Stimmen des Krieges: „Erschreck' die Kinder nicht, nimm' die Waffe runter.“

Serhij Bobko, ein Bewohner des besetzten Dorfes Bogdanivka, versteckte seine Töchter im Keller, als im Haus ein russischer Soldat auftauchte. Glücklicherweise kam an diesem Tag niemand zu Schaden. Serhij verließ mit seiner Familie das Dorf, als er zurückkehrte, sah er zerbrochene Fenster und Türen und sein geplündertes Haus.

von Oleksij Sydorenko

 

Ich heiße Serhij Bobko. Ich wohne im Dorf Bogdanivka. Am 8. März, irgendwann gegen 10:00 Uhr morgens, kamen die Russen zu uns, wir standen schon unter Besatzung. Wir hörten Geräusche, Schüsse und das Dröhnen von Fahrzeugen, die über die Straßen fuhren.

Gab es viele Militärfahrzeuge?

Das habe ich nicht gesehen, ich wohne nicht an der Straße, aber es war gut zu hören. Erst später haben wir Videos von anderen Leuten gesehen. Es heißt, es waren mehr als 200 Einheiten (militärische Ausrüstung). Aber wie viel genau, kann ich Ihnen nicht sagen. Sie kamen, begannen über die Höfen zu laufen, stellten die Menschen neben den Häusern auf, überprüften, wer wo wohnt. Sie kamen zu uns und fragten, wer in dem Haus lebt.

Mit wem leben Sie zusammen?

Ich lebe allein, aber ich habe Kinder und eine Frau. Sie wohnen im Nachbardorf, aber sie waren hier bei mir, denn ich hatte sie am 24. hierher geholt, als ich erfuhr, dass der Angriff schon im Gange war. Ich habe einen Keller, sie waren hier im Keller.

Sind die Russen zu Ihnen nach Hause gekommen?

Sie kamen und fragten, wer und wie viele Personen im Haus sind. Ich sagte: „Die Kinder sind im Haus. Erschreck' sie nicht, wenn du willst, geh' rein, aber nimm die Waffe runter.“ Er war allein, ging rein und sah sich um. Er bot mir sogar irgendwelche Lebensmittel an, aber ich lehnte ab. Und das war's, dann ging er wieder. Sie kamen nicht noch einmal. Nein, sie kamen später erst wieder, aber da war schon niemand mehr hier. Sie schlugen die Fenster und die Türen ein und verwüsteten das Haus.

Wie lange sind Sie im Dorf geblieben?

Wir konnten nicht evakuiert werden, obwohl wir ein Auto haben. Wir hätten wegfahren können, aber sie ließen uns nirgends raus. Wenn ein Auto auf der Straße stand, dann wurde es beschossen und kurz und klein geschlagen. Das passierte mehrmals. Hier auf der Straße und da, an der Seite. Ich schaffte es, mein Auto in den Hof zu fahren, ich hatte Glück!

Nebenan bei meiner Schwester, bei der Nichte ihres Mannes haben sie [die Russen] die Reifen zerstochen und die Fenster eingeschlagen, sodass man mit dem Auto nicht mehr fahren konnte. Und erst danach, ich weiß schon nicht mehr an welchem Datum, schufen sie einen Grünen Korridor und brachten die Menschen raus. Es begann der Beschuss. Ich begriff, dass die Unsrigen begannen, sie zu vertreiben. Am 21. gab es die erste Evakuierung, den Grünen Korridor. Die Kinder fuhren weg und ich ging dann am 23.

Es gab Busse und Autos. Ich fuhr mit meinem eigenen Auto. Zuerst ließen sie uns nicht raus, dann kam das Rote Kreuz und erst danach konnten wir von Dymerka aus durch Bogdanivka weg.

Wohin wurden Sie evakuiert?

In die Stadt Brovary (Gebiet Kyjiv). Weitergefahren bin ich dann auf eigene Faust. Am 10. April kehrte ich zurück, als sie uns erlaubten, ins Dorf hinein zu fahren. Meine ältere Tochter hatte einen Bandscheibenvorfall, wir konnten sie nicht weit transportieren. Sie fuhren in das Dorf Rudnja zu Verwandten. Da waren keine Russen, das Dorf war nicht besetzt.

Was ist mit Ihrem Eigentum?

Hinter dem Schuppen schlug eine Granate ein. Was genau für eine, weiß ich nicht. Es hat nicht gebrannt. Sie schlug hinter dem Schuppen ein und hinterließ eine knietiefe Grube. Der Schuppen ist zerstört, das Haus beschädigt, das Dach, die Fenster, die Türen. Alles war kaputt.

Serhij Bobko, Bewohner des Dorfes Bogdanivka, Gebiet Kyjiv
Serhij Bobko, Bewohner des Dorfes Bogdanivka, Gebiet Kyjiv

 

Konnten Sie dort nicht mehr wohnen?

Na, ja, das ging, wir haben alles ausgetauscht, Türen und Fenster ausgewechselt, die Löcher in den Wänden ausgebessert, Doppelverglasung eingebaut und wir wohnen hier.

Wie oft wurde Bogdanivka beschossen?

Oft. Weil ihre Militärtechnik direkt hier stand, sie hatten ihre ganze Technik auf der Farm aufgestellt. Sie haben sich versteckt und dachten, dass man sie in Ruhe lassen und nicht bombardieren würde, wenn sie sich bei Wohnhäusern aufhalten. Aber unsere Leute mussten dorthin schießen, wo ihre Technik stand, um sie zu zerstören, damit sie hier verschwinden. Und sie [die Russen] haben auch geschossen, Tag und Nacht. Das war so furchtbar! Ich konnte das gut hören, mein Haus ist ja direkt daneben. Die Kinder haben bis heute Angst vor Lärm. Sie haben das alles sehr schlecht verkraftet.

Sind in Bogdanivka viele Häuser zerstört?

Viele. Wenn man es in Prozentzahlen ausdrücken möchte, dann, denke ich, sind 15 Prozent zerstört. Das sind die völlig zerstörten Häuser, wenn man die teilweise beschädigten nicht mitzählt. Bei manchen sind die Wände zerschlagen, das Dach, die Türen und Fenster. Sie sind ausgeraubt. Man kann sagen, dass jedes zweite Haus ausgeraubt wurde, wenn nicht gar jedes.

Haben die Russen geplündert?

Ich war nicht hier, ich sagte ja, dass ich weggefahren bin. Aber alles war zertrümmert. Meine Schwester und ich haben ein Haus mit zwei Eingängen, bei ihr waren Türen und Fenster herausgeschlagen, alles im Haus war auf den Kopf gestellt. Bei mir sah es genauso aus. Ja, sie sind ins Haus gegangen und haben alle Wertsachen mitgenommen. Gold, Geld, alles. Alles, was sie tragen konnte, haben sie mitgenommen. Wieso auch nicht, es war doch niemand da...

Was wurde gestohlen?

Alles: elektronische Geräte, Mikrowellen, den Heizkessel haben sie zerstört. Was die da gesucht haben, in dem Heizkessel verstehe ich nicht. Alles im Haus war voller Staub, alles war auf den Kopf gestellt. Ob sie dort gewohnt haben oder nicht, kann ich Ihnen nicht sagen.

Haus von Serhij Bobko, Bogdanivka, Gebiet Kyjiv
Haus von Serhij Bobko, Bogdanivka, Gebiet Kyjiv

 

Hätten Sie sich vor dem 24. Februar vorstellen können, dass es zu einem totalen Krieg kommen würde?

Überhaupt nicht. Nicht mal einen Gedanken daran gab es. Wie, angreifen? Wir sind im 21. Jahrhundert! Was für ein Krieg denn? Niemand hat auch nur im Entferntesten daran gedacht. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht einmal Nachrichten geschaut. Ich habe mich überhaupt nicht dafür interessiert. Am 24., als die Luftangriffe schon begonnen hatten und die Information vom Angriff kam, war ich bei meiner Tochter, sie hat am 22. Geburtstag. Am 24. weckten sie mich und sagten: „Papa, Explosionen!“ Ich sagte: „Das kann nicht sein, das sind wahrscheinlich irgendwelche Böller, wahrscheinlich eine Feier, vielleicht was mit Neujahr oder jemand hat Geburtstag.“ Und dann passiert so was. Ich bin noch nach Bogdanivka gefahren, um das Auto zu tanken. Und da waren schon solche Schlangen an der Tankstelle! Mir wurde klar, dass es Ernst ist.

Ich fuhr los und holte die Kinder zu mir, weil bei mir im Haus ein Keller ist, wir mussten uns irgendwo verstecken. Wegfahren? Darüber haben wir irgendwie gar nicht nachgedacht. Wir haben nicht geglaubt, dass sie so nah herankommen würden. Und dann das. Dann hörten wir, dass Militärfahrzeuge heranrollten, es waren schon Explosionen zu hören, sie fingen an, aus ihren Panzern zu schießen. Es gab Beschuss, Maschinengewehrsalven. Erst da begriffen wir und begaben uns in den Keller. Da saßen wir dann. Wir gingen nur hoch, um Essen zu kochen, wenn es Strom und Gas gab. Dann fiel der Strom aus und das Gas, wir kochten draußen auf dem Feuer. Dann gingen wir wieder in den Keller runter und blieben dort.

Sie haben zwei Kinder?

Ja, zwei Töchter. Die eine ist jetzt 19 und die andere 12. Sie blieben unten und ich ging nach oben, schaute nach und kontrollierte, ob sie sich näherten. Die Russen schossen. Sie fuhren einfach vorbei und beschossen die Häuser. Kommt ein gepanzerter Transporter vorbei, oben drauf sitzen einige Männer und schießen einfach in verschiedene Richtungen. Wir sind nicht nach draußen gegangen, sie hatten uns verboten, auf der Straße herumzulaufen. Sie kamen und sagten: „Wenn ihr wollt, bleibt in euren Häusern, aber geht nicht nach draußen!“ Damit alles ruhig ist, dann würden sie niemanden anrühren. So kamen sie und so redeten sie. Dann erlaubten sie uns, bis fünf Uhr abends irgendwo ein bisschen spazieren zu gehen.

Aber danach war's ganz aus. Sie kamen und scheuten sich nicht, vor aller Augen Häuser auszurauben und Menschen zu schlagen. Alles, was sie wollten, machten sie auch. Sie kamen, und wenn niemand zuhause war und öffnete, schlugen sie Türen und Fenster ein, drangen ins Haus ein und raubten es aus.

Es kam vor, dass bei uns in Bogdanivka Menschen verschwanden. Ich weiß von dreien, die verschwunden sind. Einen Mann haben sie getötet. Man fand ihn in Dymerka, in einem Keller. Oleksij Seljuk, wir waren befreundet. Sein Schlüsselbein und sein Kopf waren durchschossen. Er war ungefähr 43, hatte zwei Kinder, eine Mutter und eine Schwester. Das ist so traurig. Das war ein guter Kerl, ein sehr guter Kerl und ein guter Schweißer. Und viele Leute sind einfach verschwunden. Ich will mich an nichts erinnern, wenn man das sagen darf. An nichts will ich mich erinnern! Das ist wie ein Albtraum. Wie das vor sich ging... . Ich möchte mich an überhaupt nichts erinnern.

Welche Pläne haben Sie?

Wir warten auf den Sieg. Was wir planen... Unser Leben, unseren Staat wieder aufbauen. Arbeiten, den Kindern auf die Beine helfen. Das Haus wieder aufbauen und unseren Besitz wiederherstellen.

Hat sich Ihre Haltung den Russen gegenüber geändert?

Und wie! Was soll man ihnen sagen? Dass sie Teufel sind? Das wissen wir alle auch so. Was soll ich sagen... . Ich werde vor der Kamera keine Schimpfwörter gebrauchen. Sie wissen selbst, was die angerichtet haben. Wie viel Kummer sie den Menschen bringen. Ich glaube, das kommt alles aus ihrer Staatsduma. Alle, die neben dem Futtertrog voller Geld sitzen, neben Putin. Woher kommt denn der Befehl? Von dort natürlich! Sie sind zu Zombis geworden! Einfach von der Propaganda zu Zombis gemacht, sie glauben dem Fernseher. Natürlich, diejenigen, die wissen, was passiert, unterstützen die Ukraine. Einige kämpfen sogar für die Ukraine. Das ist so. Es gibt unter ihnen welche, die für unseren Staat kämpfen.

 

Orig.: 18. April 2023/16. Juni 2024

 

Quelle: https://khpg.org/ru/1608813756

 

Übersetzung aus dem Russischen: Nicole Hoefs-Brinker

 

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