Jevhen Sacharov: Ukrainer in russischer Gefangenschaft werden gefoltert, um sie physisch und moralisch zu brechen

Mordovien, Groznyj und sogar das entlegene Minusinsk – Menschenrechtsaktivisten haben bereits 127 Haftorte ausfindig gemacht, in denen Russen ukrainische Bürger gefangen halten. In welchen Einrichtungen sich unsere Gefangenen befinden, ob sich die Haftbedingungen dort voneinander unterscheiden und wie viele Ukrainer in der RF vor Gericht gestellt werden, darüber haben wir mit dem Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe, Jevhen Sacharov, gesprochen.

Jevhen Sacharov im Gespräch mit Iryna Skatschko

 

Foto aus dem Telegram-Kanal von Volodymyr Selenskyj
Foto aus dem Telegram-Kanal von Volodymyr Selenskyj

 

Die Charkiver Menschenrechtsgruppe (ChMG) hat seit Beginn der Voll-Invasion, genau genommen schon früher, Informationen über Gefangene und Vermisste gesammelt. Die Datenbank der Organisation wird täglich um neue Informationen zu Ukrainern in russischer Haft ergänzt. Was ließ sich in Erfahrung bringen? Wie viele Gefangene sind es? Verschiedene ukrainische Stellen nennen unterschiedliche Zahlen…

Russland verschleiert die Angaben dazu. Der ukrainische Staat spricht von ungefähr 10.000 Kriegsgefangenen. Diese Zahl ist relativ stabil, da es zu Austauschaktionen kommt, aber gleichzeitig weitere Personen in Gefangenschaft geraten und weitere Soldaten verschwinden. Es gibt den Begriff des „bestätigten Gefangenen“. Das bedeutet, dass das Internationale Rote Kreuz oder russische Machtorgane bestätigen, dass sich eine bestimmte Person bei ihnen in Gefangenschaft befindet. Sie teilen dabei nicht immer genau mit, wo und an welchem Ort sie festgehalten werden, aber es gibt zumindest die Bestätigung, dass die betreffende Person in Russland oder auf den besetzten Gebieten der Ukraine in Gewahrsam ist. Wir wissen also von ungefähr 6.000 Kriegsgefangenen, wo und an welchem Ort sie sich befinden.

Bei Zivilisten ist alles wesentlich komplizierter. Hier will Russland die Informationen so weit wie möglich geheim halten. Anfang März war der Aufenthaltsort von 1.863 Zivilgefangenen bekannt. Aber in Wirklichkeit sind es wesentlich mehr. Es gibt ganz unterschiedliche Zahlen. Unsere Kollegen vom Zentrum für bürgerliche Freiheiten gehen davon aus, dass es siebentausend sind, Wir glauben, dass es mehr sind. Der Koordinationsstab für Kriegsgefangene sprach im letzten Sommer von 14.000 gefangenen Zivilisten. Im vorigen Jahr nannte die Leiterin der ukrainischen Delegation Marija Mesenzeva auf der Oktobersitzung der PACE die Zahl von etwa 66.000 insgesamt, also für alle Kriegsgefangenen, Zivilgefangenen und Vermissten zusammengenommen. Am 2. Februar hatte das Innenministerium ungefähr 63.000 Personen im Register für unter besonderen Umständen Vermisste verzeichnet. Allerdings wurden schon fast 10.300 Personen ausgetragen. Zum Stand von Anfang Mai waren in der Datenbank der Charkiver Menschenrechtsgruppe 4.290 Ukrainer als vermisst registriert, 3.931 Militärs und 359 Zivilisten. Nach unseren Ermittlungen befinden sich mit Sicherheit 5.536 Soldaten und 503 Zivilisten in Haft.

Was ist über die Haftanstalten bekannt, in denen unsere Gefangenen inhaftiert sind?

Wie gesagt, wissen wir bei annähernd 6.000 Kriegsgefangenen, in welchen Einrichtungen sie sich aufhalten. Wo und unter welchen Bedingungen die übrigen festgehalten werden und in welchem Zustand sie sind, ist nicht bekannt. Bei Zivilisten sieht es noch schlechter aus, bei ihnen ist der Aufenthaltsort nur in wenigen Fällen bekannt. Die Zahl der Orte, wo sich Ukrainer befinden, nimmt ständig zu. Im letzten Jahr wussten wir von 31 Hafteinrichtungen in Russland und 14 in den besetzten ukrainischen Gebieten Jetzt kennen wir bereits 127 solcher Institutionen in Russland, tatsächlich sind es aber mehr. Allein im letzten Monat sind sieben bis acht Einrichtungen aufgetaucht, von denen wir das bisher nicht wussten. Wir haben Personen ausfindig gemacht, die dort gefangen gehalten werden. Entweder hat das Rote Kreuz ihren Haftort bestätigt oder Ausgetauschte haben davon Mitteilung gemacht. Jeder, der aus der Gefangenschaft zurückkehrt, berichtet, in welchen Haftanstalten er sich mit wem zusammen inhaftiert war. Er nennt alle Namen, an die er sich erinnert. Die Listen gefangener Zivilisten und Militärs werden so laufend ergänzt.

Wohin bringt man die ukrainischen Gefangenen?

Ziemlich weit weg. Kürzlich kam z. B. heraus, dass sich eine Person in Minusink befindet, das ist die Region Krasnojarsk. Viele sind in Saratov, in Mordovien, im europäischen Teil der Russischen Föderation. Aber sie bringen unsere Gefangenen auch noch weiter weg. Saratov ist schon recht weit entfernt, und Kamyschyn ist im Gebiet Volgograd. Auch jenseits des Urals sind Gefangene, es werden immer mehr. In Groznyj wissen wir von 199 Personen. Soweit uns bekannt, werden sie dort ordentlich behandelt, sie werden nicht gefoltert, nicht geschlagen, nicht erniedrigt, und man erlaubt ihnen zu telefonieren.

Die Haftbedingungen sind also in jedem Gefängnis, in jeder Region unterschiedlich?

Hier in Groznyj ist die Untersuchungshaftanstalt Nr. 1. Da sind die Bedingungen für unsere Gefangenen deutlich besser als anderswo. Es gab einen Fall, in dem Tschetschenen vier Matrosen aus einer anderen Kolonie übernommen haben, wo man sie schwer gefoltert hatte. Bei den Tschetschenen gilt die Regel: Wir behandeln die Euren menschlich, und Ihr unsere auch. Ich habe dafür keine Beweise, aber ich denke, dass es so ist.

Wenn in Groznyj mehr oder weniger normale Bedingungen bestehen, wo sind sie am schlimmsten?

In Mordovien. Da ist die Untersuchungshaftanstalt Nr. 10 in Udarnyj in der Region Subovo-Poljanskij. Dann gibt es die sehr schlimme Einrichtung Nr. 2 in Taganrog. Das sind eine besondere Folterstätte, wo man jene brechen will, die nicht die Aussagen machen wollen, die die Russen haben wollen, oder die sie vor Gericht widerrufen. Solche Personen werden in Taganrog inhaftiert und von neuem gefoltert, um sie dazu zu bringen, ihre Aussagen zurückzunehmen, die widerlegen, was sie im Laufe der Ermittlung unter der Folter ausgesagt hatten.

Es gibt noch die Kolonie in Galitsch, Gebiet Kostroma. Dort wird fast so wie in der Anstalt Nr. 10 gefoltert. Und Kamyschyn im Gebiet Volgograd, und Pakino. In der Tat wird in den meisten Kolonien gefoltert, der einzige Unterschied liegt im Ausmaß. In einigen Kolonien gehört die Folter einfach zum Leben. Kein Tag vergeht ohne Folter, jeden Tag wird geschlagen, und die Schläge arten oft in Folter aus.

Sind diese Folterungen eine Fortsetzung der sowjetischen Gefängnistradition? Oder gibt es hier noch ein zusätzliches Ziel?

Das ist nicht nur eine Tradition. Es geht darum, den Gefangenen physisch und psychisch zu brechen. Seine Gesundheit so weit zu ruinieren, dass er nach einem Austausch nicht mehr kämpfen kann. Ein weiteres Ziel ist es, ihn seelisch zu brechen. Die Menschen werden extrem erniedrigt, man zwingt sie, bis zu zehnmal am Tag die russische Hymne und patriotische russische Lieder zu singen.

Ich habe von früheren Gefangenen gehört, dass man sie häufig von einer Kolonie in andere bringt. Wozu? Um Spuren zu verwischen? Welche Logik steckt dahinter?

Sie werden mit der Zeit immer weiter von der Frontlinie weggebracht, ins Landesinnere Russlands. Nicht alle, aber diese Tendenz ist offensichtlich. Je weiter weg sie sind, desto schlechter sind die Haftbedingungen. Wir haben das am Beispiel der 36. Brigade beobachtet. Aber es ist nicht sicher, dass das für alle Gefangene gilt.

(Zur Geographie der russischen Gefangenschaft lesen Sie ausführlicher hier.)

Wohin kamen die Gefangenen der 36. Brigade…?

Zuerst nach Olenivka. Dann nach Taganrog, dann in eine der Kolonien in den Gebieten Brjansk, Kursk, Belgorod oder Kostroma im europäischen Teil Russlands. Danach wurden sie nach Mordovien gebracht. Innerhalb Russlands kann man sie noch weiter transportieren, nicht nur in eine Kolonie, sondern in zwei oder drei, schließlich gibt es fünf.

Wer wird von den Russen in der Gefangenschaft am schlechtesten behandelt?

Asov-Angehörige, Matrosen, Scharfschützen, Artilleristen… Für Offiziere sind die Bedingungen schlechter als für einfache Soldaten. Bei Frauen kann ich nicht sagen, dass es für sie leichter ist, da kommen noch andere Probleme dazu, sexuelle Gewalt… Allerdings werden auch Männer vergewaltigt, die sprechen aber fast nie darüber.

Welcher Anteil von Kriegsgefangenen wird vor „Gericht“ gestellt?

Ein großer Teil wird ohne Gerichtsverhandlung festgehalten. Aber der Anteil von Personen, die vor Gericht kommen, nimmt zu. In unserer Datenbank sind bereits 740 verurteilte Kriegsgefangene verzeichnet, 514 Soldaten und 226 Zivilisten. In Wirklichkeit sind es mehr. Man muss bedenken, dass Verurteilte ebenfalls ausgetauscht werden. Ich schätze die Bemühungen des Koordinierungsstabs um einen Austausch von Personen, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, sehr hoch ein. 36 „Lebenslängliche“ wurden bereits ausgetauscht, einige sind noch übrig. Es gibt vier Kolonien, in denen solche Häftlinge inhaftiert sind: zwei in Mordovien - in der Kolonie Nr. 1 in Sosnovka befinden sich drei solcher Kriegsgefangener und in der Kolonie Nr. 6 in Torbeev fünf. Dann gibt es den so genannten „Schwarzen Delphin“ im Bezirk der Jamalo-Nenzen, wo sich zwei bis drei „lebenslängliche“ Kriegsgefangene befinden. Im Gefängnis „Weißer Schwan“ im Bezirk Solikamsk-Perm waren früher auch Ukrainer, jetzt aber nicht mehr. Das heißt, zehn bis elf Personen sind noch verblieben. Hoffentlich gelingt es, auch sie auszutauschen. Bei den zivilen Gefangenen ist mir nur ein Fall einer lebenslangen Haftstrafe bekannt. Hier ist das Berufungsverfahren noch nicht abgeschlossen.

Generell bekommen wir immer mehr Informationen über Menschen in russischer Haft. Wir müssen uns damit weiter befassen, bis wir das Schicksal jeder Person aufgeklärt haben, die in Gefangenschaft ist oder vermisst wird.

 

Eine Koalition von Menschenrechtsorganisation setzt sich im Rahmen der Kampagne PEOPLE FIRST! für die Freilassung von Personen ein, die im Zuge der russischen Aggression gegen die Ukraine in Gefangenschaft gerieten, insbesondere auch derer, die von russischen Gerichten verurteilt wurden.

 

Quelle: https://khpg.org/1608814654

 

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Vera Ammer

 

15. Mai / 25. Mai 2025

 

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