Warum die Menschen in den befreiten Gebieten nicht nur humanitäre Hilfe und Medikamente benötigen, sondern auch Bücher und wie man sich von der „sowjetischen Denkweise“ befreit. Interview mit Olha Bondar-Risnytschenko, leitende Expertin des Charkiver Literatur-Museums und freiwillige Helferin bei der NGO „Dobrotschinez“ [Wohltäter].
Ich heiße Olha Bondar-Risnytschenko. Ich beschäftige mich mit Literatur, Geschichte und der Kritik zeitgenössischer Literatur. Ich arbeite im Charkiver Literatur-Museum seit Beginn seiner Existenz. Derzeit habe ich den Posten einer leitenden Expertin. In der Kirche des Heiligen Demetrius bin ich schon viele Jahre Titularin (Kirchenvorsteherin). Wir haben 2014 mit ehrenamtlicher Arbeit im Seelsorge- und Katechese-Zentrum St. Demetrius begonnen.
Um sie für zivile Strukturen funktionsfähig zu machen, haben wir die NGO 'Dobrotschinez' genannt und in diesem Status gibt es uns seit dem Juli 2022. Aber eigentlich hat unsere Freiwilligenarbeit im März 2014 begonnen, als wir vom Maidan kamen und einer der Organisatoren des Februar-Marsches waren. Damals sind wir zurückgekommen vom Maidan in Kyjiv und haben unsere Arbeit hier in Charkiv begonnen. Und im März nach der Annexion der Krym haben wir begonnen, zur 92. Brigade in die Siedlung Vesele zu fahren. Von dort haben wir uns dann zusammen mit der Brigade weiter in das Gebiet Luhansk in die Stadt Schtschastja bewegt. Seitdem haben wir so gut wie jede Woche, später dann jeden Monat, an der ganzen Frontlinie gearbeitet.
Die Rückkehr ukrainischer Bücher in den befreiten Teil des Gebietes Charkiv
Wir fuhren nach Korobschtine im Bezirk Tschuhijiv, das war ungefähr im Mai 2022. Dort gab es damals ständigen Beschuss. Wir waren dorthin gefahren, um den Menschen zu helfen. Wir brachten nicht nur Fertiggerichte mit, sondern auch unsere Ärztin Olena Doroha, die zu Beginn des vollumfänglichen Angriffs medizinische Hilfe in den Metrostationen organisiert hatte. Sie fuhr mit uns und verband den Menschen Hände und Füße. Zu dieser Zeit gab es sehr viele Verbrennungen, vor allem, weil die Leute ihr Essen auf der Straße gekocht haben.
Als wir einmal wieder dorthin kamen, sagten die Frauen: „Wir sitzen die ganze Zeit in den Kellern, aber zwischen den Beschüssen und bei Tageslicht (Strom gab es dort keinen) möchten wir gerne etwas über Liebe lesen.“ Eine Frau fügte hinzu: „Mein Petrik hier kann den 'Kotiroschko' [Held eines osteuropäischen Märchens ukrainischen Ursprungs] schon auswendig, bald kommt er in die erste Klasse, er müsste Bücher lesen.“ Zhadan stellte Geld für Bücher zur Verfügung, Liebesromane, Krimis für Erwachsene und Kinderbücher und einige Woche später brachten wir sie nach Korobtschine.
Einmal ist ein sehr bekannter Franzose mit uns mitgefahren, ein Philosoph. Er war völlig verblüfft, dass die Menschen nicht zu den Lebensmitteln kamen, sondern sich auf die Bücher stürzten, die wir auf einem Tisch ausgelegt hatten, und sie sofort alle mitnahmen. Und das glückliche Gesicht von diesem Petrik hätten Sie sehen sollen!
Als wir dann in die schon befreiten Siedlungen kamen, sahen wir, dass die Bücher verbrannt worden waren. In Malyj Burluk zum Beispiel haben die Russen zuerst die ukrainischen Klassiker verbrannt, dann zeitgenössische Bücher und sie ließen noch ganze Berge von Büchern zurück, die verbrannt werden sollten. In diesen Haufen haben wir Werke moderner ukrainischer Schriftsteller gefunden und Bücher aus historischen Reihen.
Letztendlich begann genau mit der Rückkehr der Bücher in die befreiten Siedlungen der Gebiete Luhansk und Donezk auch unser Projekt. Ukrainische Verlage haben sich daran beteiligt: 'Staryj Lev', 'Ababahalamaha', 'Vivat', 'Schkola', 'Ranok' und viele andere. Auch Bibliotheken des Gebietes Rivne und Schulen, zum Beispiel aus Transkarpatien und Ivano-Frankivsk, schlossen sich an. Sie haben alle sehr viele Bücher geschickt. Wir kamen kaum noch hinterher, sie in die Bibliotheken der befreiten Orte zu schaffen. 2023 gab es auch noch das Projekt mit 'Book Forum', da haben wir nicht nur Bücher gebracht, sondern auch Brettspiele und Bücherregale.
Aber ich möchte für alle betonen, dass es derzeit besonders wichtig ist, Bücher nicht in die Gebiete zu bringen, in denen die Bibliotheken schon zwei-, dreimal ausgebombt wurden, sondern den Bezirken zu helfen, wo sich sehr viele Binnenflüchtlinge aus den Dörfern aufhalten, die gerade von diesen 'Orks' angegriffen werden. Dort kann man sich sinnvoller mit den Kindern beschäftigen. Man muss mit den evakuierten Kindern arbeiten. Weder im Bezirk Bohoduchiv noch in Valkivsk gibt es ausreichend moderne ukrainische Bücher, im Gegensatz zu den Siedlungen, die der Feind in den befreiten Gebieten erneut bombardiert hat.
Im Sommer 2023 haben die Okkupanten die Bibliotheken in Borova, in Pryzhyb und in den Orten rund um Borova bombardiert, buchstäblich eine Woche, nachdem wir Bücher gebracht hatten. Gewöhnlich befinden sich dort, wo Schulen, Kindergärten oder 'Punkte der Unbesiegbarkeit sind, [Orte, an denen sich Ukrainer bei Strom- und Wasserausfall infolge des Angriffskrieges versorgen können] Schutzräume. Und genau diese Punkte beschießen diese 'Orks' in erster Linie. Es war sehr schlimm für mich, dass in Borova die Bibliotheken, denen wir Bücher gebracht hatten, schon zwei Wochen später zerstört wurden.
Worte sind Waffen. Brauchen die Menschen russische Klassiker?
Wir haben einen grundsätzlichen Standpunkt. Sogar als uns 2022 einige Verlage ausgemusterte russische Literatur übergeben haben – und das waren sehr gute Bücher – haben wir diese sofort zum Altpapier gebracht. Worte sind zweifellos eine Waffe. Sie sind eine spirituelle Waffe. Und darauf achten die 'Orks'. Wir haben ihre Journale durchgesehen, die sie zurückgelassen haben, als sie geflohen sind. Sie hatten viele Veranstaltungen geplant: Im Mai und im Juni 2022 hatten sie dort Gespräche über die Siege im Großen Vaterländischen Krieg durchgeführt (oder diese zumindest geplant). Es gab etwas über die Schlacht bei Kursk und darüber, wie stark unser 'geeintes Volk' dort gewesen ist.
Sogar am 8. März haben sie dort irgendetwas gemacht. Das heißt also ihre ideologische Arbeit begann schon am zweiten Tag, nachdem sie in diese Orte eingefallen waren und ihre eigenen Regeln aufgestellt hatten. Wir haben begriffen, dass die Menschen in den Gebieten, wo es kein Fernsehen und kein Internet gibt, lesen und sich intellektuell entwickeln müssen. Und für uns ist es das Wichtigste, dass das auf Ukrainisch passiert.
Für die Kinder ist das umso bedeutender. In vielen Orten konnten sie wegen des Corona-Virus' nicht in die Schule und dann wegen des Krieges. Vier Jahre lang sind sie nicht in die erste Klasse gegangen und für uns war es ganz grundsätzlich wichtig, dass ihr Lernen mit ukrainischen Büchern in den Ortschaften beginnt, die in hohem Maße russifiziert waren, obwohl in unserem Dorf vor allem Surzhyk (Mischsprache auf der Grundlage des Ukrainischen und des Russischen) gesprochen wird. Aber es ist offensichtlich, dass diese kommunistische, sowjetische Erziehung ihre Spuren hinterlassen hat. Und für uns war es sehr wichtig, dass die Kinder wenigstens irgendwelche alternative Informationen bekommen, denn manchmal kommt es zu interessanten Situationen.
Wir haben mit Studenten der UKU [Ukrainische Katholische Universität] in den Jahren 2022 und 2023 mobile Schulen eingerichtet. Das war ein Projekt aus Fördergeldern: Unsere Dozenten und Studenten kamen zu uns und lebten jeweils 10 – 15 Tage unter den Kindern. Sie gaben Unterricht in kritischem Denken, darin, wie man Diskussionen führt, sich gegen Mobbing wehrt, ein aktiver Bürger wird und so weiter. Für uns war von grundlegender Bedeutung, dass die Kinder eine gefestigte ukrainische Haltung entwickeln und auch auf ihre Eltern nicht nur im Sinne einer Entrussifizierung wirken, sondern auch im Sinne einer Entkommunisierung.
In Izjum und in den umliegenden Dörfern haben wir mit den Kindern zusammen Theaterstücke eingeübt, Krippenspiele. Die Kinder sind dann von Haus zu Haus gegangen und haben die Krippenspiele aufgeführt. 90-jährige Großmütter haben sich ein wenig ihrer Kindheit erinnert und daran, wie es bei ihnen war. Und das war richtig toll.
Aber einmal haben die Studenten mich gerufen und gesagt: „Kommen Sie mal, schauen Sie sich das an.“ Ich sah dort eine Ikone von Nikolaj II. in einer Familie von Aktivisten, die uns unterstützte. Das bedeutet in den Köpfen unserer Leute herrscht immer noch so ein Wirrwarr, eine Vermischung. Wir schenken der intellektuellen, ästhetischen und manchmal auch propagandistischen Unterstützung unserer Dörfer bei der Festigung ihrer ukrainischen Positionen viel zu wenig Aufmerksamkeit. Wir vergessen ziemlich oft, dass ein Staat mit einer eigenen Kultur und einer eigenen Identität beginnt. Bei uns wird jedoch für Kultur am wenigsten Geld ausgegeben.
Wir verstehen sehr wohl, dass jetzt in Kriegszeiten die Bedingungen dafür da sind, sich als aktive und kreative Nation zu vereinen und auszubilden. Wir haben keine andere Möglichkeit, denn 'sie' sind uns zahlenmäßig überlegen und wir können diese schrecklichen Russen nur mit unserer Kreativität und der Suche nach irgendwelchen innovativen Lösungen in allem besiegen. Deshalb ist es für uns so wesentlich, auf der einen Seite bessere Drohnen zu machen als sie und auf der anderen Seite aktiver in den Dörfern und Kleinstädten mit den Kindern zu arbeiten. Und solche Gruppen müsste es heute sehr viele geben. Um den Moment eine starke und kreative nationale Identität auszubilden, nicht verstreichen zu lassen, so würde ich es formulieren.
Quelle: https://khpg.org/ru/1608814902
Übersetzung aus dem Russischen: Nicole Hoefs-Brinker