Oleksij Symonov führte „die Menschen durch eine Asphaltwüste“. Er konnte die Menschen nicht im Stich lassen, mit denen er fast einen Monat zusammen im Schutzraum verbracht hatte.
Oleksij Symonov, 44, ist ein charismatischer Moderator von Veranstaltungen und sportlichen Wettkämpfen. Das Wichtigste für ihn ist nach seinen Worten die Kommunikation, diese habe ihm mehrfach geholfen, nicht nur in Mariupol während der Kriegszeit zu überleben, sondern auch alle Personen, die sich in seinem Schutzraum befanden, herauszubringen.
Erzählen Sie bitte über den ersten Kriegstag in Mariupol. Wie verlief dieser Tag für Sie?
Der Tag war hektisch. Meine Frau war in Panik. Als die Bombardements losgingen, meinte sie, wir müssten fliehen. Ich konnte nicht glauben, dass irgendwas passieren könnte. Wie kann man sich im 21. Jahrhundert vorstellen, dass gezielt Wohnviertel angegriffen werden? Das lag außerhalb der Vorstellungskraft. Man meinte, dass es vielleicht Schießereien geben könnte, sich dann aber alles lösen wird – sie werden abziehen, und es kommt zu Verhandlungen. Das war der erste Tag. Man konnte nicht glauben, was sich um einen herum abspielte.
Und als klar wurde, dass das nicht einfach wieder aufhört und dass man die Stadt verlassen muss?
Das wurde so um den 26./27. Februar herum klar. Aber da kam man schon nicht mehr aus der Stadt heraus. Ich hatte kein Auto, aber selbst wenn ich eins gehabt hätte, weiß ich nicht, ob ich die Fahrt riskiert hätte, im Wissen, dass auf der Straße nach Mariupol bereits eine Kolonne der Besatzer unterwegs war. Ich hätte es eher nicht getan. Ich fürchte, die, die sich am27./28. auf den Weg gemacht haben, sind ein hohes Risiko eingegangen.
In welchem Stadtteil haben Sie gewohnt und was ist dort passiert?
Im Bezirk Kalmius, bei Neptun. Wer in Mariupol wohnt, weiß, wo das ist. Bei der Iljin-Fabrik. An den ersten Tagen war es bei uns mehr oder weniger ruhig im Vergleich zu dem, was danach kam. Im März wurde unmittelbar unser Bezirk unter Beschuss genommen. Bis dahin hatten wir nur die Schießereien in der Gegend von Sartan gehört, das, was im 23. Bezirk passierte.
Das war laut und schrecklich, aber jetzt kann ich das schon analysieren und sagen: „Ja, das war noch harmlos“. Als es bei uns losging, da realisierten wir, wie schlimm das alles war.
Schildern Sie das Leben in Mariupol während des Krieges.
Anfangs war es einfach schrecklich, weil geschossen wurde – man rannte in die improvisierten Schutzräume, die inzwischen eingerichtet worden waren. Die städtischen Behörden hatten keinerlei Luftschutzbunker vorbereitet. Dann fiel der Strom aus, es gab kein Wasser und kein Gas mehr. Es kam uns sehr zugute, dass wir viele Jahre alle möglichen Katastrophenfilme angesehen hatten. Oder auch, dass ich in der Schule gut aufgepasst habe, beim Überlebenstraining, bei der vormilitärischen Ausbildung und dergleichen. Wir verschafften uns Holz und auch Wasser, wir tauten Schnee auf und sammelten Regenwasser. Besorgten uns Proviant. Es war sehr wichtig, kommunikativ zu sein. Kommunikation ist viel mehr wert als Geld, das schon gar keine Bedeutung mehr hatte. Im Schutzbunker waren wir über 280 Personen. Wir halfen einander, eben so haben wir auch überlebt. Auch jetzt noch versuchen die Menschen dort zu überleben. Man rettet sie tröpfchenweise, und 150 oder 140 Tausend überleben da bis heute noch.
Haben Sie irgendwie mit dem Militär zusammengearbeitet?
In unserem Bezirk war ein Militärhospital. Irgendwann in der ersten Woche ging ich in meiner Freizeit dorthin, und wir halfen, die Fenster gegen Trümmer zu schützen. Wir verbarrikadierten sie mit Säcken, damit die Ärzte arbeiten konnten, die ja nicht nur Soldaten behandelten, sondern auch Zivilisten, die bei Beschüssen verletzt worden waren. Ich war da, als Personen gebracht wurden, die beim ersten Raketen- oder Bombeneinschlag in der Kirovstraße verletzt worden waren. Einmal, als wir gerade Säcke befüllten und an den Fenstern befestigten, kam ein älterer Mann kam und sagte, „Leute, irgendwas ist mir in die Hüfte geraten“. Die Ärzte sahen nach und fanden ein Schrapnell in seiner Hüfte. Und dann, etwa vor zwei Wochen, sah ich ein Video, wo russische Journalisten vor diesem Fenster standen, das wir im Krankenhaus mit Säcken gesichert hatten. Und die erzählten, hier habe sich der Stab von ASOV befunden: „Wir haben die Soldaten aus dem Krankenhaus vertrieben, sie haben von dort aus geschossen.“ Ich denke mir „So was! Wenn ich nur nicht abgehauen wäre, dann hätte ich da auch die Soldaten gesehen…“ Nur haben sie nicht geschossen, sondern Menschen gerettet. Aber bevor sie es, nach ihrer Aussage, „befreiten“, wurde das gesamte Krankenhaus am 15. oder 18. März sehr schnell von dort aus evakuiert. Soweit ich weiß, vielleicht in den Schutzraum auf dem Fabrikgelände, denn wenn ich jetzt sehe, nach wem von den Soldaten und Ärzten gefahndet wird, dann sind das Personen, mit denen ich persönlich im März zu tun hatte. Und es ist mir schwer ums Herz, wenn ich sehe, dass Menschen, die anderen geholfen haben, jetzt auf Fahndungslisten stehen. Sie haben viele gerettet, und wird jemand sie jetzt retten?
„Man hat uns einfach mit Artillerie, Bomben und Granatwerfern plattgemacht.“
Ich habe mich an unsere Verwaltung für Inneres von Kalmius – an die Polizei gewandt. Wir halfen bei der Suche nach Menschen, soweit das möglich war. Denn sie waren weniger damit beschäftigt, Überlebende zu finden, als damit, Leichen wegzuschaffen. Die Soldaten halfen uns mit Medikamenten, wenn wir dringend welche brauchten. Sie gaben uns, soviel sie konnten. Wenn ich in manchen Nachrichtensendungen sehe, dass jemand sagt, man sollte die Panzer mit Molotow-Cocktails angreifen und so weiter – aber wir haben ja weder die Technik noch die Soldaten Russlands und der „DVR“ zu Gesicht bekommen. Sie haben uns mit Artillerie, Bomben und Mörsern zugeschüttet. Die Soldaten haben wir erst gesehen, als wir die Stadt verließen. Und unseren Bezirk haben sie einfach mit Artillerie tyrannisiert und zerstört. Neben dem Schutzbunker hatten wir fünf Bombenkrater. Es waren fünf und nicht sechs – denn die sechste Bombe war in ein Transformatorenhäuschen eingeschlagen, das dabei total zerstört wurde. Da blieb kein Krater mehr – das vier Meter hohe Transformatorenhäuschen wurde dem Erdboden gleichgemacht. Das war ungefähr zwischen dem 13. bis 16. März – zu diesem Zeitpunkt hatte das Datum schon keine Bedeutung mehr. Es kam vor allem darauf an, zu überleben. Wenn man heute überlebt hatte, war es gut. Dann galt es morgen zu überleben. Wir planten, den Kindern warmes Essen zu bringen, man musste Wasser besorgen, man musste darauf achten, dass keine Markierungen an den Schutzbunkern angebracht wurden, dass Plünderer kein Benzin aus den Autos stahlen. Um den 13.-16. März ging es heiß her – sie nahmen uns drei Tage lang unter Beschuss, speziell unseren Bunker – wahrscheinlich war er in der Geolokation zu erkennen. Bei uns luden Leute ihre Telefone auf, und da fingen sie an, uns zu bombardieren.
Wissen Sie, was jetzt mit Ihrem Haus und den Häusern in der Nachbarschaft los ist?
Mit den Häusern ist es schwierig, ich kann dazu nichts sagen, weil niemand Kontakt mit der Stadt hat. Aber, wenn Kuleba sagt: „Das war’s, Mariupol existiert nicht mehr, es wurde dem Erdboden gleichgemacht...“ Aber da sind bis heute noch über 100.000 Menschen, verstehen Sie? Und sie sind am Leben. Also ist Mariupol nicht zerstört. Es wird gerade jetzt zerstört! Und man muss die Menschen dort retten. Es ist gleichgültig, ob die Häuser noch stehen, entscheidend ist, dass noch Menschen dort sind, lebende Menschen, die die Stadt nicht verlassen können. Denen man das nicht ermöglicht, die man falsch informiert. Das ist ziemlich hart.
Sie sagen, dass man ihnen nicht ermöglicht, die Stadt zu verlassen. Was hat Sie konkret daran gehindert?
Fehlende Informationen, und dass es keine sicheren Korridore gab. Ich hatte kein Transportmittel. Weil ich drei Kinder habe und ich meine Kinder nicht einer solchen Gefahr aussetzen kann. Wir warteten ab, bis es etwas wärmer wurde, damit wir auf dem Weg bei Nacht nicht zu sehr frieren würden. Und natürlich bis sich die Front und der Beschuss zumindest ein wenig von unserer Schutzunterkunft entfernt hatte, damit unser Fluchtweg nicht unter ständigem Beschuss stand, wie alles um uns herum.
Es gab viele Informationen, dass die Russen Einwohner von Mariupol in großem Umfang auf russisches Territorium oder auf zeitweilig besetztes Territorium der Ukraine brachten. Hat man Ihnen angeboten, die Stadt zu verlassen? Kennen Sie Personen, die dem zugestimmt haben?
Ja, das wurde uns angeboten, ziemlich großzügig: „Fahren Sie nach Rostov oder nach Donezk, hier ist ein Bus“ – da waren wir schon in Nikolske und in Manhusch. – „Sie werden dort erwartet, es gibt eine warme Mahlzeit, Unterkunft, Arbeit, alles wird gut“. Das waren solche – ich will sie mal als „fröhliche Politfunktionäre“ bezeichnen. Es waren gut ausgebildete Psychologen. In Nikolske haben uns gerade solche „Befreier“ begrüßt: „Wir helfen Euch, dort bekommt Ihr etwas zu essen“. Man möchte anmerken, dass wir ja was zu Essen hatten, wir hatten ein Zuhause, und man musste uns nicht irgendwohin bringen, wir konnten selbst fahren, wohin wir wollten. Aber in Manhusch begriff ich, dass ihnen Personal fehlt: Sie suchen Leute und instruieren sie schnell, um sie dorthin, in die „DVR“ oder nach Russland zu schicken. So kam morgens ein Soldat und sagte: „Werdet Ihr hier lange im Kindergarten bleiben?“ Wir sagten: „Wir sind für eine Nacht gekommen, um dann weiter in die Ukraine zu fahren, wenigstens bis Zaporizhzhia“. Und er: „Aah“ – Sein Programm war schief gelaufen. Und wir verstanden das alle. Darauf war er nicht vorbereitet. Er hatte die Anweisung bekommen, die Personen, die 2-4 Nächte da verbracht hatten, anzuwerben.
Oleksij war oft bei Sportwettkämpfen als Schiedsrichter und Ansager aufgetreten.
Am 22. März kamen wir in Manhusch an. Gerade an diesem Tag hatten sie die humanitären Bus-Konvois, die von Zaporizhzhia nach Mariupol unterwegs waren, gekapert. Abends wurde gefragt: „Wer will nach Donezk? Es gibt noch eine Fahrmöglichkeit.“ Ich ging raus, um mir das anzusehen. Ich dachte: „Autobusse in der Nacht, was ist das denn?“ Es handelte sich um ein Fahrzeug der kommunalen Verkehrsbetriebe von Zaporizhzhia. Ich rief die Freiwilligen von Zaporizhzhia an, und sie sagten mir: „Ja, Oleksij, ein Konvoi war unterwegs, aber sie haben unsere Busse gekapert“. Ich: „Eure Busse sind nach Donezk gefahren.“
Als ich rausging, gaben sie mir gewissermaßen die Chance: zu fahren oder eben nicht. Aber ich weiß, was dann passiert ist. Bekannten von mir wurde gesagt: „Wir fahren nach Zaporizhzhia“. Sie stiegen ein in den Bus – und landeten in der Nähe von Donezk.
Sie sind ein fröhlicher Mensch, und über Sie heißt es bei Telegram, Sie hätten Großveranstaltungen moderiert. Erzählen Sie über Ihr Leben vor Beginn des Angriffs und welche Pläne Sie jetzt haben.
Vor dem Angriff hatte ich ein sehr gutes Leben. In diesem Jahr hatte ich sehr viel vor. Ich bin nicht nur Moderator von Festveranstaltungen, sondern auch Schiedsrichter und Ansager bei ukrainischen und internationalen Sportwettkämpfen, so in Mariupol bei Eishockeyspielen. Die ukrainischen Meisterschaften im Klettern, Rudern, Boxen und Basketball waren bereits in der Planung. Ich bin außerdem internationaler Sprecher und Trainer, ich trainiere Moderatoren und Animatoren von Veranstaltungen. Außerdem habe ich mit Kindern gearbeitet, ich arbeite schon länger mit der Stiftung „Gelb-blaue Flügel“ zusammen, das ist eine ukrainische internationale Stiftung. Wir haben jetzt schon vielen Flüchtlingen geholfen. Die nächsten Pläne sind Hilfe für Umsiedler und weitere Zusammenarbeit mit den „Gelb-blauen Flügeln“. Im Rahmen meiner Haupttätigkeit, die ich schon über 30 Jahre betreibe, stehe ich in Kontakt mit Moderatoren aus Czernovitz, die schon viele Jahre auf meinen Besuch gewartet haben. Dort bin ich jetzt gewesen. Und wir wollen jetzt ein paar stimulierende Lieder für kleine Kinder schreiben, für Kinder mit Behinderungen. Wir sind jetzt gerade in der Schaffensphase. Außerdem schreiben wir ein paar Sachen für Animateure, die noch weiterarbeiten können. Mit Freunden, die als Freiwillige gearbeitet hatten, helfen wir uns gegenseitig und tauschen uns untereinander aus. Kommunikation ist wichtig, sie kann Leben retten. Sie sehen alle, wie die Ukrainer einander helfen. Ich bin jetzt in Uzhhorod. Menschen, die ich nie gekannt habe, haben mich aufgenommen. Weil sie Bekannte meiner Bekannten sind. Und das ist gut, wenn es solche Leute gibt.
Fotografie von Oleksij Symonov.
Sie haben schon ein wenig davon berichtet, wie Sie aus der Stadt herausgekommen sind. Erzählen sie, wie das ablief.
Am 20. stellten wir fest, dass sich die Lage etwas beruhigt hatte. Und es war wärmer geworden. Am 21. ging ein Mann aus unserem Schutzraum in eine Richtung und ich in eine andere, um die Lage zu erkunden. Wir sahen, dass die Einschläge jetzt weiter weg von uns waren. Wir versammelten alle, die wollten, in unserem Schutzbunker. Ich erklärte, dass wir am nächsten Morgen um 8 Uhr rausgehen. Wer wollte, sollte sich vorbereiten, es sollte nur das Notwendigste mitgenommen werden. Jeder sollte seine eigenen Sachen tragen. Und wir gingen schnell, wir wollten es wenigstens bis Nikolske oder Manhusch schaffen. Von dort aus sollte es Busse geben. Weil eine Regierungsmitarbeiterin – der Name beginnt mit V und endet mit ereschtschuk – gesagt hatte, dass vom 15. an täglich Busse aus Manhusch nach Berdjansk verkehren würden. Als wir in Manhusch ankamen, fragte ich bei den Ortsbewohnern nach. „Ljoscha, seit dem 24. Februar hat es keinen einzigen offiziellen Bus von Manhusch nach Berdjansk gegeben.“
Wir gingen 15 km zu Fuß von Manhusch nach Komyschevate. Zehn Minuten bevor die Geschäfte schlossen, kamen wir an. Da ist ein kleiner Laden, so ein Dorfladen. Wir besorgten uns da Wasser, weil wir nicht damit gerechnet hatten, so lange laufen zu müssen, und wir kauften auch Brot. Ich hatte schon Kontakt zum Dorfvorstand. Er sagte: „Hier ist nichts, ich kann Euch nur den Klub zur Verfügung stellen, aber der ist nicht geheizt“. Worauf wir antworteten: „Hauptsache, nicht unter freiem Himmel.“ In dem Moment kam eine Frau, die in diesem Laden arbeitet, dazu und fragte, woher wir kämen. „Aus Mariupol“. Und sie darauf.: „Der Klub taugt dafür nicht. Zwölf Personen nehme ich zu mir, Ljuda, nimm du noch fünf auf.“ Kurz, wir wurden in Komyschuvate auf die Familien verteilt und kamen ins Warme. Zum ersten Mal seit einem Monat konnten wir duschen. So habe ich jetzt in Komyschuvate eine zweite Familie. Und morgens half man uns, weiter zu fahren, sie brachten alle mit dem Auto weg, nach Demjanivka, und am 24. brachte man uns von dort aus weiter. Über holprige Straßen und konspirative Pfade schafften wir es nach Zaporizhzhia. Dann kamen 17 oder 18 Checkpoints von Russen und „DVR“-Leuten. Und dann kam schon die Ukraine. Wir kamen nach Zaporizhzhia, da brachte man uns in einem Kindergarten unter, und am nächsten Morgen wurden wir in den Zug gesetzt. Unsere Gruppe wurde dahin gebracht und in einem separaten Waggon untergebracht.
Wir waren erst 117 Personen, bis zur Ukraine kamen 70. D. h. einige begaben sich nach Rostov, nach Russland, weil sie dort Verwandte haben oder Freunde. Das ist das Recht jedes Menschen. Darin unterscheidet sich ja die Ukraine von denen, die zu uns gekommen sind. Wir haben die Wahl: Wir entscheiden, was wir tun und wie wir es tun. Und unter allen Umständen bleiben wir Menschen.
Wie sieht es aus, wenn sich 117 Menschen auf so einen Weg begeben? Ich war natürlich auf Bergwanderungen, aber da sind es 20 Personen, höchstens. Und hier 117 Personen bei so einer Entfernung….
Sehen Sie, Sie gehen sonst mit Rucksäcken in einer Kolonne und sind guter Dinge. Hier sind es Leute mit Rucksäcken, Taschen, Katzen-Containern, mit kleinen Kindern, die auch wieder Rucksäcke und Taschen tragen. Das ist wie eine große Prozession. Als meine Freunde mitbekommen hatten, dass ich noch lebe, schrieben sie mir: „Du bist nicht Simonov, du bist Simoses. Du führst die Menschen durch eine Asphalt-Wüste.“ Wenn man in der Stille geht, so wie wir, als wir Manhusch verließen, dann ist alles gut. Aber als wir aus einer Stadt herauskamen, die unter Beschuss stand, war das schrecklich. Und wenn man sagt, dass die Schüsse weit weg sind, dass man ruhig etwas langsamer gehen kann, und dann sagen alle darauf „Nein! Nein! Nein!“, egal, ob alt oder jung. Wir hatten sowohl 70jährige als auch Kinder im Alter von fünf Jahren.
Wie haben die Soldaten auf die Kolonne reagiert, was haben sie an den Checkpoints gesagt?
Naja, im März sollten sie noch aussehen wie Engel in Weiß, sie waren doch unsere „Befreier“. Sie haben uns von unseren Häusern, von unserem Leben befreit. Und um nicht zu provozieren, nickten sie uns zu: Kommen Sie, kommen Sie, hier geht es lang“. Wir kennen die Stadt auch ohne euch. Ich weiß, dass es später viel Aggression gegeben hat, aber als wir die Stellen passierten, wollten sie noch einen guten Eindruck machen. „Wir helfen euch wo es möglich ist.“ Wir nickten ebenfalls. Wir hatten keine Zeit mit ihnen zu reden, wozu auch? Was konnten sie uns sagen, was wir nicht selbst wussten? Nichts. Was konnten sie tun? Was sie konnten, haben sie getan. Sie haben uns unserer Wurzeln, unseres Lebens beraubt. Wir fangen jetzt von Null an. Und das ist sehr schwer.
Beim Passieren der Checkpoints war zu sehen, wo russische Stellen waren und wo welche von der „DVR“. Erstens haben wir an den 15 russischen Posten ganz Russland zu sehen bekommen – Udmurten, Kasachen, Tschetschenen. Im Ganzen – das ganze Spektrum, von Sachalin, wahrscheinlich von Jakutien. Der Jakute war so ein „Pfiffiger“. Und auch jemand vom Gebiet Smolensk. Aber alle erfüllten ihre Aufgaben, so wie es ihnen befohlen war. Sie suchten nach Männern, nach Tätowierungen, überprüften die Telefone nach Informationen, sahen nach, ob an den Fingern Schwielen vom Schießen vorhanden waren. Aber da war zumindest klar, dass es sich um Soldaten handelte, die auf ihren Staat einen Eid abgelegt hatten. Die letzten 2-3 Checkpoints dagegen, die von der „DVR“, die waren schon Sch…… Entschuldigung. Marginale mit einer Waffe und aggressivem Blick. Einer dieser Posten hätte mich beinahe erschossen, weil ich eine Narbe von einem Holzsplitter hatte: „Das ist vom Schießen!“ Ich erklärte ihm, es sei vom Holzhacken. Er schoss eine Gewehrsalve über meinem Kopf ab. Ich bin den Kameraden sehr dankbar, die mich da rausgebracht haben. Wo es ging, boten wir den Posten Zigaretten oder sonst was an, um sie abzulenken. Man muss sich so verhalten – die Augen zu Boden, und nur ja-ja, nein-nein, nichts sonst. Sonst kommt es zu Wutausbrüchen und Aggressionen – und kann für einen selbst und für alle anderen, die dabei sind, sehr gefährlich werden.
In der Kolonne aus Mariupol waren Leute im Alter von 5 bis 70 Jahren, einige hatten ihre Haustiere dabei.
Deshalb sollte man auf diejenigen hören, die einen herausbringen! Und wenn sie sagen, man solle nichts sagen, dann soll man das auch nicht tun. Denn diese Leute riskieren viel. Und viele Freiwillige, die gefangengenommen und nach etwa zwei Wochen entlassen wurden, die saßen nicht für ihre guten Taten, sondern weil einer ihrer Schützlinge sich zu aggressiv verhalten oder zu redselig gewesen war. Soldaten sind unterschiedlich, verstehen Sie. Es gab Soldaten, die man nicht eingewiesen hatte, und die sich in den ersten Tagen mit ihrer Militärtechnik nach Melitopol begaben statt nach Mariupol. Das gab den Unsrigen einige Tage Zeit, sich umzugruppieren und wenigstens eine minimale Verteidigung in der Stadt aufzustellen. Als ich sah, wie die russische Technik am 27. oder 28. Februar in Melitopol eintraf, dachte ich: Was wollen die in Melitopol… Und Freunde aus Melitopol schrieben mir: „Die Technik ist gekommen, durchgefahren und verschwunden.“ „Aah. Wie seinerzeit Gasmanov verwechseln sie Mariupol mit Melitopol.“ In den Nuller Jahren, als dieser Akrobat (Gasmanov) noch hier auftrat, besuchte er Mariupol zum Tag der Stadt und sagte: „Sei gegrüßt, Melitopol!“
Sie sprechen vom Verhalten an den Checkpoints, aber haben Sie erlebt, dass dort Zivilpersonen getötet oder irgendwohin verschleppt und gefoltert wurden?
Verschleppt wurden welche, ja! Aus unserer Kolonne wurde ein Mann festgenommen – auf seinem Telefon hatte man Korrespondenz mit Soldaten gefunden, und er wurde verhaftet. Sein weiteres Schicksal ist mir unbekannt.
Kennen Sie Personen, die in Mariupol getötet wurden? Die entweder durch Bomben oder Scharfschützen oder eine unmittelbare Militärattacke ums Leben kamen?
Natürlich. Jeden Tag erhalten wir Informationen, und man liest mit stockendem Herzen die Namen und findet Bekannte. Das ist sehr schwer, wenn man Menschen verliert. Ich hatte Glück, meine Verwandten sind am Leben. Von den Angehörigen der Personen, die mit uns waren, ist in einem Fall der Vater im Hof seines Hauses ums Leben gekommen. Es kam eine Granate, und das war’s. Und er war zuvor durch die halbe Stadt gefahren um seine Töchter zu besuchen. Sie wollten ihn überreden, bei ihnen zu bleiben: „Bleib in unserem Schutzraum“, er darauf: „Nein, ich habe ja mein Haus, ich werde da bleiben.“ Und das ist sehr schwer.
Hätte man irgendwas tun können, um diese Situation in Mariupol zumindest teilweise zu verhindern?
Fotografie von Oleksij Symonov.
Ja, natürlich.
Und was genau?
Man hätte sich nicht so aufplustern und nicht sagen sollen, dass „wir alles tun“ werden, und niemand „uns antasten“ wird, sondern sich vorbereiten! Statt seine Bedeutung aufzublasen und in der Öffentlichkeit zu glänzen, hätte man sich einfach vorbereiten müssen. So wie das die Fabriken getan haben. Diese haben sich auf die „heiße“ Konservierung vorbereitet, sie haben Schutzräume auf dem Fabrikgelände eingerichtet, weil ihnen klar war, dass es zwar nicht unbedingt zum Krieg kommen muss, man aber vorbereitet sein muss. Und für die Schutzräume haben sie Vorräte an Trockennahrung und etwas Wasser angelegt. Die Menschen leben bis jetzt noch von diesen Vorräten. Und stellen Sie sich vor, wenn dieser Schutzraum nicht vorbereitet gewesen wäre…. An dem Tag, als alles anfing, kamen die Leute, und da war statt eines Schutzraums ein verschlossener Keller, überflutet, und niemand weiß, wer den Schlüssel hat. Es hieß: „Überall gibt es Schutzräume, kommen Sie“. Wissen Sie, unsere Mariupoler erkennt man in anderen Städten sofort. Bei Luftalarm reagieren sie nicht. Wissen Sie warum nicht? Weil es bei uns gar keinen gab.
Was empfinden Sie jetzt gegenüber den Russen?
Nichts. Gar nichts. Russen und Soldaten, das ist nicht dasselbe. Die Russen und ihre Regierung – das ist nicht dasselbe. Man darf keinen Hass verbreiten, das führt zu nichts. Es gibt Menschen, denen man das Gehirn gewaschen hat und die schreien: „Bringt alle um!“ Sie kann man kaum als Russen, ja kaum als Menschen bezeichnen. Menschen, die dazu aufrufen, Kinder oder auch andere Menschen umzubringen, sind keine Menschen. Egal, wo sie leben. In Russland oder in Bangladesch oder in Somalia. Was die Russen angeht, sie haben keine Wahl. Viele haben kein kritisches Denken. Viele verstehen bis heute nicht, was vor sich geht. Deshalb müssen die, die mit dem Krieg kommen und eine Waffe in die Hand nehmen, vernichtet werden. Das ist klar. Menschen, die in ihrer kleinen Welt leben - nun, Menschen sind überall Menschen. Zu den Russen habe ich keine besondere Beziehung. Leider nicht. Es ist einfach eine verlorene Generation, ein ausgestrichenes Land auf der Karte der Länder, die ich besuchen möchte. Obwohl es da auch normale Menschen gibt, die versuchen, etwas zu sagen, manche haben Angst, andere nicht. Aber davon gibt es sehr wenige. Es ist viel leichter, den Fernsehkasten einzuschalten und zu hören, was da erzählt wird.
Übersetzung: Vera Ammer
Ein Video-Interview mit Oleksij Symonov finden Sie hier.
Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.
21. April 2023