Vor rund einem Jahr kam es in über 100 russischen Städten zu Demonstrationen gegen Korruption und für die Freilassung Alexej Navalnyjs. Mehr als tausend Menschen wurden verhaftet,
OVD-Info zählt bis zum heutigen Tag im Rahmen der sogenannten „Palast-Prozesse“ 173 Strafverfahren, 27 Haftstrafen, 21 Bewährungsstrafen, 11 Geldstrafen, 12 Freiheitseinschränkungen und 13 eingestellte Verfahren. Einige Verfahren blieben in der Untersuchungsphase stecken, möglicherweise weil die Angeklagten das Land verlassen haben. OVD-Info hat mit zwei Personen gesprochen, die ihre Haft inzwischen verbüßt haben und auf freien Fuß gesetzt wurden. Wir bringen ihre Berichte leicht gekürzt.
Eine Katze, steigende Preise und der Versuch, eine junge Frau zu befreien
Der 40-jährige Ivan Punegov hatte an den Demonstrationen im Winter 2021 teilgenommen, zunächst ohne weitere Folgen. Verhaftet wurde er nach der Demonstration am 21. April 2021 in St. Petersburg und in einem Strafverfahren wegen Anwendung nicht lebens- und gesundheitsgefährdender Gewalt gegen einen Vertreter der Staatsgewalt (Art. 318, Teil 1 StGB RF) verurteilt. Laut Ermittlungsversion hatte er bei der Demonstration am 21. April einen Nationalgardisten am Hals gefasst und gewürgt.
Ivan hatte auf der Straße gesehen, wie ein OMON-Mitarbeiter eine junge Frau abführte, die ihn bat von ihr abzulassen, weil sie Mutter zweier Kinder sei. Er beschloss, die Frau zu retten, sprang hin und umfasste den Polizisten unglücklich am Hals. Die junge Frau konnte er befreien, wurde aber selbst erwischt. Im Mai 2021 wurde Punegov unter Arrest gestellt, Mitte August für schuldig befunden und zu einem Jahr Haft in einer Ansiedelungskolonie verurteilt. An den Tag seiner Freilassung, den 8. November, erinnert sich Punegov gut: „Die Gefühle waren uneindeutig. Klasse natürlich, dass diese Zeit endlich vorbei war. Ich weiß noch, wie ich aus den Toren des Lagers trat und mich über alles freute - bis ich die Preisschilder in den Geschäften sah.“ Neben den Preisen wunderte er sich über die neuen Corona-Beschränkungen und die Einführung eines QR-Codes.
Nach seiner Freilassung fuhr Punegov zuerst ins Büro. Vor seiner Verhaftung hatte er bei einem Petersburger Unternehmen als Fernfahrer gearbeitet. Seine Arbeit konnte Punegov sofort wieder aufnehmen: Sein Chef wusste von dem Prozess und der Haftstrafe im Lager und unterstütze ihn auf jegliche Weise. Probleme gab es mit der Wohnung. Vor seiner Verhaftung hatte er eine Wohnung gemietet, in der er mit seiner Katze lebte. „Dann musste ich aber umziehen, weil die Miete stark gestiegen war und der Wohnungsbesitzer Haustiere untersagte. Meine Katze war mal bei Freunden, mal bei Freiwilligen gewesen, während ich im Gefängnis war. Ich glaube, dass sie sogar etwas beleidigt war und dachte, ich hätte sie verlassen.“
Ursprünglich hatte die Katze der Frau gehört, bei der Punegov ein Zimmer gemietet hatte: „Ich schaute wie immer nach einer Dienstfahrt bei der Vermieterin vorbei. Ich kam gerade aus Astrachan und hatte ihr Geschenke mitgebracht. Wir saßen zusammen und unterhielten uns. Das war mittags. Als ich später am Abend wieder nach Hause kam, sprang mich die Katze an, und ich dachte, sie hätte vielleicht Hunger. Ich ging zur Vermieterin und stellte fest, dass sie gestorben war. Die neuen Wohnungseigentümer wollten die Katze einschläfern. Sie vertrug sich nicht mit ihrem Hund. Aber ich sagte, dass ich nicht einfach so einen Freund hergebe, sie war immer zu mir zum Schlafen gekommen und hatte in meinem Armen gelegen. Und seitdem leben wir eben zusammen.“
Zu Protestaktionen war er auch schon früher gegangen, deshalb war er sicher, dass auch am 21. April alles gut gehen würde. „Aber selbst wenn ich gewusst hätte, dass es zu einem Strafprozess kommen würde, wäre ich zur Demonstration gegangen. Ich musste doch irgendwie meine Position ausdrücken.“ Nach seinen Worten zeigen die „Palast-Prozesse“, dass die Regierung Angst vor ihren Bürgern hat und auf jede nur erdenkliche Weise eine Proteststimmung in Russland unterdrücken wird. „Die Menschen gingen unbewaffnet zur Demonstration, aber die „Kosmonauten“ [behelmte OMON-Kräfte], kreisten sie ein und verprügelten sie der Reihe nach.
Es tut mir nicht leid, dass ich bei der Demonstration war. Mir tut nur leid, dass die Gerichte bei uns nicht auf die Menschen hören, sondern nur auf das, was man ihnen von oben sagt.“
Das Verfahren und die Zeit im Lager hatten so gut wie keinen Einfluss auf sein Verhältnis zu Verwandten und Bekannten. Am Anfang wollte er seiner Mutter, die in einem Dorf in Komi lebt, nicht erzählen, was passiert war, er hatte Angst, es würde sie aufregen. Punegov war sich sicher, dass man ihn ein paar Tage nach der Verhaftung wieder freilassen würde, dann hätte er immer noch in Ruhe mit seiner Mutter reden können. „Ich wurde bei mir zuhause festgenommen. Niemand wusste, wo ich bin und was mit mir ist. Dann tauchten im Internet Informationen auf und Freunde begannen, mir zu schreiben. Freiwillige sammelten Pakete für mich und Briefe, die mich als politischen Gefangenen unterstützten, kamen aus ganz Russland.“ Als klar wurde, dass eine Haftstrafe droht, musste er auch seiner Mutter erzählen, was vorgefallen war. Sie hat eine Behinderung der Gruppe 3 und Punegovs Anwalt von OVD-Info riet ihm, alle Bescheinigungen zusammenzutragen, die belegen, dass seine Mutter die Unterstützung des Sohnes braucht und er ihr einziger Betreuer ist. Und obwohl Punegov sämtliche Dokumente zur Hand hatte, hatte dies auf die Entscheidung des Gerichts keinerlei Einfluss.
Hoffnungslosigkeit, Angst und ein Anziehen der Schrauben
Jevgenij Tugankov wurde ebenfalls im November 2021 in die Freiheit entlassen. Festgenommen worden war er am 31. Januar nach der Teilnahme an der Demonstration in St. Petersburg. Auch zuvor hatte er schon an politischen Aktionen teilgenommen, so zum Beispiel an der Protestkundgebung gegen die Rentenreform 2018. „Ich bin am 31. Januar nur auf die Straße gegangen, weil bei der Demo am 23. Januar ein Polizist einer Frau mit dem Fuß in den Bauch getreten hatte. Das war eine völlig irre Geschichte, aber der Polizeimitarbeiter blieb weiter im Dienst. Diese Geschichte hat mich persönlich einfach sehr berührt.“ Anfänglich ging die Demonstration nach seinen Worten friedlich vor sich. Dann begannen die Polizisten, einen der Demonstranten auf grobe Weise festzunehmen. „Der hatte überhaupt nichts gemacht, einfach nur eine Fahne und ein Transparent herausgezogen. Was drauf stand, weiß ich schon nicht mehr.“
Tugankov stürzte sich impulsiv in die Menge, wollte dem Demonstranten, den die Polizisten festnahmen, helfen. Festgenommen wurde er schließlich selbst und wegen Anwendung nicht lebens- und gesundheitsgefährdender Gewalt gegen einen Staatsvertreter (Art. 318, Teil 1 StGB RF) angeklagt. Laut Ermittlung hatte Tugankov einen OMON-Mitarbeiter geschubst, als der sich in einer Gruppe von Leuten befand, die versuchten einen Festgenommenen loszureißen. Am 31. Januar 2021 wurde er zu einem Jahr Haft in einer Ansiedelungskolonie verurteilt.
Dass er an jenem Tag zur Demonstration ging, bereut Tugankov nicht: „Wozu bereuen. Das ist sowieso ein schlechtes Gefühl. Es ist besser, etwas zu tun als nichts zu tun. Ich würde es bereuen, wenn ich an diesem Tag nicht zur Demonstration gegangen wäre, so viel ist sicher.“ Tugankov dachte, dass die Demonstranten kaum ernsthaft auf die politische Situation im Land würden Einfluss nehmen können, fühlte aber die Notwendigkeit mitzumachen. „Schon bei der ersten Aktion am 23. Januar war klar, dass das zu nichts führen würde. Es gab keinerlei Organisation, es war offensichtlich, dass keiner die Verantwortung übernehmen wollte. Die Leute gingen auf die Straße, junge Menschen ebenso wie ältere. Das war die Reaktion des Volkes auf die Ungerechtigkeit. Man wollte sich nicht damit abfinden, was im Land vor sich geht.“
Tugankov war sicher, dass es bei Verhaftungen höchstens zu Verwaltungsverfahren kommen würde. Er sagt, hätten die Polizisten keine Zusammenstöße mit den Demonstranten provoziert, die Regierung nicht die Schrauben angezogen, dann hätte es nach den Winterprotesten nicht diese Menge an politisch motivierten Prozessen gegeben. „Wenn man wieder freigelassen wird, ist es einerseits so, als wäre man niemals weg gewesen aus diesem Leben, als hätte es überhaupt kein Gefängnis gegeben. Andererseits sieht man, wie sich alles verändert hat. Als habe man eine riesige Wüste vor sich, so nehme ich das Putin-Regime wahr. Das einzige, was dieses Regime kann, wie jedes andere diktatorische auch, ist, irgendwelche Restriktionen verschärfen, weitere repressive Gesetze erlassen. Deshalb tauchte ich, als ich rauskam, in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit ein. Es war ein Freitag, aber alle Restaurants waren leer, die Menschen mutlos. Der Zustand erinnert an den Anfang der 1990er Jahre. Damals lag auch so eine Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit in der Luft: Völlig unklar, wie es weitergehen würde.“
Tugankov konnte sofort nach seiner Freilassung an seine Arbeit zurückkehren. Er hat ein kleines Geschäft in St. Petersburg. Auf die Arbeit hatte sein Strafverfahren keinerlei Einfluss: Für die Kunden ist es egal, ob er bei einer Demonstration festgenommen wurde oder nicht. Beim Geschäft kommt es nach seinen Worten auf Ehrlichkeit, Anständigkeit und Flexibilität an. Auf das Verhältnis zu Freunden und Bekannten wirkte sich seine Haftstrafe ebenfalls nicht besonders aus. Tugankov sagt, eine solche Unterstützung habe er nicht erwartet: Viele schrieben ihm Worte der Solidarität, schickten Pakete und besuchten ihn sogar im Lager. „Es gab natürlich auch Leute, die sagten, es sei doch nicht nötig, das Fass zum Überlaufen zu bringen. Aber selbst diese reagierten dann doch normal und schrieben mir Briefe. Wenn ein Bekannter von dir im Lager landet, dann geht es nicht mehr um Ideologie. Ein normaler Mensch schiebt alles beiseite und ist bereit zu helfen. Ich hätte das auch getan.“
Tugankov ist sicher, dass die „Palast-Prozesse“ Menschen abschrecken sollten, die in Russland frei ihre Meinung ausdrücken wollen. „Ich denke, alle diese Verfolgungen, das Anziehen der Schrauben beeinflusst die Menschen. Wenn man beginnt die Leute wegen Meinungsäußerungen einzusperren, dann beginnen sie natürlich vor allem Angst zu haben. Die Angst nistet sich in unserem Leben ein. Meine Großmutter hat mir erzählt, dass es 1937 genauso war.“
Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker
23. Januar/20. Februar 2022