Ich lebe hier wie auf einem Friedhof

Massengrab aus Stalin-Zeit in Tscheljabinsk entdeckt

In einem zentralen Bezirk von Tscheljabinsk auf dem Gebiet des früheren Dorfs Scherschni finden zurzeit Ausgrabungen statt an einem Ort, wo sich vermutlich die sterblichen Überreste von Repressionsopfern befinden. Sie wurden am 23. Oktober 2021 bei Bauarbeiten entdeckt, als bei der Rentnerin Galina Kischalova ein Brunnen für eine Kanalisation gegraben werden sollte. Sie hatte bisher im Haus weder fließendes Wasser noch eine Toilette, was ihr mit zunehmendem Alter zu beschwerlich wurde. Die Frau verständigte nach dem Fund sofort die Polizei und die Medien. Danach wurden die Arbeiten für längere Zeit eingestellt. Wie man ihr mitteilte, könnten sie erst nach einer Begutachtung und der Bergung aller sterblichen Überreste wieder aufgenommen werden.

Lokale Heimatkundler gehen davon aus, dass es sich höchstwahrscheinlich um Opfer der politischen Repressionen in der Zeit des Großen Terrors handelt. Darauf weist in erster Linie der Fundort hin. Der frühere Ort Scherschni, in dem Galina Kischalova lebt, befindet sich auf alten Goldbergwerken, die sich bis nach Solotaja Gora erstrecken. Dort waren bereits Ende der 80er Jahre Massengräber entdeckt worden. In den Jahren des Stalinschen Terrors wurden die aufgegebenen Bergwerke genutzt, um die sterblichen Überreste der Ermordeten zu verbergen. Möglicherweise diente der 2021 in Scherschni entdeckte Graben seinerzeit als Zugang zu so einem Bergwerk.

Die in Scherschni aufgefundenen Schädel wiesen teilweise Einschusslöcher auf, andere zeigten Spuren möglicher Schläge mit einem schweren Gegenstand. Ein Schädel war deutlich kleiner als die anderen, wahrscheinlich von einem Kind. Außerdem wurden Schuhsohlen mit einem Klebstoff in Form eines roten Dreiecks mit der Aufschrift „Leningrad“ gefunden. Das gibt einen Hinweis auf den möglichen Zeitpunkt des Geschehens. Die bereits 1860 gegründete Fabrik erhielt 1922 die Bezeichnung „Rotes Dreieck“ und war die größte sowjetische Produktionsstätte von Gummiwaren, darunter auch von Stiefeln und Galoschen. 1924 wurde das frühere Petersburg in Leningrad umbenannt.

Die Funde wurden im Oktober letzten Jahres dem Ermittlungskomitee übergeben. Dieses ist verpflichtet, ungefähr innerhalb eines Monats ein Gutachten zu erstellen und zu bestimmen, von wann die Überreste stammen. Wenn sie über hundert Jahre alt sind, fällt die weitere Arbeit in die Zuständigkeit von Archäologen, bei unter hundert Jahren ist es Sache von Kriminalisten. Nachdem aber die Mitarbeiter des Ermittlungskomitees die Überreste an sich genommen hatten, geriet die ganze Angelegenheit für volle acht Monate in Vergessenheit – nur nicht bei der Hausbesitzerin, die die ganze Zeit mit dem offenen Graben in ihrem Hof leben musste. Das war nicht ganz ungefährlich. Nachdem sie einmal hineingefallen und sich verletzt hatte, richteten ihr Freiwillige eine Passage mit einem Geländer ein. "Solange diese Überreste nicht aus der Erde geholt werden, lebe ich hier wie auf einem Friedhof", so Galina Kischalova.

Erst kürzlich, am 27. Juni 2022, wurden die Bergungsarbeiten schließlich mit Hilfe von Freiwilligen von der „Suchbewegung Russlands“ wieder aufgenommen.

10. Juli 2022

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