Prominente Unterstützung für Erklärung zugunsten Dmitrievs
Seit etwa eineinhalb Jahren nun ist Jurij Dmitriev, Leiter von Memorial Karelien, der seit vielen Jahren die Geschichte des sowjetischen Terrors in Karelien erforscht, in Haft. In einem ersten Verfahren war Dmitriev vom Stadtgericht Petrozavodsk von dem Vorwurf der Pornographie freigesprochen und am 27. Januar 2018 aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Am 27. Juni 2018 wurde Dmitriev erneut verhaftet, diesmal wegen angeblicher gewaltsamer sexueller Handlungen gegen Minderjährige unter 14 Jahren [Art. 132, Abschn. 4b des russ. StGB], ihm drohen nun bis zu 20 Jahren Haft. Jetzt haben über 200 bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eine Erklärung zur Unterstützung Dmitrievs veröffentlicht, darunter der Politiker Grigori Javlinskij (Jabloko), die Literaturnobelpreisträgerin Svetlana Aleksievitsch, die Schriftstellerin Ljudmilla Ulizkaja, dieSchauspielerin Lija Achedshakova, Valerij Borschtschev (Moskauer Helsinki Gruppe), der Dichter Dmitrij Bykov, Aleksandr Daniel, Vorstandsmitglied bei Memorial International, Kinoregisseur Andrej Zvjaginzev, die Musiker Boris Grebenschtschikov, Julij Kim und Andrej Makarevitsch sowie Jan Raczynski, Vorsitzender von Memorial International. Wir bringen die Erklärung in Übersetzung.
Jurij Aleksejevitsch Dmitriev (1956), karelischer Historiker und Forscher, hat 30 Jahre seines Lebens der Wiederherstellung der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen gewidmet, ist Begründer der Erinnerungsstätten allrussischer Bedeutung Sandarmoch und Krasnij Bor (eines Gedenkfriedhofs auf dem Berg Sekirnaja auf den Solovezki Inseln) sowie weiterer Stätten. Er ist Verfasser der Bücher „Hinrichtungsort Sandarmoch“, „Bestattungslisten Kareliens“, „Der Weißmeer-Ostsee Kanal“, „Die Heimat gedenkt ihrer“, „Krasnij Bor“ und anderer. In Sandarmoch fand Jurij Dmitriev Grabstätten und klärte die Identität von etwa 7.000 Erschossenen aus 56 Nationen auf. Insgesamt ermittelte er mehr als 55.000 Namen von Getöteten und Repressionsopfern.
Er wurde ausgezeichnet mit dem Sacharov-Preis, dem Preis der Moskauer Helsinki Gruppe für Verdienste auf dem Gebiet der Menschenrechte, mit dem Goldenen Verdienstkreuz der Republik Polen sowie mit der Ehrenurkunde der Republik Karelien, zweimal war er nominiert für den Boris-Nemzov-Preis sowie einmal für den Jegor-Gaidar-Preis.
Jährlich am 5. August, am Tag der Erinnerung an den Beginn des Großen Stalinschen Terrors, reisen nach Sandarmoch und Krasnij Bor Angehörige russischer Bürger, die an diesen Orten erschossen wurden, Verwandte russischer Bürger ehemaliger Sowjetrepubliken sowie Delegationen aus dem Ausland, deren Staatsangehörige ebenfalls in den Wäldern Kareliens erschossen wurden. Am 24. September dieses Jahres wurde die Gedenkstätte Sandarmoch von einer Delegation aus 24 Botschaftern der Europäischen Union besucht. Währenddessen läuft in Karelien ein weiteres Strafverfahren gegen Jurij Dmitriev, der am 28. Juni 2018 erneut verhaftet wurde.
Knapp drei Monate vor der zweiten Verhaftung war Jurij Dmitriev vom Stadtgericht Petrozavodsk am 5. April 2018 nach langer Inhaftierung in Untersuchungshaft und psychiatrischen Kliniken freigesprochen worden. Das Gericht hatte seine Unschuld, die Rechtswidrigkeit der Anklage gegen ihn wegen Kinderpornografie und sittenwidriger Handlungen bestätigt. Aber die karelischen Ermittler und Staatsanwälte gaben nicht auf. Sie gestanden die Rechtswidrigkeit ihrer Handlungen nicht ein, sie erreichten eine Aufhebung des Freispruchs und versuchen Dmitriev wegen eines noch schwerwiegenderen Paragraphen zu verurteilen, wegen gewaltsamer sexueller Handlungen (das Strafmaß beträgt bis zu 20 Jahre).
Unzulässige und unmenschliche Methoden wurden in Gang gesetzt: man setzte die Adoptivtochter Jurij Dmitrievs unter Druck und manipulierte ein Kind, um eine Aussage gegen einen nahestehenden Menschen zu erhalten. Die Initiatoren dieses Verfahrens wollen einen Freispruch Dmitrievs um jeden Preis vermeiden, ihn verleumden und hinter Gitter bringen, um keine Verantwortung für die illegale Organisation von Strafverfahren sowie für das nun schon dreijährige illegale Festhalten eines Unschuldigen in Haft und psychiatrischen Einrichtungen zu tragen. Das wird durch eine in den Massenmedien und auf den föderalen Fernsehsendern organisierte schmutzige Kampagne gegen Dmitriev deutlich, den man, ohne die gerichtlichen Ermittlungen abzuwarten, schon im ganzen Land zum Verbrecher erklärt hat; auf Fernsehbildschirmen und im Internet werden Fotos des Mädchens aus den Ermittlungsakten vorgeführt, die nur aus dem Händen der Sicherheitsbehörden stammen können. Und das alles, um die Öffentlichkeit "auf eine falsche Spur" zu lenken, mit dem Ziel, Hass gegen Jurij Dmitriev zu schüren und damit massiven Druck auf das Gericht auszuüben.
Das Schlimmste aber ist, dass zu diesem Zweck das Schicksal eines Kindes zerbrochen wird, dem ein derartiger „Schutz“ seiner Interessen irreparable seelische Schäden zugefügt hat und zufügen werden. Die Tätigkeit der Ermittler und Staatsanwälte in Karelien in der Sache Dmitriev stehen in Widerspruch zur offiziellen Position des föderalen Zentrums, das eine konsequente Unterstützung des Prozesses der Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen und den Erhalt ihrer Grabstätten zeigt, das heißt jener Arbeit, mit der sich Jurij Dmitriev beschäftigt.
Wir fordern die Öffentlichkeit, die Expertengemeinschaft und die Massenmedien auf, den Fall Dmitriev weiterhin aufmerksam zu beobachten und nicht zuzulassen, dass die karelischen Sicherheitskräfte mit einem wertvollen Bürger Russlands abzurechnen, der dreißig Jahre seines Lebens der Wiederherstellung und der Bewahrung der Erinnerung an Bürger unseres Landes sowie anderer Staaten gewidmet hat, die unschuldig während des Großen Terrors, der Stalinschen Massenrepressionen in den Jahren 1937 – 1938, umgekommen sind. Es darf nicht zugelassen werden, dass die tragischen Seiten der Geschichte Russlands totgeschwiegen und entstellt werden.
Quelle: Novaja gazeta, 28.10.2019