Prozess mit Reminiszenzen an die Sowjetunion
Wie nicht anders zu erwarten, wurde nach dem gestrigen Verdikt gegen Memorial International heute, am 29. Dezember, auch die Auflösung des Menschenrechtszentrums Memorial verfügt.
In beiden Gerichtsverfahren ging es weniger um die ursprünglich vorgebrachten (oder vorgeschobenen) Vorwürfe gegen Memorial (der fehlenden „Agenten“-Kennzeichnung von Publikationen) oder, wie beim Menschenrechtszentrum, um „Extremismus“ oder „Terrorismus“.
Aleksej Zhafjarov, der stellvertretende Leiter der Staatsanwaltschaft, warf Memorial unverblümt vor, Vaterlandsverräter und nationalsozialistische Verbrecher zu rechtfertigen und zu rehabilitieren (deren Namen sich auf der Datenbank der Opfer politischer Verfolgungen fänden). Eben dafür würde Memorial auch bezahlt, und dies sei der Beweggrund, ausländische Geldquellen zu verbergen und Publikationen nicht als die eines „ausländischen Agenten“ zu markieren.
Zu Vorwürfen dieser Art hatte sich Memorial bereits mehrfach geäußert, zuletzt in der Erklärung zu diesem Verfahren.
Tags darauf wurde dem Menschenrechtszentrum vorgehalten, sich „an allen Protestbewegungen beteiligt und alle Proteste unterstützt“ zu haben, die auf eine „Destabilisierung des Landes“ abzielten. Mit dem Verzeichnis politischer Gefangener werde ein negatives Bild vom russischen Rechtssystem vermittelt, zum Zweck der Desinformation der Bürger des Landes.
Grigorij Vajpan, einer der Anwälte, die Memorial vertraten, wies darauf hin, dass Memorial am Vortag die „Verleumdung der Sowjetunion“ zur Last gelegt worden sei, und heute die der Russischen Föderation. Werturteile seien indes keine Verleumdung. Er wies auf die frappierenden Parallelen zu Prozessen gegen die Bürgerrechtler Sergej Kovalev und Jurij Schichanovitsch hin (letzterer war seinerzeit ebenfalls vom Moskauer Stadtgericht verurteilt worden) – die Formulierungen in der Anklage deckten sich fast wörtlich mit den heutigen Anwürfen gegen Memorial.
Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Sobald die begründete Entscheidung vorliegt, können beide angefochten werden.
Darüber hinaus hat das Europäische Gericht für Menschenrechte festgehalten, dass die Vollstreckung beider Urteile auszusetzen seien, bis das Gericht die Klage mehrerer russischer Nichtregierungsorganisationen – darunter der betroffenen Memorial-Verbände – gegen das „Agentengesetz“ abschließend behandelt hat. Diese Klage war bereits 2013 eingereicht worden.
29. Dezember 2021