Politisches Asyl in der Ukraine zu bekommen, ist für einen Menschen mit russischer Staatsbürgerschaft nicht leicht. Auch wenn man für ukrainische Interessen eintritt und einem in Russland dafür eine Anklage wegen Terrorismus und Gefängnis droht.
„Ich bin ethnische Ukrainerin aus der östlichen Sloboda-Ukraine“, das ist das Erste, was Nina über sich sagt, als wir uns kennenlernen. Sie sagt nicht: „aus Russland“, obwohl sie die russische Staatsangehörigkeit besitzt. Zumindest vorerst noch, denn Nina hat einen Antrag auf Asyl in der Ukraine gestellt.
Nina spricht und schreibt Ukrainisch. Sie hat sich mal für linke Ideologien interessiert, aber das ist Vergangenheit: Der Krieg und das Studium der Geschichte haben ihre Weltsicht um 180 Grad gedreht. Jetzt ist sie Mitbegründerin der Bewegung „Östliche Sloboda-Ukraine“ und „Vereinigung der Ukrainer historischer Gebiete“ sowie einer der Autoren des Buches „Unfreiwilliger Anschluss: Geschichte des Befreiungskampfes der von Russland unterworfenen Völker“. Auf der Website des Informationsbulletins des Antiimperialistischen Blocks der Völker betreut sie die Rubrik über Ukrainer in der Russischen Föderation. Sie untersucht die strafrechtliche Verfolgung ethnischer Ukrainer in der Russischen Föderation.
Über das Ukrainische zu Zeiten der Ukrainischen Volksrepublik in ihrem Heimatgebiet Voronezh könnte Nina stundenlang erzählen. Aber wir müssen über ihre Schwierigkeiten mit den ukrainischen Migrationsbehörden sprechen. Nachdem sie in die Ukrainer gekommen ist und eine sorgfältige Prüfung durch den Sicherheitsdienst der Ukraine erfolgreich durchlaufen hat, versucht sie nun, den Migrationsbehörden gerichtlich zu beweisen, dass sie keinerlei Gefahr für den ukrainischen Staat darstellt.
Vor kurzem aber hat ein Mitarbeiter der Migrationsbehörde HMS versucht, sie zu einem seltsamen Treffen in der Stadt zu bestellen. „Ich habe Grund anzunehmen, dass das Ziel dieses Treffens meine Entführung und Abschiebung in die Russische Föderation durch das Gebiet von Belarus war. Wahrscheinlich im Rahmen eines Austausches unter falschem Namen“, sagt Nina.
Die Flucht
„Als die Voll-Invasion begann, war ich Lokalabgeordnete im Gebiet Voronezh. Ich habe den Appell des ukrainischen Präsidenten an die Bürger der Russischen Föderation gesehen. Gewöhnliche Ukrainer haben russische Bürger gebeten, sich öffentlich zu äußern. Und ich habe gespürt, dass ich nicht einfach schweigen kann, ich fing an, in den Sozialen Netzwerken zu schreiben. Als in einem Abgeordneten-Chat eine Diskussion um die Situation begann, habe ich versucht, mit Fragen die Aufmerksamkeit der Kollegen auf die Verlogenheit der russischen Propaganda und die inneren Widersprüche ihrer Aussagen zu lenken. In einem bestimmten Moment ging ich über ins Ukrainische, das war buchstäblich ein Satz und der rief eine noch negativere Reaktion hervor. Auf der Stelle schrieb man mir: 'Na, jetzt hast du dich ja schön verraten!' Und vier Tage später bei einer Sitzung wurde die Frage zu meinem Verhalten auf die Tagesordnung gesetzt. Ich bin von meiner Position nicht abgerückt, habe gesagt, was ich denke, habe die Taten der russischen Armee in der Ukraine als Kriegsverbrechen bezeichnet. Auf derselben Sitzung dann haben die Abgeordneten dafür gestimmt, Informationen über mich an die Staatsanwaltschaft zu übergeben.“
Anfangs dachte Nina, alles würde mit einem Verwaltungsverfahren enden. Aber ihr Anwalt warnte sie: Es drohe eine Strafanzeige. Also packte sie schnell ihre Sachen zusammen und verließ die Russische Föderation. Allerdings erwies es sich als so gut wie unmöglich, in der EU Asyl zu bekommen.
„Russland hat zuerst ein Verfahren gegen mich wegen „Falschmeldungen“ eingeleitet, und dann noch zwei wegen Terrorismus. Als Juristin habe ich mich mit diesem Problem befasst. Derzeit kann es passieren, dass man Menschen in den Ländern der EU Asyl verweigert, weil Russland sie wegen Terrorismus verfolgt. Es kann sein, dass derjenige, der den Fall bearbeitet, die Umstände nur oberflächlich untersucht, die zur Aufnahme in die Liste der Terroristen geführt haben und Asyl auf dieser Grundlage ablehnt. Im Kern muss ich irgendwie beweisen, dass ich kein Terrorist bin. Aber wem? Du kommunizierst mit der Migrationsbehörde, aber die Entscheidung, ob du ein Terrorist bist oder nicht, treffen die Geheimdienste. Während sie dieses Urteil fällen, kann es sein, dass sie nicht einmal Kontakt zu dir aufnehmen. Ein Terrorismusvorwurf ist in der EU sogar noch schlimmer als eine Anklage wegen Pädophilie.“
Nina musste sich an ein Gericht in Lettland wenden, um zu beweisen, dass sie keine Bedrohung für die Europäische Union darstellt. Das Asyl-Verfahren zog sich in die Länge, die psychologische Unsicherheit belastete sie. Ein Bekannter erzählte ihr von der Möglichkeit, in die Ukraine zu gehen.
„Man sagte mir, dass ich für die Ukraine von Nutzen sein könnte und versprach mir Hilfe bei der Beantragung eines Visums. Ich beschloss, das Asylverfahren in der EU abzubrechen, weil ich meine Zukunft im Land meiner ethnischen Herkunft sah und keine Zeit mit einem Verfahren in einem Land verschwenden wollte, in dem ich nicht leben möchte.“
Nina flog von Rumänien aus nach Moldawien, von dort wollte sie in die Ukraine. Aber nach Moldawien ließ man sie nicht einreisen. Erneut wegen der Terrorismus-Anklage in der RF.
„Ich denke, sie haben gesehen, dass ich auf der Fahndungsliste stehe. Sie wiesen mich ohne Erklärung ab und schickten mich zurück in die EU, nach Rumänien. Aber weil ich das Asylverfahren abgebrochen hatte, hatte ich kein Recht mehr, mich in Rumänien aufzuhalten. Ich war am Flughafen, hatte kein Visum, nichts, und stehe auf den internationalen Fahndungslisten wegen Terrorismus. Rumänien wollte mich nach Lettland abschieben. Und Lettland hätte mich wegen des abgebrochenen Asylverfahrens in die Türkei schicken können (von dort aus bin ich 2022 in die EU eingereist). Und wie die Türkei mit solchen wie mir umgeht, haben wir nicht nur einmal gesehen: Sie setzen die Menschen einfach in ein Flugzeug und schicken sie nach Russland. Deshalb bin ich aus Rumänien einfach in die Ukraine geflüchtet.“
In der Ukraine
Nina wandte sich sofort mit der Bitte um Asyl an ukrainische Grenzbeamte.
„Sie konnten meinen Antrag nicht registrieren, weil ihnen das derzeit verboten ist, aber sie sahen sich Informationen zu mir im Internet an und verstanden, dass sie es mir nicht abschlagen können. Ich bin ethnische Ukrainerin und ich werde wegen meiner Haltung zur Ukraine verfolgt. Wir haben uns sehr gut unterhalten, über die Ukrainische Volksrepublik und darüber, dass die Gebiete Voronezh und Kursk dazu gehörten. Dann übergaben sie mich an Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes (SBU), die eine Überprüfung durchführten und mich wieder entließen, damit ich über die Migrationsbehörde Asyl beantragen kann. Niemand hat mich festgehalten. Wenn ich irgendeine Form von Gefahr wäre, hätte mich der SBU sicher nicht mehr gehen lassen!“
Das war im Mai 2024. Seitdem versucht Nina, in der Ukraine Asyl zu erhalten. Sie beschloss, sich mit Unterstützung der UNO an die Migrationsbehörde zu wenden.
„Ich ging zu der Organisation '10. April', das sind Partner des UNHCR. Sie sahen meinen Fall durch und waren einverstanden, zu helfen. Am 12. August 2024 reichte ich einen Antrag bei der Migrationsbehörde des Gebietes Odesa ein. Mein Antrag wurde zwar bei der Behörde registriert, aber aus irgendwelchen Gründen nicht beim Amt für Schutzsuchende. Zuerst schickten sie mir die Antwort, dass sie meine Dokumente nach Kyjiv geschickt hätten, obwohl sie nach dem Gesetz kein Recht haben, dies zu tun, das liegt ja nicht in der Zuständigkeit der Zentralen Migrationsbehörde. Dafür sind die Behörden der Gebiete zuständig. Aus Kyjiv kam die Antwort, dass ich eine Gefahr für die Sicherheit der Ukraine sein könnte. Das heißt, der SBU hatte mich überprüft und entschieden, dass ich keine Gefahr bin, aber die Mitarbeiter des Migrationsdienstes sind in dieser Frage kompetenter? Ich habe ihnen alle meine Dokumente, die ich habe, zur Verfügung gestellt. Und da haben sie die Entscheidung der lettischen Migrationsbehörde gesehen, dass ich eine Gefahr bin. Und das, obwohl ein Gericht in Lettland diese Entscheidung schon längst für rechtswidrig erklärt hat.“
Nina musste sich erneut an das Gericht wenden, diesmal reichte sie Klage gegen ukrainische Beamte der Migrationsbehörden ein. Vertreter des Sicherheitsdienstes der Ukraine wurden vor Gericht geladen. Sie bestätigten, dass sie an Nina weder Fragen hätten noch Beanstandungen. Das Bezirksgericht Odesa gab Ninas Forderungen statt. Die Migrationsbehörde jedoch legte Widerspruch ein.
„Die Polizei wird sich schon um sie kümmern!“
Das Datum des Appellationsverfahrens wurde noch nicht festgesetzt. Beim Warten auf das Verfahren bekam Nina einen seltsamen Telefonanruf. Ein Mann stellte sich auf Russisch als Jevgen vor, Mitarbeiter der Migrationsbehörde. Und er schlug vor, sich an einem beliebigen Ort in Odesa zu treffen. Nina bat den Beamten, Ukrainisch zu sprechen und er wechselte kurz zur Amtssprache. Aber bereits nach einer Minute, als Nina erstaunt nach dem Grund und dem Ziel des Treffens fragte, wechselte Jevgen wieder ins Russische und begann, mit den Strafvollzugsbehörden zu drohen . Dabei bezeichnete er die Nationalpolizei der Ukraine aus welchen Gründen auch immer als „Miliz“. „Sollen wir Sie etwa mit Begleitung der Miliz zu uns auf die Behörde bringen? Das kann ich arrangieren! Dann werden wir uns anders mit Ihnen unterhalten!“
Dieses seltsame Gespräch fand am 31. Juli statt. Bei der Organisation „10. April“ rief Evgen (der sich tatsächlich als Beamter der Migrationsbehörde erwies) ebenfalls an, aber auch dort erklärte er nicht, mit welchem Ziel und vor allem warum er sich mit Nina außerhalb der Einrichtung treffen wollte. Daraufhin entschied Nina, die Entscheidung des Gerichtes an einem weniger gefährlichen Ort abzuwarten und sicherheitshalber Odesa zu verlassen.
„Ich glaube, dass sie mich einfach entführen und möglicherweise unter fremdem Namen in irgendeinen Bus für einen Austausch stecken wollten. Wenn man bedenkt, womit ich mich hier beschäftige, mit einer höchst unangenehmen Sache für Russland ... Ich verbreite historische Wahrheit, bin eine der Gründerinnen der Organisation 'Vereinigung der Ukrainer historischer Gebiete', die sich nicht nur für ethnische Ukrainer mit russischer Staatsangehörigkeit einsetzt, sondern auch hilft, den Aufenthaltsort entführter ukrainischer Kinder und ukrainischer Kriegsgefangener zu ermitteln und Informationen über Kriegsverbrechen zu sammeln.“
Nina klärt zusammen mit anderen Mitgliedern der Organisation über ethnisch motivierte Verfolgung von Bürgern mit ukrainischen Wurzeln durch Russland auf. Sie erforscht die gewaltsame Russifizierung der östlichen Sloboda-Ukraine, die sich zu Sowjetzeiten innerhalb der Grenzen der Russischen Föderation befand.
Im Gebiet Voronezh gab es in den 90er und 2000er Jahren in einigen Schulen Ukrainisch-Unterricht, der allerdings nur dank der Anstrengung von Freiwilligen Helfern existierte. Bis 2011 gab es in Russland ein Festival der ukrainischen Kultur. Alle diese Bewegungen hat Russland bis 2014 zerschlagen. Und als diese Institutionen verschwunden waren, begann die Invasion in der Ukraine.
Die Situation mit den Migrationsbehörden ist für Nina mit äußerstem Stress behaftet und hat sich negativ auf ihre Gesundheit ausgewirkt.
„Als ich erfahren habe, dass Andere festgenommen werden, verstand ich, dass es für mich aus Russland eine „Bestellung“ geben könnte. Ich habe jetzt schon Panikattacken und Schlafstörungen. Ich habe das Gefühl, dass man mich völlig grundlos festnehmen kann, wenn ich zum Migrationsamt gehe. Das ist moralisch tatsächlich sehr schwierig. Du denkst doch, dass dies das Land deiner ethnischen Zugehörigkeit ist, ein demokratischer Staat, und dann ruft dich ein Mann an, der nicht einmal Ukrainisch spricht... Ich bin Ukrainerin. Ich will in der Ukraine leben.“
Quelle: https://t4pua.org/ru/2880
Aus dem Russischen: Nicole Hoefs-Brinker