Natalka Maryntschak ist Dichterin und Moderatorin im Radiosender „Nakypilo“. Sie wohnt in der Frontstadt Charkiv. Wir sprechen mit ihr über die Rolle der Poesie im Krieg, über verschiedene Methoden, eine furchtbare Erfahrung zu dokumentieren und damit zu leben und darüber, wie wichtig psychische Gesundheit ist.
Von Iryna Skatschko
Natalka, du bist Journalistin, Dichterin, Freiwillige, Tochter des Geistlichen Viktor Maryntschak, dem Beichtvater vieler Charkiver Euromajdan-Aktivisten. Wie würdest du diese Personenbeschreibungen einordnen, was bist du in erster Linie?
Zu irgendeinem Zeitpunkt habe ich begriffen, dass ich vor allem eine Dichterin bin. Alles andere folgt erst daraus. Dichterin und Schriftstellerin, dann Übersetzerin, Kulturmanagerin, Freiwillige. Tochter – das ist das, was von Anfang an war, Schicksal. Es hat recht lange gedauert, bis ich mir darüber klar geworden war, dass ich mich in erster Linie als Dichterin verstehe. Denn ich habe eine journalistische Ausbildung absolviert und lange in Nachrichtensendungen gearbeitet. Später habe ich jedoch damit aufgehört, weil ich merkte, dass das zu Lasten meiner poetischen Arbeit geht.
Dann habe ich 15 Jahre in einem Programm über Tiere und über einen humanen Umgang mit Tieren gearbeitet. Das spielt eine wichtige Rolle in meinem Leben - Tiere, und wie man sie richtig und kulturell hält. Denn die Ukraine ist in dieser Hinsicht nicht gut aufgestellt. Irgendwann erkannte ich dann, dass für mich die Poesie an erster Stelle steht. Alles andere ergab sich danach von selbst. Bücher erschienen, Projekte entwickelten sich. Die Poesie ist das, was mir, wie auch anderen Menschen, Halt gibt.
Was bewegt dich, in einer Stadt zu bleiben, die an der Front liegt?
Das Land. Das Land meiner Vorfahren. Mein Vater, der Geistliche. Nicht mit Gewalt, aber eben doch. Am Anfang der Voll-Invasion, als die Stadt wie leergefegt war und nur Tollkühne dort unterwegs waren, fuhr ich meinen Vater zur Arbeit, ich habe ein Auto. Wir haben stillschweigend mit der ganzen Familie diese Entscheidung getroffen, in der Stadt zu bleiben. Mich hielten auch meine großen Hunde zurück, die mich aber leider zurzeit der Groß-Invasion verlassen haben. Mich hält das hier, was ich in den Gedichten sage – wenn wir von hier weggehen, wer wird dann diese Stadt erhalten?
Was macht eine Dichterin im Krieg und wie wirkt sich der Krieg auf eine Dichterin aus?
Das ist eine sehr seltsame Sache, was eine Dichterin im Krieg macht. Sie ist ja noch nicht im Krieg - aber es ist Krieg. Ich habe lange überlegt, ob ich mich den Streitkräften anschließen soll. Früher oder später werde ich das tun müssen. Ich bin gewissermaßen dazu bereit. Eine Dichterin schreibt über den Krieg. Konkret über das, was sie erlebt, mit eigenen Augen gesehen hat. Über meinen letzten Band „Відчаєспинне” (Die Verzweifelten) haben viele ukrainische Kritiker gesagt, dies sei ein Tagebuch des Krieges eigener Art. Ich bin teils damit einverstanden, teils auch nicht, aber da spielen die Daten eine Rolle. Wenn man den historischen Kontext berücksichtigt, in dem diese Daten stehen, verstehen wir, worum es eigentlich geht.
Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Poesie die einzige Kunst ist, wo man alles so schnell reflektieren, alle Geschehnisse einordnen und anderen dabei helfen kann, sich in dem Chaos, dem Horror und dem Schmerz zurechtzufinden, in dem wir uns befinden. Was macht der Krieg mit einer Dichterin? Der Krieg raubt uns geliebte Menschen, Freunde. Er nimmt sie mit in den Krieg, buchstäblich, er tötet sie. Der Krieg schränkt uns in vielen scheinbar unbedeutenden Dingen ein, die wir nicht bemerken, aber die doch von Bedeutung sind. Sie sagen etwas aus über unsere Freiheit. Z. B. wenn ich nachts, nachdem ich einen Text geschrieben habe, zum nächsten McDrive fahre und mir einen Americano hole, sagt das etwas aus über meine Freiheit. Und das kann ich mir jetzt nicht erlauben.
Der Krieg bringt mit sich, dass sich unsere Beziehungen ändern. Zu Anfang hat der Krieg alles Überflüssige gekappt. Dann hat er all dem mehr Gewicht verliehen, was wir erworben haben. Der Krieg hat uns das Verständnis dafür vermittelt, wie wichtig das Leben als solches ist, wie wir hier und jetzt leben können, ohne etwas aufzuschieben.
Jedoch beraubt uns der Krieg der Fähigkeit, uns zu freuen. Man gibt wieder ein Buch heraus, aber man freut sich nicht. Als Manager verzeichnet man, dass man eine Aufgabe erfüllt hat und macht sich an das nächste Projekt, weil das für den ukrainischen Kulturprozess wichtig sind. Bücher herauszubringen ist jetzt wichtig, zu schreiben ist wichtig. Und es ist wichtig, nach Deutschland zu fahren und das Projekt vorzustellen. Wichtig ist es, im internationalen Rahmen darüber zu sprechen, denn dadurch vermittelt man anderen Menschen das Verständnis dafür, was mit uns geschieht. Manchmal erreicht man sie zum Beispiel nur durch poetische Texte.
Das heißt, du stimmst der Aussage nicht zu, dass „die Musen schweigen, wenn die Waffen sprechen“?
Mich hat dieser Satz immer bedrückt, weil ich nicht verstanden habe, wie es sein kann, dass die Poesie, die uns in schweren Momenten Halt gibt – in einer unglücklichen Liebe, bei Problemen in der Familie und bei schweren Verlusten – dass die Poesie uns gerade in der schwersten Zeit, im Krieg, im Stich lässt? Nein! Das sagen auch viele meiner Freunde, sie vermitteln diesen Krieg durch die Kunst, sie verarbeiten ihn, sie eröffnen eine Sicht aus einem anderen Blickwinkel, was sehr wichtig ist.
Das ist auch eine Informationsquelle, die einfach in der Kunst entsteht und in ihr bleibt. Vielleicht gibt dies künftigen Generationen das Verständnis, was und wer wir waren. Denn es ist nicht einfach, sich vorzustellen, unter welchen Bedingungen wir leben und wie wir dieses Leben in unserem Umfeld einrichten müssen. Ich glaube überhaupt, dass die Charkiver eine ganz eigene anthropologische Gruppe sind. Denn mit diesem Trotz, mit dem wir dies weiterhin tun und an dem Ort leben, an dem gestern eine Rakete eingeschlagen ist, das können nur besonders eigenwillige Menschen.
Dann entspricht deine Arbeit der Tätigkeit von Menschenrechtsaktivisten, die derzeit Stimmen des Krieges sammeln und weltweit verbreiten und die dann Juristen dem Internationalen Strafgerichtshof übermitteln.
Manch einer berichtet im Ausland über das, was hier geschieht, in der erzwungenen Emigration. Das ist eine Stimme des Krieges. Ein anderer sammelt statistische Daten, Zeugnisse über Kriegsverbrechen, und ermittelt dazu. Das ist eine andere Stimme des Krieges. Jemand verarbeitet das in Gedichten, jemand anderer in Holzschnitzereien. Das ist ein großes Team – einen Manager dafür gibt es nicht.
Bitte erzähle uns etwas über das Projekt „Dritte Kinder“
Das Projekt „Dir dritten Kinder“ ist in Berlin, Köln und Charkiv präsentiert worden. Es ist zweisprachig und sehr umfangreich. Wir haben zwei Jahre daran gearbeitet. Im Oktober 2022 haben wir mit dem Musiker Serhij Davydov eine Ausstellung organisiert. Wir haben Texte genommen, seine Musik, und Kyrylo Lukasch als Regisseur gewonnen. … Und im Jermilov-Zentrum in Charkiv, als sich nur 300.000 Menschen in Charkiv aufhielten und immer wieder der Strom ausfiel, hatten wir eine ausverkaufte Vorstellung.
„Die dritten Kinder“ – das ist so eine philosophische Konzeption, dass wir alle dritte Kinder sind. Sie ist die Grundlage eines der Texte. Die ersten Kinder haben den Krieg überlebt, Kinder geboren und diesen Kindern alles gegeben, damit sie ein gutes Leben hätten, allerdings vererbten sie ihnen auch den Krieg. Die zweiten Kinder wollten keinen Krieg, sie wollten ihre angeborenen Traumata heilen und damit klarkommen. Die dritten Kinder wurden geboren „bei ruhigem Himmel und bei einem, der brennt und tötet“.
„Die Kinder des Krieges haben Kinder geboren
damit diese Kinder des Krieges zur Welt bringen
die ersten Kinder wollten nicht, dass diese dritten Kinder düstere Träume haben würden
die ersten wollten Ruhe
die zweiten Kinder dachten nie daran, härter als Beton zu sein
sie bauten Städte
lebten ihr Leben
verbargen ihre ererbten traumatischen Wunden
damit die dritten Kinder nicht im Schlaf erschreckten
die dritten Kinder kamen zur Welt bei ruhigem Himmel und bei einem Himmel, der brennt und tötet“
Wir hatten ein großes Paket, eine Schallplatte und ein Buch. Der Erlös aus dem Projekt kam zur Hälfte künftigen Kunstprojekten zugute und zur Hälfte dem Kauf von Waffen. Es waren sehr viele Personen beteiligt. Das Nürnberger Haus in Charkiv, Svitlana Tschistjakova, hat uns unterstützt. Für die Förderung in Deutschland brauchten wir erstklassige Übersetzungen.
Wir wandten uns an die inzwischen verstorbene Oleksandra Kovaljova, die mit den Texten eine ganz unglaubliche Arbeit machte. Kostjantin Sorkin gestaltete die Holztafeln, zwei für den Einband und vier für das Buch. Nadija Velitschko war unsere Designerin, die hochsensibel war und alles wahrnahm. Auf der Schallplatte haben wir die Stimme von Artem Suchin, einem Soldaten, der die Gedichte aufnahm, als er im Schützengraben lag und Charkiv verteidigte.
Wie wurde das Projekt in Deutschland aufgenommen?
Mir war klar, dass man sich manchmal recht primitiv und einfach ausdrücken muss. Nicht ohne Grund habe ich einen Text mit Namen ausgewählt, und da gibt es Namen, die sie auch verstehen. Sie verstehen, dass das unsere Verluste sind, Menschen, die jetzt in Gefahr sind, die ihre Häuser verloren haben. Konkrete Personen.
„… jede Nacht wiederhole ich Namen
alle, die ich kenne
Gott schütze sie, gib ihnen alle Kraft,
schütze Maksym, Serhij, Andrij, Artem,
Oleh, Serhij, Serhij, Savva, Oleksandr, Marjana, Anna, Marija,
den neugeborenen Dmytro,
die kranke Olena
den kranken Oleksij
schütze sie alle
alle, die Deine Hand erreicht
alle für die Du die letzte Hoffnung bist
und schütze auch die Hoffnung in der Hoffnung
schütze sie alle, hörst du“
Du arbeitest bei „Radio Nakypilo“. Das Radio ist eine der wenigen Möglichkeiten, die freien sowie die besetzten Territorien zu erreichen. An manchen Orten gibt es so gut wie kein Internet und keine Verbindung.
Wir denken die ganze Zeit daran. Unsere Sendung ist unterbrochen worden. Hier haben wir jetzt DDos-Attacken, und unser UKW funktioniert nur mit Unterbrechungen. Das zeigt, wie wichtig das ist, worüber wir sprechen. Alle in diesem Team von Jevhen Strjelzov sind außergewöhnliche Menschen, sie gehen allen Widerständen zum Trotz auf Sendung. Wegen des Beschusses war der Strom weg, und wir haben diese Sendungen zu Ende gebracht, weil wir wussten: Wir sind aus dem UKW rausgeflogen, aber wir haben eine Aufzeichnung, oder wir bringen alles mit Behelfsanlagen zu Ende und stellen es dann online für die, die uns im Internet sehen können. Wir sprechen über die Menschen, die zurzeit in besetztem Gebiet leben, wir informieren darüber, wie Kinder an Bildungsprogrammen teilnehmen können oder wie man rechtliche Unterstützung bekommen kann.
Warum heißt Dein Programm „Morgens ohne Eile“?
Dahinter steht die Philosophie der Gelassenheit, aber in Wirklichkeit geht es darum, wie man sich selbst schützen kann, psychologisch, mental, physisch. Nicht einfach zum Sieg voranzuschreiten, sondern sich so zu bewahren, dass man auch nach dem Sieg noch funktioniert. Denn ich denke, gerade nach dem Sieg wird einiges auf uns zukommen. Manchmal spreche ich einfach mit Künstlern, und sie teilen mir ihre Erfahrungen mit und erzählen, wie sie den Krieg erlebt haben. Und das vermittelt den Hörern ein gewisses Verständnis davon, dass sie in diesen Kriegserlebnissen nicht allein sind.
Manchmal sind das sehr konkrete Dinge. Gespräche mit Psychologen, Psychotherapeuten, Psychiatern. Ich mache kein Geheimnis daraus, dass bei mir eine klinische Depression diagnostiziert wurde, wie ich sie erlebe und dass ich ärztliche Unterstützung brauche. Ich möchte die Psychiater von ihrem Stigma befreien. Denn bis heute wird es in unserer Gesellschaft als peinlich empfunden, so einen Arzt aufzusuchen. Ich spreche häufig mit verschiedenen Reha-Spezialisten, mit Zivilisten und Militärs, mit Menschen aus verschiedenen Berufen.
Ich lasse diese Menschen in der ihnen eigenen Art in Ruhe zu Wort kommen, um sie gegebenenfalls zu beruhigen, ihnen Hoffnung und Halt zu geben und ganz primitive Dinge zu erklären: Wie können wir unter Beschuss atmen? Was sollen wir tun, wenn wir Angst haben? Diese scheinbar kleinen, unbedeutenden Dinge werden zu einem großen Mosaik, das vielleicht jemandem Nutzen bringt. Ich hoffe sehr darauf, denn mein ganzes Tun – als Dichterin, als Freiwillige, als Radiomoderatorin – ist darauf ausgerichtet, andere zu unterstützen, Denn ich weiß, wie das ist, wenn man keine Unterstützung bekommt, ich weiß, wie es ist und wie furchtbar es ist, wenn man sich im Abgrund einer Depression befindet, und ich will nicht, dass das Freunden und Angehörigen oder auch mit mir unbekannten Menschen passiert. Wenn ich eine Stimme habe und mir erlauben kann, darüber zu sprechen, dann äußere ich mich und unterstütze andere, womit ich kann.
12. Mai 2025/21. Mai 2025
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Vera Ammer
Quelle: https://khpg.org/1608814613