„Glaub bloß nicht, dass wir dich in Ruhe lassen, wenn du deine Haft abgesessen hast.“

Ein Jahr und zehn Monate hat Aleksej Moskalev in Haft verbracht. Seine Geschichte wurde in der ganzen Welt bekannt, nachdem er ins Visier der Machthaber geraten war, weil seine damals 13-jährige Tochter Mascha im April 2022 im Zeichenunterricht ein Bild gezeichnet hatte mit der russischen und der ukrainischen Flagge und der Aufschrift „Nein zum Krieg“ sowie „Ruhm der Ukraine“.

Daraufhin durchsuchten die Behörden Moskalevs Soziale Medien und verhafteten ihn. Mascha kam zunächst in ein Kinderheim und danach zu ihrer Mutter, die vom Vater getrennt lebt. Am 15. Oktober 2024 wurde Moskalev freigelassen, nur fünf Tage später verließen er und Mascha das Land. Am 31. Juni wurde bekannt, dass Deutschland den Moskalevs ein humanitäres Visum verweigert.

Wir bringen ein Interview von OVD Info mit Moskalev in deutscher Übersetzung.

 

„Raus – egal wie“

Aleksej, als wir das letzte Mal miteinander sprachen, hatten Sie gerade das Lager verlassen und waren in Jefremov angekommen. Wie verliefen die ersten Tage in Ihrer Heimatstadt?

Mascha und ich kamen zu Hause an, übernachteten und gingen am zweiten Tag einkaufen, wir brauchten Lebensmittel. Als wir zurückkehrten, traf ich eine Nachbarin, sie sagte: „Aleksej, die Polizei war schon wieder hier, die sind auf Ihre Tür eingestürmt, dann auf die Straße gegangen, ums Haus herum gelaufen und haben lange auf Ihren Balkon gestarrt, am Schluss sind sie weggefahren.“ Das heißt also, sie begannen schon am zweiten Tag, keiner weiß warum, an uns herumzuzerren. Ich sprach mit freiwilligen Helfern. Sie sagten: „Sie sollten lieber das Land verlassen, wenigstens vorübergehend.“ Mascha und ich entschieden uns, das zu tun. Wir waren nur etwa fünf Tage in Jefremov. Die freiwilligen Helfer stellten uns eine vorübergehende Bleibe zur Verfügung. Mascha und ich sind jetzt immer noch dort. Ein paar Tage nach der Ausreise kontaktierte ich einen Bekannten in Jefremov und der erzählt, dass zu ihm der Revier-Inspektor und irgendwelche Leute in Tarnanzügen gekommen wären, sie hätten nach mir gesucht. Warum, sagten sie nicht. Keine Minute Ruhe lassen sie einem.

Konnten Sie sich noch registrieren lassen, nachdem Sie wieder auf freiem Fuß waren?

Ich bin direkt am zweiten Tage hingegangen [zur Registrierung]. Sie sagten mir: „Ihre Dokumente sind noch nicht angekommen. Wenn sie da sind, informieren wir Sie. Danach sind wir ausgereist.

Wie haben die Menschen auf Sie reagiert in den wenigen Tagen, die Sie in Jefremov verbracht haben?

Ehrlich gesagt haben wir uns bemüht, selten aus dem Haus zu gehen. Aber in den Momenten, als Mascha mit dem Hund draußen war oder ich zum Einkaufen, haben die Nachbarn, die vorbeiliefen, uns irgendwie schief oder sogar misstrauisch angesehen.

Jetzt wo Mascha mit Ihnen in ein anderes Land gegangen ist, denken Sie, dass Sie Mascha aus einer gewohnten Umgebung herausgerissen haben? Inwiefern ist das für sie richtig?

Ich hatte keine Minute den Wunsch, sie dort zu lassen. Verstehen Sie, man musste sie dort aus diesen Klauen der Repression herausreißen, egal wie. Ich hatte diesbezüglich überhaupt keine Zweifel.

Wie haben Sie Ihrer Tochter gesagt, dass sie weg müssen?

Wissen Sie, als ich aus dem Lager kam, habe ich darüber nicht einmal nachgedacht. Wir hatten geglaubt, wir würden wenigstens das erste halbe Jahr oder ein Jahr in Jefremov leben und sehen, wie die Situation wäre. Nun, wie die Situation war, habe ich Ihnen ja gesagt: Schon am zweiten Tag kam die Polizei, und danach der Revier-Inspektor und Soldaten. Es war also klar, dass es unmöglich sein würde zu bleiben.

Außerdem waren im Lager zweimal die FSB-Mitarbeiter bei mir, die mich verhaftet hatten und einer von ihnen sagte: „Glaub' bloß nicht, dass wir dich in Ruhe lassen, wenn du deine Haft abgesessen hast, wir werden dich lebenslänglich nicht in Ruhe lassen.“ Er hat mich sofort gewarnt.

Wie sah Ihre Ausreise aus? Habe ich richtig verstanden, dass Sie jetzt nicht mehr in Russland sind?

Ich kann Ihnen leider nicht sagen, wo wir uns aufhalten. Ich kann sagen, dass wir nicht in Russland sind. Aber wir sind leider nicht in völliger Sicherheit.

Mit welchem Gefühl haben Sie die Grenze überquert?

Man hatte uns gewarnt, das würde das Schlimmste sein. Es herrschte große Vorsicht und die Angst, dass man uns an der Grenze festhalten würde. Als wir über der Grenze waren, haben wir aus voller Brust durchgeatmet.

Hatten Sie einen Plan B für den Fall, dass etwas schief gehen könnte? Wohin wäre Mascha gekommen?

Es war keine Zeit, einen Plan zu machen. Wir waren ja nicht länger als fünf Tage in der Stadt und haben so schnell gepackt, dass wir sogar einen Teil der wichtigsten Sachen nicht mitnahmen. Es ging sehr, sehr schnell. Ich sagte noch zu den freiwilligen Helfern: Sollten wir unsere Sachen nicht noch irgendwie verpacken? Sie antworteten: „Lassen Sie das, nehmen Sie nichts mit, Sie müssen jetzt schnellstens das Land verlassen. Das Ihre einzige Rettung.“

 

„Wissen Sie, dass Sie gesucht werden?“

Sie haben erzählt, dass Sie im Lager Probleme mit der Gesundheit bekommen haben und Ihr Sehvermögen sich verschlechtert hat. Konnten Sie sich schon um Ihre Gesundheit kümmern?

Ich mache hier ausschließlich Sport: Übungen, Laufen. Mein Sehvermögen verschlechtert sich leider weiter. Wir können uns hier noch nicht an medizinische Einrichtungen wenden, weil wir keine Versicherung haben. Aber ich treibe Sport. Ich habe im Lager schon keine Gelegenheit ausgelassen, das zu tun und mache das auch hier weiterhin.

Womit beschäftigen Sie sich außerdem?

Im Wesentlichen laufe ich durch die Stadt, fotografiere Sehenswürdigkeiten und irgendwelche interessanten Plätze.

Verfolgen Sie hier, was in Russland vor sich geht?

Unbedingt. Mascha macht mir ständig Vorhaltungen: „Papi, kaum stehst du morgens auf, rennst du schon zum Telefon.“ Leider ist es genauso. Ich lese, wer wieder ins Gefängnis gesteckt wurde für Likes, Reposts und Einzelkundgebungen. Ich schaue sorgfältig neue Anordnungen und Gesetze durch.

Warum lesen Sie das nach Ihrer Ausreise immer noch?

Hören Sie, ich liebe meine Heimat, aber ich hasse den Staat. Ich hoffe, dass wir zurückkehren werden, aber natürlich nicht unter diesem Regime. Ich bin in Jefremov geboren, dort aufgewachsen und habe 57 Jahre dort gelebt, mir ist alles dort vertraut. So viele Jahre [an einem Ort] zu leben und ihn dann von jetzt auf gleich zu verlassen...

Haben Sie noch Kontakt zu Menschen von dort?

Wenig. Nur vereinzelt, aber es gibt sie.

Haben Sie noch Kontakt zu Menschen, die Ihnen ins Lager geschrieben haben?

Das hätte ich sehr gerne! Sie haben ja gesehen, was für Säcke ich bei mir hatte, als ich freigelassen wurde: Der Großteil davon waren Briefe, ich habe sie aufgehoben und praktisch jedem geantwortet. Aus aller Welt haben sie geschrieben: USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich, aus unseren postsowjetischen Republiken: Usbekistan, Tadschikistan, Georgien. Ich habe diese Briefe [aus dem Lager] mitgenommen, um den Kontakt zu den Leuten nicht zu verlieren, ich möchte den Briefwechsel unbedingt weiterführen, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr. Aber als wir packen mussten, war nicht einmal Zeit diese Adressen abzuschreiben, schon gar nicht konnte ich die Briefe mitnehmen, denn das wäre ein ganzer Koffer voll gewesen. Deshalb sind sie leider zuhause geblieben und die Kontakte sind verloren.

Was haben Sie jetzt für Pläne? Gibt es überhaupt welche?

Der jetzt einzige Plan ist Sicherheit für mich und Mascha. Das ist das Wichtigste.

Wie haben Sie nach der Trennung den Kontakt zu Mascha wieder aufgenommen? Wie hat sie sich in der Zeit verändert, in der Sie sich nicht gesehen haben?

Wir haben uns in diesen zwei Jahren nicht voneinander entfernt, das gab es nicht. Soweit ich verstehe, sind für Mascha die Familie ihrer Mutter völlig fremde Leute. Es gab keine besonders herzliche Beziehung wie zwischen Mutter und Kind. Sie war dort so wie im Heim, vorübergehend. Deshalb hat sie die ganze Zeit, die sie dort war, auf das Treffen mit mir gewartet, um so schnell wie möglich wegzukommen und bei mir zu sein.

Als wir vor Ihrer Freilassung mit Mascha gesprochen haben, sagte sie, dass es trotz allem nicht schlecht wäre bei ihrer Mutter und sie mit der Schwester ein gutes Verhältnis habe.

Natürlich hat sie nicht gesagt, dass sie dort beleidigt und erniedrigt wird. Davon konnte keine Rede sein. Aber die Beziehung zu den Eltern muss warm sein. Ich fragte Mascha, ob sich ihre Mutter dafür interessiert hätte, wie wir gelebt hatten und wie sie in der Schule war. Es gab absolut null Fragen zu diesem Thema, als hätte sie das überhaupt nicht gekümmert. Es war einfach ein kaltes Verhältnis, wie mit einem Menschen, den man eben kennt.

Hat Mascha jetzt Kontakt zu ihrer Mutter?

In der ersten Zeit haben sie und ihre Mutter und ihre Schwester sich oft angerufen, sich geschrieben. Aber nach einiger Zeit, als wir schon hier waren, hat uns die Polizei zur Fahndung ausgeschrieben. Es hat sich herausgestellt, dass ihre Mutter, mit der Mascha in ständigem Kontakt stand, das veranlasst hatte. Wozu? Ich habe dazu nur eine Idee: Mitarbeiter des FSB haben sie unter Druck gesetzt und beschlossen, durch sie herauszufinden, wo wir sind. Wie sie es geschafft haben, sie zu bestechen, einzuschüchtern oder zu erpressen, weiß ich nicht.

Woher wissen Sie, dass ausgerechnet sie das war?

Von der Polizei. Als sie uns zur Fahndung ausgeschrieben hatten, bekam Mascha eine SMS von der Polizei auf ihr russisches Handy: „Was ist mit Ihnen, wo halten Sie sich auf? Wissen Sie, dass Sie gesucht werden?“ Wer hat das veranlasst? „Ihre Mutter“.

Hat Mascha ihre Mutter gefragt, ob das stimmt?

Sie hat sie gefragt, sie hatten ja weiterhin Kontakt. Sie sagte: „Ja nun, ich mache mir doch Sorgen um euch. Wo seid ihr? Lebt ihr noch?“ Derzeit haben sie im besten Fall einmal im Monat noch Kontakt. Das Schicksal ihres Kindes interessiert sie schon nicht mehr. Ich glaube nicht, dass sie das von sich aus gemacht hat, man sie unter Druck gesetzt, um unseren Aufenthaltsort zu erfahren.

 

„Nicht in staatlichen Folterkammern“

Sie waren während Ihrer Haftzeit fünfmal in der Straf-Isolationszelle. Wie geht es Ihnen nach dieser Erfahrung und nach der Haftzeit generell?

Als ich noch in Smolensk in Untersuchungshaft war und Mascha vorübergehend im Heim und man mir die Erziehungsberechtigung hätte entziehen und sie in eine fremde Familie hätte stecken können oder auch in ein Internat, war ich deprimiert und wollte nicht mehr leben. Und wie es mir dann ging, als die Nachricht kam, dass Mascha ihrer Mutter übergeben worden war! Endlich! Ich war im siebten Himmel vor Glück. Ich dachte: Jetzt könnt ihr mit mir machen, was ihr wollt, mich verhöhnen, mich umbringen, erniedrigen, auch erschießen könnt ihr mich. Mich regt nichts mehr auf. Das Wichtigste war, dass Mascha jetzt nicht mehr in staatlichen Folterkammern war, sondern in Freiheit.

Und in der Isolationszelle war ich nicht nur fünfmal, sie haben mich dort zwei Monate lang überhaupt nicht rausgelassen und die Zeit fünfmal automatisch verlängert. Das war sehr, sehr schwer. Eine Woche vor der Entlassung aus dem Lager dachte ich: Wenn Gott mir hilft, ich wohlbehalten freikomme und sie sich nicht noch etwas ausdenken, fahre ich nach Hause und schlafe mich einfach nur aus. Ein Jahr und zehn Monate war ich in solch einem angespannten Zustand, schlief zu wenig, aß zu wenig. Und glauben Sie, dass der Schlaf mich gepackt hat, als ich nach Hause kam? Gott bewahre! Die ganze Nacht lag ich wie auf Nadeln. Ich kam nicht zu mir und konnte nicht glauben, dass ich zuhause war.

Und nachdem dann die Information durchgesickert war, dass sie wieder hinter uns her waren, dass die Polizei kommen und alles wieder von vorne anfangen würde, wie sollte man da noch schlafen? Mascha schlief, ich lag und lauschte, ob nicht an der Tür geklopft wird oder ob sie wieder mit einer Kreissäge kommen würden.

Konnten Sie sich schon ausruhen?

Teils ja, teils nein. Die russischen Behörden versuchen sogar hier noch, Menschen zu fassen zu kriegen, Russen, die emigriert sind. Deswegen kann man sich sogar hier nicht komplett entspannen.

Wie geht es Mascha? Kann sie hier weiter zur Schule gehen?

Seit wir hier sind, lernt sie im Fernunterricht. Sie war an einer guten Moskauer Schule und hat Online-Unterricht gehabt. Leider konnte sie das nicht bis zum Schluss weiter machen. Sie hat mehr als die Hälfte gemacht, aber als es um die Vorbereitung zu den Prüfungen nach der 9. Klasse ging, schrieben wir dem Lehrer, um zu erfahren, wie das genau vor sich geht. Damit Mascha die Prüfung ablegen und ihr Diplom für die 9. Klasse bekommen kann, muss sie nach Moskau kommen und die Prüfung in Anwesenheit ablegen. Es versteht sich von selbst, dass das unmöglich ist. Deshalb konnte sie die Schule nicht abschließen, sie gaben ihr ein Dokument über eine unvollständige Schulausbildung, eine Bescheinigung.

Welche Gefahr kann Mascha drohen, wenn sie jetzt alleine fahren würde?

Allein würde man sie gar nicht rauslassen, sie ist noch minderjährig. Und wo ist die Garantie, dass man sie nicht als eine Art Geisel nimmt und fordert, dass ich nachkomme? Von unserer verbrecherischen Regierung kann man derzeit alles erwarten, alle nur möglichen Provokationen. Wozu haben sie uns denn schon vom zweiten Tag an gesucht? Außerdem haben die Mitarbeiter des FSB selbst gewarnt, dass sie uns nicht in Ruhe lassen würden.

Mascha hat gesagt, sie habe wieder begonnen zu zeichnen und schreibe Erzählungen.

Ja, sie ist sehr schöpferisch im Moment. Sie zeichnet ganz gute Portraits. Sie schreibt Erzählungen und veröffentlicht sie im Internet. Ich habe sie gelesen. Ich weiß nicht, von wem sie das hat. Sie ist sehr talentiert. Ich bin so stolz auf mein Kind.

Hat sie hier schon Freunde gefunden?

Nein. Sie verbringt die meiste Zeit allein. Ich sage ihr oft: „Mascha, geh' doch mal nach draußen, lern' jemanden kennen, finde Freundinnen... .“ Sie antwortet: „Selbst wenn ich hier jemanden kennenlerne, wir sind hier doch nur vorübergehend, wir werden weg müssen, dieser Mensch wird hier bleiben und wir werden uns nicht wiedersehen. Wozu soll das gut sein?“

 

Interview: Marina-Maja Govzman, OVD-Info

Quelle: https://ovd.info/2025/08/06/moskalev-interview

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

Siehe auch: Keine Einreise mehr für Gegner diktatorischer Regime

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