Seit mehr als zwei Jahren befindet sich der spanische Staatsbürger Mariano Garcia Calatayud in russischer Gefangenschaft. Er wurde mit Elektroschocks gefoltert, man schlug ihm die Zähne aus und hetzte einen Hund auf ihn. Von der Liebe zur Ukraine, von Kampf und Gefangenschaft erzählt seine Lebensgefährtin Tetjana Maryna.
Von Andrij Didenko
Ich heiße Maryna Tetjana Oleksandrivna. Ich bin die Lebensgefährtin des spanischen Staatsbürgers und ukrainischen Freiwilligen Mariano Garcia Calatayud, der am 2. Februar 2024 76 Jahre alt geworden ist. Leider befindet er sich seit mehr als zwei Jahren in russischer Gefangenschaft.
Was geschah in Cherson zu Beginn der russischen Okkupation?
Zu Beginn der Okkupation, als es in der Stadt zu einer Lebensmittelblockade kam und Bankkonten gesperrt wurden, brach in der Stadt ein leichtes Chaos aus. Nachdem die russischen Truppen in die Stadt einmarschiert waren, besetzten sie auf der Stelle das Gebäude der staatlichen Regionalverwaltung des Gebietes Cherson und organisierten dort ihr Hauptquartier. Die Menschen begannen, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren.
Am 5. März kam es zur größten Protestdemonstration. Nach Angaben von Journalisten, die davon auf nationaler Ebene berichteten, einschließlich des Fernsehsenders Freedom und anderen, hatten sich bei der Demonstration um die 10.000 Menschen versammelt. Als Augenzeugin kann ich sagen, dass es wirklich sehr viele Menschen waren. Mein Mann Mariano und ich sind natürlich auch dorthin gegangen.
Die Russen verstärkten sofort Absperrungen mit ihren Soldaten und filmten die Demonstration vom Hubschrauber aus. Sie versuchten, Meinungsführer zu identifizieren, also diejenigen Leute zu finden, die die Bewohner zu irgendeiner Form des Widerstands anstacheln könnten.
Es lag nicht in ihrem Interesse, im regionalen Zentrum irgendwelche Gräueltaten zu begehen, weil sie Cherson als Vorzeigeobjekt präsentieren wollten: Schaut her, wir sind hierhergekommen, haben die Bürger befreit, alle hier sind für uns, alle lieben uns.
Wir erinnern uns alle noch an den mutigen jungen Mann von der Nationalpolizei, der bei der Demonstration mit der ukrainischen Flagge auf den russischen Panzerwagen gesprungen ist. Das war einfach unglaublich. Es herrschte eine solche Begeisterung. Um ehrlich zu sein, dachten wir, die Russen würden sehen, wie unwillkommen sie in der Stadt sind, sich umdrehen und verschwinden. Das war ein sehr naiver Gedanke.
Wann begannen sie Gewalt gegen Demonstranten anzuwenden?
Am 21. März beschlossen die Russen, wie man so schön sagt, diesen „Zirkus“ zu beenden und schossen auf die Demonstranten. Die Leute hatten sich wie üblich um 10:00 Uhr morgens versammelt, aber an diesem Tag lief das alles nach einem anderen Szenario ab: Die Postenkette, die sich rund um das staatliche Verwaltungsgebäude aufgestellt hatte, bewegte sich aggressiv auf uns zu und sie richteten ihre Maschinengewehre auf uns.
Als Zivilist hatte ich noch nie im Leben gehört, wie sich eine Maschinengewehrsalve tatsächlich - und nicht wie im Kino – anhört. Das ist so ein dumpfes Geräusch. Ich hätte nie im Leben geglaubt, dass sie auf uns schießen würden. Es hört sich so ähnlich an, als würde ein Auto über Schotter fahren. Das ist ganz und gar nicht wie diese Spezialeffekte, die wir aus dem Kino gewohnt sind. Ich verstand gar nicht, dass sie auf uns schossen, sondern meine Freundin. Sie zog mich schnell am Ärmel und sagte: „Lauf, sie schießen auf uns!“
Was hat Mariano vor dem Krieg gemacht?
Er hat in Spanien ein sicheres Leben zurückgelassen und ist in die Ukraine gekommen, um als Freiwilliger zu arbeiten (Mariano ist seit 2014 ehrenamtlich tätig; Anm. Redaktion). Soweit ich weiß, war das nicht seine erste Erfahrung damit. Er hat Ähnliches in Afrika gemacht. Er hat erzählt, wie er dort mit dem Stamm der Massai Kontakt aufgenommen hat. Vielleicht hat er eine Abenteuer-Natur. Nicht jeder Mensch ist im Stande, sein sicheres Leben hinter sich zu lassen und gegen die Empfehlungen der Botschaft in ein kämpfendes Land zu gehen, an die Frontlinie zu fahren und der Zivilbevölkerung zu helfen.
Verstehen Sie, Freiwilligenarbeit, das ist eine gewisse körperliche Anstrengung. Das gab es bei ihm nicht, dass er einfach herumgelaufen ist und Aufgaben verteilt hat: Die Ladung dorthin schicken, diese dahin. Nein. Er hat eigenhändig sämtliche Ladungen ein- und Kleinbusse ausgeladen. Er hat selbst humanitäre Hilfe gesammelt. Eigene finanzielle Mittel reingesteckt. Er war Frühpensionär und hatte eine Versorgung in Höhe von 1600,- Euro im Monat. Das ist für Spanien ein sehr gutes Einkommen, er hätte einfach leben und es sich an nichts fehlen lassen können.
Wann und wie ist Mariano verschwunden?
Der 19. März 2022 um 9:00 Uhr morgens war der letzte Tag, an dem ich ihn mit eigenen Augen gesehen habe, mit ihm gesprochen und seine Stimme gehört habe. Um 13:51 Uhr ging er nach Hause. Mariano rief mich an, um mir zu sagen, dass er keinen Schlüssel dabei hatte. „Komm bitte raus und mach mir die Tür auf“, sagte er. Ich bin diesen Moment Millionen Mal im Kopf durchgegangen und ich glaube, wenn ich nur schneller rausgegangen wäre oder ihm den Hausschlüssel gegeben hätte, seine Aufmerksamkeit also darauf gelenkt hätte, den Schlüssel mitzunehmen, dann wäre vielleicht auch gar nichts passiert, wenigstens nicht zu diesem Zeitpunkt. Nachdem er mich angerufen hatte, brauchte ich ungefähr zwei Minuten, um runterzugehen. Ich ging nach draußen – da war schon niemand mehr.
Was ist über Marianos Verbleib in Gefangenschaft bekannt?
Am 21. März wurde Oleg Baturyn aus der Gefangenschaft entlassen. Das ist unser Journalist aus Kachovka, er wurde zusammen mit Mariano am selben Ort festgehalten: In Cherson, Teploenergetik-Straße 3, Untersuchungshaftanstalt. Die Russen hatten dort eine Stelle eingerichtet, an der sie Geiseln festhielten. Da war Oleg. Er hat während seiner Gefangenschaft jemanden Spanisch sprechen gehört. Er sagte: „Er hat es ihnen ganz schön gegeben.“ Er hat sie beschimpft, jeden Tag „Slava Ukraini“ gerufen und morgens Gymnastik gemacht.
Oleg ist für mich der wertvollste Zeuge, er war drei Monate dort zusammen mit Mariano und dem Bürgermeister von Hola Prystan Oleksandr Babytsch. Jedes Mal wenn jemand aus der Untersuchungshaft raus kam und mich kontaktierte, fragte ich, wie es ihnen dort geht, wie ihr Alltag aussieht und was sie machen.
Jedes Mal bekam ich die Information, dass gerade niemand mit ihnen redet, sie dort sitzen und es völlig unklar ist, was die Russen von ihnen wollen. Ich erfuhr sogar, dass Mariano dort einen Herzinfarkt erlitten hatte. Ein Sanitäter kam zu ihm und brachte ihm irgendwelche Medikamente. Der letzte Zeuge, der rauskam, geriet am 6. Januar dorthin und kam irgendwann im April 2023 frei. Der saß dort ziemlich lange und er hatte viel Zeit sich mit anderen Häftlingen zu unterhalten.
Ich erfuhr, dass man Mariano in Cherson mit Stromschlägen gefoltert hatte. Die Täter fanden bei ihm eine spanische Bankkarte, die zu diesem Zeitpunkt schon gesperrt war, aber sie wollten unbedingt den PIN-Code von ihm wissen, weil er ein Ausländer ist. Wieso ihm also kein Geld abknöpfen?
Ich erfuhr, dass er im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 beim Appell schlimm von einem Diensthund gebissen worden war. Die Sache war so: Sie mussten sich in einer Reihe aufstellen und der Mann mit dem Hund ging die Reihe entlang. Er hetzte den Hund auf ihn und der biss ihm ins Knie. Mariano hielt es nicht aus und schlug dem Hund auf die Schnauze und bekam sofort einen Schlag von dem Wächter mit dem Kommentar: „Warum hältst du den Schmerz nicht aus? Dafür, dass du dich gegen die Besetzung gewehrt hast, hast du noch ganz Anderes verdient.“ Ich habe erfahren, dass man ihn immer wieder schlägt.
Ich fand heraus, dass er immer noch die Kleidung trägt, in der sie ihn mitgenommen haben. Bei Aufnahme bekommen sie ein Stück Seife und das war's mit Hygieneartikeln. Wenn jemand freikommt, bemüht er sich, seine Sachen in der Zelle zu lassen - bis hin zur Unterwäsche, denn in zwei Jahren haben sich die Sachen ganz schön abgenutzt. Sie laufen dort praktisch in Lumpen herum. Ich habe auch gehört, dass sie Mariano auf die Rippen geschlagen haben, auf seinem Körper sind Spuren von Elektroschockern und sie haben ihm Zähne ausgeschlagen. Er hat jetzt überhaupt keine Vorderzähne mehr.
Über die Tätigkeit der Organisation „Zivilisten in Gefangenschaft“
Am Anfang wussten wir überhaupt nicht, in welche Richtung sich unsere Initiative entwickeln würde. Ich bin beigetreten, als es in der Vereinigung schon etwa 200 Personen gab. Jetzt sind wir mehr als 365 Mitglieder, einschließlich derer, die sich auf besetztem Gebiet befinden und solche, deren Angehörige in diesen Gebieten einfach verschollen sind. Mittlerweile können wir die Hauptrichtungen der Arbeit unserer Organisation erkennen.
Erstens ist das die Zusammenarbeit mit den Behörden. Wir müssen wenigstens darüber informiert sein, was der Staat zur Befreiung unserer Angehörigen tut. Zweitens bieten wir eigene Initiativen an. Wir arbeiten mit anderen Organisationen zusammen. Wir besuchen Treffen beim Koordinierungsstab, um zu klären, was genau der Staat zur Befreiung unserer Leute unternimmt.
Außerdem sehen wir die Hauptrichtung unserer Arbeit darin, die Gesellschaft über das Problem der zivilen Geiseln zu informieren. Leider sind wir mit dem Problem konfrontiert, dass in der Ukraine schon über 10 Jahre Krieg herrscht und das Problem der zivilen Geiseln nicht neu ist. Es entstand praktisch sofort nach dem Eindringen Russlands in die Ukraine, also schon 2014. Die Informationspolitik des Staates ist in dieser Angelegenheit sehr schwach.
Die Gesellschaft ist nicht darüber informiert, dass es Zivilisten gibt, die schon seit fast zehn Jahren seit Beginn des Krieges bei den Russen in Gefangenschaft sind. Und seit sich die besetzten Gebiete ausgedehnt haben, hat dieses Problem nochmals ein weit größeres Ausmaß angenommen. Die Gesellschaft muss darüber informiert sein, dass es zivile Gefangene gibt. Zu welchem Zweck hält Russland sie fest? Das ist ein zusätzliches Druckmittel auf unseren Staat. Sie haben in Gefangenschaft weit weniger Rechte als gewöhnliche russische Häftlinge.
Zivile Gefangene, gegen die ein Strafverfahren läuft, haben zumindest das Recht auf Pakete, auf Briefwechsel mit Angehörigen und mit einem Anwalt. Aber die Gruppe derjenigen, gegen die man ein Strafverfahren eingeleitet hat, ist sehr klein. In den meisten Fällen sitzen die Menschen in den Gefängnissen ohne Gerichtsverfahren, ohne Ermittlungen und unter vollständiger Informationsblockade. Ihre Angehörigen haben keinen Kontakt zu ihnen, sie selbst haben keinen Kontakt zur Außenwelt. Unsere Aufgabe ist es, die Gesellschaft über diese große Tragödie zu informieren.
Quelle: https://khpg.org/ru/1608814284
Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker
16. Dezember 2024/1. Mai 2025