Menschenrechtsverletzungen in der Konfliktzone in Südossetien - Presseerklärung des MEMORIAL-Menschenrechtszentrums vom 11.09.08

Einen Monat nach dem Krieg: Menschenrechtsverletzungen in der Konfliktzone in Südossetien

Vom 3. bis 8. September 2008 haben sich Vertreter des Menschenrechtszentrums „MEMORIAL“ und von Human Rights Watch in der militärischen Konfliktzone in Südossetien aufgehalten. Außer der Hauptstadt Südossetiens Zchinwali haben wir ossetische Dörfer, georgische sowie solche mit gemischter Bevölkerung besucht.

Wir waren im Westen von Zchinwali (in Nowyj Tbet, Chetagurowo, Ubiat, Artschneti, Awnewi, Mugut), im Osten von Zchinwali (in Eredwi, Sarabuk, Wanati, Orteu, Dmenis, in der entlegenen Bikar-Schlucht des Bezirks Leningor), im Norden (in den Dörfern Tamarascheni, Atschabeti, Kurta, Kechwi, in Dzhawa) und in Sinagur in der entlegenen Lesegon-Schlucht im Westen des Bezirks von Dzhawa.

Wir sprachen mit Einwohnern von Zchinwali und den Dörfern, mit Milizionären und Reservisten, mit ossetischen und russischen Militärs. Außerdem trafen wir uns mit dem Menschenrechts-Bevollmächtigten, mit dem Vertreter des Staatsanwalts der Republik, dem Leiter des Komitees für Presse und Information sowie mit anderen Vertretern der südossetischen Behörden.

Auf Grund der Recherchen in der Region kommt das Menschenrechtszentrum „MEMORIAL“ zu folgendem Ergebnis:

  1. In der Nacht vom 7. auf den 8. August griffen die georgischen Streitkräfte Südossetien an. Es kam zu einer unverhältnismäßigen Anwendung von Gewalt. Die Stadt Zchinwali und Dörfer, in denen sich Zivilisten aufhielten, wurden beschossen, wobei Streuwaffen, in erster Linie die Raketenwerfer „Grad“ zum Einsatz kamen.
  2. Infolgedessen gab es Opfer unter der Bevölkerung Südossetiens. Zur Zeit ist es nicht möglich, die genaue Zahl der Toten anzugeben. Bis heute sprechen einige offizielle Stellen von Tausenden von Toten, allerdings ist es nach wie vor unmöglich, die Quelle für diese Behauptungen zu eruieren. Dagegen spricht der Untersuchungsausschuss Russlands von 137 Toten. Klarheit in dieser Frage kann es nur geben, wenn eine Liste der Getöteten veröffentlicht wird. Ein Schritt in diese Richtung ist die Liste von 311 Getöteten, die die „öffentliche Untersuchungskommission“ ins Internet gestellt hat. Leider ist es uns nicht gelungen, Vertreter dieser Kommission ausfindig zu machen und zu klären, auf welche Weise und auf Grund welcher Quellen diese Liste erstellt wurde. Genaue, bestätigte Listen gibt es derzeit nicht. Aber es ist offenkundig, dass es unter den Getöteten Dutzende Zivilisten gab, darunter Frauen, Kinder und Greise. Diese Verluste sind für das kleine Südossetien umso größer.
  3. Aus Gesprächen mit ossetischen Dorfbewohnern und mit den Einwohnern der am meisten beschädigten Bezirke Zchinwalis konnten wir erfahren, dass die meisten Umgekommenen am bewaffneten Widerstand teilgenommen hatten. Ein Großteil der Zivilbevölkerung hatte die Stadt in der Vorwoche verlassen, die Verbliebenen hatten in Kellern Schutz gesucht. In einigen Fällen haben wir festgestellt, dass diese Häuser, auch die Keller, beschossen wurden. Aber in der Regel kamen diese Zivilisten ums Leben, wenn sie herauskamen, um ihr brennendes Haus zu retten, um Wasser zu holen oder um auf dem vom 8. auf den 9. August offenbar angekündigten „humanitären Korridor“ die Stadt zu verlassen.
  4. In Zchinwali gab es von Seiten der Besatzung einer zerstörten georgischen Militärfahrzeugs den Versuch, Geiseln unter der Zivilbevölkerung zu nehmen. Beim Rückzug aus den Dörfern verschleppten georgische Militärs außerdem Kriegsgefangene und Geiseln. Wir haben einige Klagen wegen des grausamen Umgangs mit den Geiseln festgehalten. Obwohl wir die Menschen befragt haben, die in den Dörfern zurückgeblieben waren, die sich lange Zeit unter Kontrolle der georgischen Streitkräfte befunden hatten, konnten wir keine Fälle von Foltern, Morden oder anderen Formen grausamen Umgangs mit Frauen, Kindern und Alten durch georgische Infanteristen feststellen. Die georgischen Militärs sagten vielen Einwohnern, dass sie den strikten Befehl hatten, diese Bevölkerungsgruppen nicht anzurühren. Die Einwohner jener Dörfer, in denen Meldungen russischer Massenmedien zufolge „Menschen in Kirchen verbrannt“ worden waren, haben derlei Fakten nicht bestätigt. Darüber hinaus wurden einige Verwundete und schwerkranke Osseten in georgische Krankenhäuser gebracht, wo sie behandelt und gepflegt wurden. Es gibt auch Gegenbeispiele: Wir haben gesehen, wie Osseten den in den Dörfer zurückgebliebenen georgischen Greisen geholfen haben.

5. Die privaten und öffentlichen Gebäude von Zchinwali wurden durch den Beschuss und die Bombardierung seitens der georgischen Streitkräfte schwer beschädigt. Einige Schäden mögen auch auf russischen Artilleriebeschuss zurück gehen, die Bewohner erklärten jedoch insgesamt, dass die Zerstörung durch den Beschuss in der Nacht vom 7. auf den 8. und am 8. August erfolgte, als die russischen Truppen sich noch weit weg von Zchiwali befanden. Der russische Zivilschutzminister, Sergej Schoigu, bezifferte die Zahl der Häuser, die nicht wieder aufgebaut werden müssen, auf 10%, weitere 20% müssten instand gesetzt werden. Diese Einschätzung blieb unwidersprochen. Die aufgrund von Luftaufnahmen erfolgten Schätzungen sind etwas zu niedrig angesetzt, da die Treffer von Panzermunition auf mehrstöckige Häuser das Dach intakt lassen können und derartige Schäden durch Satelliten dann nicht ermittelt werden.
6. Am 13. August, innerhalb von zwei Tagen nach Herstellung der Kontrolle über die georgischen Enklaven, hat die russische Armee wirksame Maßnahmen zum Schutz der dort verbliebenen Zivilbevölkerung und des Eigentums ihrer Bewohner ergriffen: Es kam nicht mehr zu Plünderung und Brandstiftung. Ferner wurden mindestens 100 georgische Dorfbewohner, die ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen konnten, aufgefunden und von den Kräften des Zivilschutzministeriums nach Georgien gebracht. Dieser erfolgreiche Versuch zeigt, dass es grundsätzlich möglich ist, ähnliche Aufgaben auch gut durchzuführen. Etwa 5 Tage später wurden die Posten jedoch abgezogen und die Zerstörung der Dörfer wieder fortgesetzt.
7. Heute sind die georgischen Dörfer (wir besuchten u.a. Kechwi, Kurta, Atschbeti, Tamarascheni, Eredwi, Wanati, Awnewi) fast vollständig niedergebrannt. Einen Monat nach Einstellung der Kampfhandlungen brennen noch letzte Häuser aus – wir haben täglich neue Brände gesehen.
Es gibt Dörfer mit sowohl gemischter als auch georgischer Bevölkerung, die nicht verlassen wurden und deren Bewohner in Sicherheit sind (das Dorf Arznewi, georgische Gehöfte der Bikar-Schlucht und Dörfer im südwestlichen Dzhawa-Bezirk).

8. Die georgische Bevölkerung hat die Enklave-Dörfer auf dringenden Rat der dortigen pro-georgischen Verwaltung fast vollständig am Vorabend des Einmarsches der georgischen Armee nach Südossetien verlassen, auf das Versprechen hin, bald zurückkehren zu können. Zurück blieben jene, die aus irgendeinem Grund das Dorf nicht verlassen konnten oder wollten - vor allem ältere GeorgierInnen und gemischte Familien. In Awnewi, das ausgestorben schien, stießen wir auf zwei ältere Personen und drei gemischte Familien (Sie befinden sich jetzt in der Obhut des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und werden dort humanitär versorgt bzw. an einen anderen Ort gebracht – noch am 8. September wurden 29 Personen durch das Rote Kreuz evakuiert.). Es muss jedoch gesagt werden, dass nicht nur die Georgier und die gemischten Familien, sondern auch die ossetischen Dorfbewohner gefährdet sind: Plünderer, die damit rechnen, ungeschoren davon zu kommen, plündern und brandschatzen nicht nur die verlassenen Häuser der Georgier, sondern jedes beliebige Objekt. Die Dörfer sind ohne wirksamen Schutz. Nur ein einziges Mal trafen wir auf einen gemeinsamen russisch-ossetischen Posten, der die Ausweise kontrollierte, und auch dieser blieb nicht einmal einen ganzen Tag. Plünderer, die gefasst werden, kommen nur geringfügig bestraft davon.
Die Regierung von Südossetien sorgt weder für den Schutz des Eigentums in den georgischen Enklaven noch für die Sicherheit ihrer Bewohner. Diese Aufgaben hat das russische Militär auch nicht übernommen. Die Situation in diesen Dörfern ist völlig unhaltbar.

In unmittelbarer Zukunft müssen die in Zchinwali befindlichen Kräfte des Zivilschutzministeriums gemeinsam mit den Vertretern des russischen und südossetischen Innenministeriums in den Dörfern unbedingt systematisch nach Überlebenden suchen und auch die Toten zu bergen.
9. Die nach Südossetien verlegte 58. russische Armee und in jedem Fall diejenigen, die von den vorläufigen Stationierungsorten ihrer Einheiten weit entfernt liegen, sind nach ihrem Eintreffen in der Weinregion allmählich in Auflösung begriffen. Die Gastfreundschaft und Dankbarkeit der dortigen Bevölkerung hat sie nicht nur kampfunfähig, sondern auch zur einer Gefahr für sich selbst und ihre Umgebung werden lassen. Hier entsteht ein Problem, das dringend gelöst werden muss.

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