie freikamen, ist niemand zu ihnen gekommen, keine Freiwilligen, außer mir.“

Menschenrechtsaktivisten berichten, dass beim Austausch alle Personen zwei Formulare erhielten, die sie ausfüllen sollten – vom Nationalen Informationsbüro sowie vom Ministerium für gesellschaftliche Entwicklung. Staatliche Vertreter hatten versprochen, ins Krankenhaus zu kommen und beim Ausfüllen der Dokumente zu helfen – aber niemand ist aufgetaucht.

„Die Leute müssen eine Bescheinigung vom Nationalen Informationsbüro bekommen, dass sie infolge der russischen Aggression in Gefangenschaft waren, und später staatliche Unterstützung“, erklärt Jevhen Sacharov.

Aber was wird ihnen gegeben? Erkennt der Staat sie als ehemalige Häftlinge an? Denn das ist für Zivilisten nicht so einfach. (Zu dieser Problematik hier weiterführende Informationen auf Ukrainisch.)

Die meisten dieser 120 entlassenen Zivilisten sind keine Kriegsgefangenen und keine politischen Gefangenen, die es selbst unter der Folter abgelehnt hätten, sich den Besatzern unterzuordnen. Aber es sind Ukrainer, unsere Bürger. Wie unterstützt der Staat jene, die sich in der Haft des Feindes befanden? Wohin kommen die Menschen, die seit heute aus den Krankenhäusern entlassen werden? Das sind offene Fragen.

„Es ist gut, dass sie zurückgeholt wurden, dass der Prozess der Freilassung ziviler Gefangener in Russland in Gang gekommen ist“, sagt Jevhen Sacharov. „Jetzt besteht eine unserer Aufgaben darin, dazu beizutragen, dass diese Freilassungen fortgesetzt werden. Und dass alle ukrainischen Zivilisten freikommen.“

 

28. Mai 2025/ 31. Mai 2025

 

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Vera Ammer

 

Quelle: https://khpg.org/1608814700

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