„In der Fabrik in Vovtschansk folterten die Russen sogar einen Priester mit Strom.“
Denys Volocha
Foto: © Aggregat-Werk Vovtschansk/YouTube
„Die Russen richteten in dem Unternehmen eine ‚echte Folterkammer\' ein, weil es zu unbequem war, alle verdächtigen Personen nach Russland zu bringen.“, sagt Oleh Toporkov, der zum Verhör nach Belgorod gebracht wurde.
Das Aggregat-Werk der Stadt Vovtschansk im Norden des Gebiets Charkiv erregte Aufmerksamkeit, nachdem ukrainische Beamte gemeldet hatten, dass die Russen dort ein Konzentrationslager eingerichtet hätten. Wir sprachen mit dem Lokalpolitiker und stellvertretenden Direktor des Werks Oleh Toporkov, der mehrere Monate unter der Okkupation leben und sich vor den Russen verstecken musste.
Zum Video -> https://www.youtube.com/watch?v=QZAue0GD5hU
Was ging in dem Aggregat-Werk in Vovtschansk vor?
Nachdem sie eine Basis eingerichtet hatten, wurden sie [die Russen] aktiv. Sie suchten gründlich nach pro-ukrainischen, patriotisch gesinnten Menschen, die die Ukraine zu 100 Prozent unterstützten. Da waren viele Menschen, und die Einrichtungen, die sie zuerst besetzt hatten, wie die Polizeistation, reichten nicht aus. Und sie [die Menschen] zur Grenze zu bringen, war riskant, und soviel ich weiß, auch ziemlich kostspielig. Deshalb fiel ihnen nichts Besseres ein: Da ist ein Unternehmen, dort gibt’s abgetrennte Räume, die sie als Zellen nutzten. Einen Teil der Räume benutzten sie für Verhöre.
Neben der Fabrik gibt es eine kleine Brücke, dort war ein Kontrollposten, an dem die Leute vorbeigehen mussten. Und wenn jemand ihnen nicht gefiel, unabhängig von Alter oder Geschlecht, schleppten sie ihn zum Verhör. Manchmal gab es auch gar keinen Grund. Einfach: „Du gefällst mir nicht.“ Und er wurde herausgegriffen. Einige saßen einfach nur, andere wurden täglich systematisch verhört und gefoltert, um Informationen zu bekommen. Sie fragten nach dem Aufenthaltsort und nach familiären Kontakten von ATO-Angehörigen [Angehörigen der Antiterror-Einheiten in der Ostukraine], Soldaten oder Regierungsvertretern.
Das war ein Konzentrationslager im großen Stil. Mit allen Konsequenzen. Und die Menschen erzählten mir, dass einige dort für einen Tag waren, andere für mehrere Tage und wieder andere von Anfang an, seit den ersten Tagen. Man ließ sie nicht gehen. Ihr Schicksal lässt sich bruchstückhaft aus den Worten jener herauslesen, die freikamen oder was sie durch andere Personen und Verwandte übermitteln.
Wer waren diese Leute, die man dort festhielt und nicht gehen ließ?
Verschiedene Menschen. In erster Linie ATO-Angehörige, nationalistisch gesinnte Menschen, dann ehemalige Ordnungshüter, Vertreter der Behörden und der örtlichen Selbstverwaltung, Lehrer. Aber um diese Liste zu verstehen: Sogar den Priester holten sie und folterten ihn drei Tage lang mit Strom. Mädchen, Jungen, Frauen, Männer ... . Alle. Alle Bevölkerungsschichten, eine Sortierung nach irgendwelchen Kategorien gab es nicht. Dort ist alles Ukrainische Tabu. Äußerungen, Handlungen, Teilnahme an irgendwas. Jemand konnte auf der Straße angehalten, ein Foto oder irgendeine Nachricht in seinem Handy gefunden werden, das ihm irgendwer geschickt hatte, und das war\'s.
Zu Todesfällen gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Aber es gibt Menschen, zu denen schon lange jeglicher Kontakt fehlt. Sie wurden mitgenommen, und über ihr Schicksal ist nichts bekannt. Man gibt da ja keine Antworten, es gibt niemanden, bei dem man sich beschweren kann. Es herrscht dort kein Gesetz. Das völlige Chaos. Verstehen Sie, es gibt dort nicht einmal eine militärische Ethik. Weil das Unmenschen sind. Einfach Unmenschen. Wir hatten gehofft, dass sie mit manchen Personengruppen recht human umgehen und ein gewisses Mitleid zeigen würden, etwa wenn Frauen ihre Ehemänner oder Mütter ihre Kinder suchten. Aber dort gibt es kein Mitgefühl. Wenn Ehefrauen dorthin kommen, um nach dem Schicksal ihrer Männer zu fragen, kann es sein, dass man sie auch dort einbuchtet.
Es gab Informationen, dass das Aggregat-Werk nach Russland transportiert wurde. Stimmt das?
Nun, wissen Sie, für mich persönlich als Person, die zur Unternehmensleitung gehörte, hat der Zustand des Unternehmens und seine Unversehrtheit eine große Bedeutung. Soweit mir bekannt ist, gab es dazu Pläne. Wir wussten, dass die materielle und technische Basis jederzeit abgeschleppt werden konnte.
Oleh Toporov © Denys Volocha/KHPG
Aber am 7. April fiel der Strom aus, für ziemlich lange. Und ohne Strom ist es einigermaßen schwierig, Ausrüstung und Werkbänke zu demontieren. Man muss die Kranbalken anschalten, die in den Werkhallen herumfahren. Denn einfach reinfahren und die Werkbänke herausnehmen funktioniert nicht. Man kann das Gebäude zerstören, aber dann nimmt auch die Ausrüstung Schaden. Deswegen blieb sie stehen. Möglich, dass irgendwelche zweitrangigen Sachen mitgenommen wurden, aber eine gezielte Demontage der Ausrüstung gab es nicht. Die Fabrik ist also gegenwärtig zu 99 Prozent intakt. Bis jetzt wurde sie einige Male beschossen (lächelt; Red.). Nun ja, die Fenster sind herausgeflogen. Aber es gibt keine bedeutenden Schäden. Sie ist, Gott sei Dank, heil.
Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker
Ein Video-Interview mit Oleh Toporkov finden Sie hier.
Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.
13. Februar 2023