Stimmen des Krieges: Bach spielen vor der Kulisse von Explosionen

Akkordeonist Ihor Savadskyj

Jeden Tag seit Beginn des Krieges spielt der ukrainische Akkordeonist Lieder und veröffentlicht sie auf seinem Kanal, um Mut zu machen. Sein Schaffen in Zeiten des Krieges wurde zur Grundlage eines neuen Albums mit Rekordlänge.

Andrii Didenko

Als ich erfuhr, dass die großangelegte Aggression in der Ukraine begonnen hatte, war das Erste, was ich tat, ein Stück rauszusuchen, das meinen Gefühlen entsprach. Das war Bachs „Echo“. Als ich dieses Werk am 1. März im Eingang meines Hauses aufnahm, gab es draußen vor dem Fenster Explosionen. Musik, die von der Seele und vom Herzen kommt, das ist Licht. Und jedes Werk, das ich spiele, ist ein Lichtstrahl. So kam es, dass ich jeden Tag, vier Monate hintereinander ein neues Stück gespielt habe. Als Antwort auf die Macht des Bösen, die Macht der Finsternis. Und dieses Echo über meinen Youtube- und Facebook-Kanal verbreitet habe. Jeden Tag schreibe ich Posts. Tag eins des Krieges, Tag zwei des Krieges. Bis jetzt habe ich keinen einzigen Tag ausgelassen.

Zur Videoaufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?v=ZWaAO_ZMGI0

Meine musikalische Front ist stark. Das Ergebnis von diesem Echo ist in meinem Herzen, diese Ereignisse wurden zu meinem Musikalbum. Das ist das Musikalbum „Echo“. Es wurde zum Rekordbrecher.

Ich glaube, es gibt auf der Welt kein Album mit einer Spielzeit von 9,5 Stunden. Hier, da sind türkisfarbene CDs, drei Stück. Für mich ist das schon das 16. Album, alles hat auf zwei DVDs gepasst. Das Gute sollte mit Fäusten einhergehen, deshalb ist auf dem Cover ein Foto mit einer Faust zu sehen. Auf dem Album sind 123 Musikstücke, die ich vier Monate hintereinander aufgenommen habe.


Ihor Savadskyj – ukrainischer Akkordeonist, Foto: Andrii Didenko für KHPG

Für einen Musiker ist es wichtig, so wie für alle auch, seine eigene Front zu haben. Für uns ist das die musikalische Front. Jeder muss an seiner Front den Sieg näherbringen, und gemeinsam werden wir auf jeden Fall siegen. Ich habe die Premiere zur Eröffnung meiner Konzertsaison im Haus des Schauspielers in der Jaroslav-Wall 7 vorbereitet. Am 30. September werde ich meine Konzertsaison eröffnen. Ich wollte vier oder fünf Premieren und viele andere Werke meiner verschiedenen Musikalben aus unterschiedlichen Jahren spielen. Heute habe ich entschieden, meinen Zuschauern auf Youtube ein Geschenk zu machen. Ich werde zwei Worte über das Werk „Erinnerungen“ sagen.

Es gibt so eine wissenschaftliche Theorie, nach der ein Mensch, der für tot erklärt wird, keinen Puls mehr hat und keinen Herzschlag, das Gehirn aber noch einige Zeit weiterlebt. Mindestens 100 Sekunden.

Und ich entschloss, folgendes musikalisches Bild zu schaffen: Stell dir vor, was ein Mensch fühlt, wenn alle glauben, dass er schon tot ist, aber vor ihm das ganze Leben innerhalb dieser 100 Sekunden vorbeizieht. Mein Stück, dass ich jetzt spielen werde, dauert ungefähr 100 Sekunden. Erinnerungen vom ersten bis zum letzten Herzschlag.


Andrii Didenko, KHPG

Vielleicht hatte die Tragödie in Tschernihiv und an der Front so eine Wirkung auf mich. Deshalb stelle ich mir heute so ein Bild vor: Ich stelle mir vor, wie die Freunde unserer tödlich verletzten Kämpfer deren Tod feststellen. Sie laufen oder hocken im Schützengraben. Und ihr Puls schlägt schnell, ganz schnell, wegen der Anspannung, dem Stress, Krieg, Gewehrsalven, wer schlägt wen und so viel Tode. Ich werde auch diesen Puls haben, den Herzschlag in schnellem Tempo. Ich habe einen meditativen Teil gemacht, der in diesen hundert Sekunden vorkommt: Auf ihm ruht praktisch das ganze Fundament dieses Stückes. Das ist so eine sehr, sehr kleine Linie zu den hellsten Erinnerungen und Ereignissen, die es im Leben eines Menschen gegeben hat.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

Das Video mit Ihor Savadskyj finden Sie hier.

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

14. November 2023

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