Stimmen des Krieges: Zehn Jahre strenge Lagerhaft für eine pro-ukrainische Einstellung

Valerij Matjuschenko kehrte am 29. Juni 2024 nach Hause zurück, zusammen mit neun weiteren zivilen Gefangenen, die von den russischen Behörden rechtswidrig verurteilt, in Haftanstalten festgehalten und gefoltert worden waren.

Valerij Matjuschenko, Foto: Anna Surynjatsch
Valerij Matjuschenko, Foto: Anna Surynjatsch

 

Valerij befand sich seit dem 15. Juli 2017 rechtswidrig in Haft. Wegen pro-ukrainischer Ansichten beschuldigten ihn die russischen Besatzer der Spionage für die Ukraine und verurteilten ihn zu 10 Jahren Lagerhaft in strengem Regime.

 

Ich heiße Valerij Mykolajovytsch Matjuschenko, ich wohne im Gebiet Donezk in der Stadt Kalmiuske, früher hieß sie Komsomolske. Ich bin dort geboren und habe 52 Jahre bis zum Moment meiner Festnahme dort gelebt. Ich war Unternehmer, hatte eine Reparatur-Werkstatt für Haushaltsgeräte. Und noch früher war ich Musiker, habe Gitarre gespielt.

Am 15. Juli 2017 bin ich aus dem Haus gegangen, wollte zu meinem Nachbarn und für 5 Minuten mit ihm sprechen, da kam ein Transporter, ein weißer Volkswagen, zu mir in den Hof gefahren. Leute stiegen aus, gingen auf mich zu und fragten: „Matjuschenko Valerij Mykolajovytsch, sind Sie das?“ „Ja“, sagte ich. Sie legten mir Handschellen an, die Hände hinter den Rücken, zogen mir einen Sack über den Kopf und zerrten mich zum Auto.

In diesem Moment fing mein böses Abenteuer an: Sie brachten mich irgendwo hin. Wie sich später herausstellte, in das sogenannte Konzentrationslager des FSB-MGB in Donezk, die „Izoljazija“. Niemandem wurde darüber irgendetwas gesagt und meine Familie suchte mich mehrere Tage überall. Sie dachten, man hätte mich umgebracht. Nachdem sie mich in die „Izoljazija“ gebracht hatten, steckten sie mich in einen kleinen Raum, etwa ein auf zwei Meter groß, ohne Fenster, auf dem Boden lag eine Matratze und es gab eine Überwachungskamera, ich war dort unter ständiger Beobachtung. Ich weiß nicht, wie lange ich dort war. Möglicherweise zwei, drei Tage, ich stand unter Schock, konnte mich nicht orientieren.

Dann brachten sie mich in eine Zelle in den Keller, wo schon sechs Personen waren. In diesem Keller blieb ich ein paar Tage. Dann, das war am 20. [Juli] um zwei Uhr nachts, ging die Tür auf und mein Name wurde gerufen. Ich ging raus, ich hatte eine Tüte über dem Kopf, und drei Männer fingen an, mich direkt vor der Zellentür zu verprügeln, dann zerrten sie mich irgendwohin nach oben, banden mir Kabel an und begannen, mich mit Strom zu foltern.

Danach brachten sie mich wieder in die Zelle im Keller, und am nächsten Morgen ins Erdgeschoss. Im Erdgeschoss der „Izoljazija“ verbrachte ich ungefähr 10 Monate, es gab Verhöre, Schläge, Folter, sie zwangen uns zu arbeiten: Stahlbetonschwellen schleppen, sie ließen die Leute einfach schuften, damit sie nicht „umsonst“ saßen.

Im Februar war dann mein Prozess: Ich bekam 10 Jahre strenge Lagerhaft. Im März brachten sie mich in Untersuchungshaft, da war ich so etwa drei Wochen lang, und danach im Lager Makejevkaja Nr. 32, wo ich dann bis zum 26. Juni 2024 war. Ich erhielt 10 Jahre, wobei sie mich zu diesem Moment nach dem Ukrainischen Strafrecht aus dem Jahre 1961 verurteilten. Ich wurde der Spionage für einen ausländischen Staat, der Ukraine, beschuldigt.

Dokumente des Verfahrens gegen Valerij Matjuschenko, Foto: Anna Surynjatsch
Dokumente des Verfahrens gegen Valerij Matjuschenko, Foto: Anna Surynjatsch

 

Am 26. Juni 2024 kam der Diensthabende der Strafkolonie [zu mir] rein und sagte: „Matjuschenko, pack' zusammen, es geht nach Hause.“ Das war für mich natürlich eine Überraschung. Ich nahm meine Tasche mit Büchern drin, sie führten mich aus der Zelle und brachten mich zum Hauptquartier. Ich unterschrieb alle offiziellen Papiere und die Entlassungsbescheinigung. Ich dachte, sie würden mich dort in Donezk lassen, weil sie das vorher mit einigen Jungs, die sie wegen Straftaten verurteilt und freigelassen hatten, auch so gemacht hatten und ich dachte, mit mir würden sie dasselbe tun.

Und dann, als die letzte Tür aufging, hinter der schon die Freiheit wartete, sehe ich plötzlich vor mir einen Bus stehen: die Tür geöffnet, drei Soldaten in Tarnuniform und Sturmhauben. Ich dachte, dass jetzt alles wieder von vorne losgeht. Sie zogen mir wieder Handschellen an, banden mir meine Hände auf den Rücken und wickelten einen elastischen Verband um meinen Kopf. Sie setzten mich in den Bus und wir fuhren los.

Das war gegen 17:00 Uhr abends. Wir fuhren den ganzen restlichen Tag, die ganze Nacht und noch einen ganzen Tag bis zum Abend und sie brachten mich in irgendein Gefängnis. Ich konnte nicht sehen, in was für eins, weil ich die ganze Zeit in Handschellen und mit verbundenen Augen fuhr. Sie führten mich in eine Zelle, dort übernachtete ich, am Morgen fuhren wir wieder irgendwo hin bis zum Abend. Sie fuhren mich also 2 Tage herum. Von Zeit zu Zeit hielten sie irgendwo an. Ich verstand, dass sie irgendjemanden aufnahmen. Der Stimme nach zu urteilen tauchte eine Frau auf, und dann setzten sie uns alle in einen Hubschrauber und wir flogen los. Das war am 29. [Juni]. Dann, als wir angekommen waren, nahmen sie mir die Augenbinde ab und ich sah die Aufschrift Ukraine. Ich begriff, dass wir uns zwischen den zwei Ländern befanden, ich sah unsere Leute, unsere Soldaten, die auf uns zukamen und sagen: „Das war's, ihr seid zuhause.“

Sie haben von dem Transport vor dem Prozess erzählt und von der „Izoljazija“, wurden Sie im Lager auch gefoltert?

Nein, im Lager gab es das nicht. Im Lager war es irgendwie ruhiger. Natürlich hatte es dort auch seine Momente: Man konnte zur Bestrafung in die „Grube“ oder in die Strafzelle gesteckt werden. Aber Folter, das alles geschah dort, in der „Izoljazija“. Das war so ein Ort, wo man die Menschen hinbrachte, wenn man irgendwelche Aussagen aus ihnen herauszupressen wollte.

Haben Sie vom Beginn der Voll-Invasion etwas mitbekommen, sind im Lager ukrainische Kriegsgefangene aufgetaucht? Haben Sie von Ihnen gewusst?

Bei mir waren Jungs, die wegen politischer Paragraphen saßen, zum Beispiel für Spionage. Zu Anfang waren wir ungefähr 50 Leute. Dann fingen sie an, Soldaten dorthin zu bringen. Als ich dann wegfuhr, waren dort etwa 200: Azov-Kämpfer waren dabei und auch andere Jungs aus verschiedenen Einheiten der ukrainischen Streitkräfte.

Aber sie ließen nicht zu, dass wir miteinander kommunizierten, weil sie zum Militär gehörten und wir nicht. Wir hatten abgeschlossene Gefängnishöfe, ein mit Metall verkleideter Zaun hat uns getrennt, man konnte nicht [zu ihnen] reinschauen oder ihnen etwas übergeben, zwischen uns war ein Netz gespannt. Wir hatten keine Möglichkeit, mit ihnen zu sprechen, obwohl es manchmal klappte. Wir wissen, dass man viele von ihnen in russische Gefängnisse brachte und dass es sehr schwer für sie war.

Hatten Sie die Hoffnung, ausgetauscht zu werden?

2017 hatte es am 27. Dezember einen Austausch gegeben, ich war nicht dabei. Natürlich hofften wir alle. Dann gab es den Austausch 2019, am 29. Dezember. 32 Personen gingen, wir blieben noch zu 14 zurück. Das war natürlich ein Schock. Als sie zusammenpackten, waren sie schon in heimischer Stimmung, dann gingen sie, aber wir blieben zurück. Das war sehr schwer, moralisch und psychisch. Wir haben wohl drei Tage nicht miteinander gesprochen.

Wir hofften, nur noch ganz kurz, eine Woche, einen Monat und dann wird es wieder einen Austausch geben, aber es zog sich hin und nach 2019 gab es fast fünf Jahre überhaupt keinen Austausch. Und seit 2019 habe nur ich das Lager verlassen. Ich kann mir vorstellen, was sie empfunden haben, als sie sahen, dass ich gehe und sie zurückbleiben. Diese Menschen waren mit mir schon in der „Izoljazija“ gewesen.

Sie haben gesagt, anfangs wusste Ihre Familie nicht, wo Sie sind. Als sie erfuhr, dass Sie in der „Izsoljazija“ sind, wie haben Sie von diesem Moment an mit Ihren Angehörigen kommuniziert?

An wen meine Frau sich nicht alles gewandt hat: Sie ging auch zur Polizei, dann sagte man ihr durch irgendwelche Bekannte, dass ich nicht bei der Polizei bin, sondern im MGB (Ministerium für Staatsschutz) der „DNR“ („Volksrepublik Donezk“). Da war sie auch und im Hauptquartier in einem anderen Stadtteil. Dass ich in der „Izoljazija“ war, erfuhr sie, als Abschnittsbevollmächtigte zu uns kamen und die Wohnung durchsuchten: Sie wussten, wo ich war. Sie kamen zu ihr, zeigten ihr das Strafgesetzbuch und sagten, dass ihr so und so viele Jahre drohen würden. Sie begannen, ihr anzuhängen, dass sie mir geholfen habe. Es gelang ihr wie durch ein Wunder rauszukommen, sie fuhr nach Sumy zu ihren Cousins und dann nach Slavjansk. Sie wohnte in Slavjansk und brachte mir durch ihre Mutter hier Pakete und rannte außerdem ständig wegen meiner Angelegenheiten von da nach dort und nach Kyjiv zu den Koordinierungsstäben. Manchmal fuhr sie morgens nach Slavjansk und abends wieder nach Kyjiv.

In der ersten Zeit erlaubten sie Kontakt: Sie brachten uns zum Hauptquartier, gaben uns ein Telefon und gestatten uns, zu sprechen. Dann hörte das auf, sie hängten dort normale Telefone auf und wir konnten von diesem Gebiet aus nur nach Russland oder in unsere besetzten Gebiete anrufen. Damals lebte meine Schwiegermutter dort, ich rief sie ständig an und sie richtete meiner Frau alles aus, so haben wir kommuniziert.

Als die Bombardierungen losgingen, nahm sie ihre Mutter und sie fuhren nach Polen und von Polen aus nach Italien. Ihre Mutter war krank und musste zur medizinischen Rehabilitation. Und dann kehrte sie nach Kyjiv zurück. Ich habe sie gefragt, warum sie zurückgekehrt sei. Sie antwortete: „Ich musste doch irgendwas tun und dich da rausholen.“ Seit 2022 war sie wieder in Kyjiv.

Mein Sohn Pavlo hat die Universität in Slavjansk abgeschlossen, er ist Psychologe. Er ist jetzt in Manchester, er lebt mit seiner Freundin zusammen und arbeitet dort. Er ruft mich an und sagt: „Papa, komm hierher!“ Jeden Tag ruft er an. Aber ich kann jetzt nicht weg. Ich war beim TZK [Territoriales Zentrum für Rekrutierung und soziale Unterstützung] und sie haben mir gesagt, dass ich vor 60 nicht raus darf und 60 werde ich erst im Januar. Sie haben mir eine Bescheinigung gegeben, dass ich Zivilist bin und in Gefangenschaft war, haben aber gesagt: „Gesetz ist Gesetz“ und bevor ich 60 bin, kann ich nicht raus.

Valerij mit seinem Sohn Pavlo. Foto: Anna Surynjatsch
Valerij mit seinem Sohn Pavlo. Foto: Anna Surynjatsch

 

Haben Sie noch Kontakt zu den Menschen, die mit Ihnen im Lager waren?

Nachdem man mich freigelassen hatte, noch im Krankenhaus, da haben mich sehr viele Jungs angerufen und sind zu mir gekommen, die schon 2019 freigelassen worden waren. Das sind meine Freunde, einige von ihnen sind hier in Kyjiv, einige kämpfen, einige sind im Ausland. Und ich habe jetzt die Möglichkeit denjenigen, die noch dort [in Gefangenschaft] sind, etwas zu übergeben und in Erfahrung zu bringen, wie es ihnen geht.

Was machen Sie seit Ihrer Freilassung, welche Pläne haben Sie und durchlaufen Sie irgendwelche Rehabilitationsprogramme?

Wir waren zwei Wochen im Rehabilitationszentrum in Puschtscha Vodyzja [Stadtteil von Kyjiv]. Es gibt Rehabilitationsprogramme, und Wohltätigkeitsorganisationen rufen an und bieten ihre Hilfsprogramme an. Ich habe natürlich viele Fragen, zur Rehabilitation, zur sozialen Wiederanpassung, zur Wiederherstellung der Gesundheit und zu Medikamenten.

Das hängt alles auch mit finanziellen Fragen zusammen, es gibt viel mit Zahnärzten zu klären. Ich habe mit den Jungs gesprochen, die 2019 freigekommen sind. Alle, die da rauskommen, haben große Probleme mit den Zähnen. Hoffen wir, dass alles gut wird. Man muss viel telefonieren, noch gibt es keine Ergebnisse, aber es gibt Fonds, die versprochen haben, zu helfen.

Ich habe zwei Zahlungen vom Staat bekommen: Für das letzte Jahr und für meine Freilassung. Meine Frau hat etwas für die früheren Zeiträume bekommen. Was die Hilfe betrifft: Unter denjenigen, die bis heute dort sitzen, gibt es welche aus Donezk und deren Familien können ihnen etwas bringen und übergeben. Aber es gibt welche aus Sumy, auch Cherson, aus Schostka oder aus Zhytomyr. Die können von unserer Seite überhaupt nichts bekommen, selbst die Verwandten können ihnen nicht helfen.

Ich möchte noch hinzufügen: Unsere Leute kommen aus den Gefängnissen, 2017 kamen welche raus, 2019, jetzt bin ich rausgekommen. Das alles sind politische Gefangene, aber sie haben keinen entsprechenden Status. Das sind Menschen, die etwas für unser Land getan haben, aber niemand verleiht ihnen diesen Status. Sie haben wohl einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, ihn aber bislang noch nicht verabschiedet.

Valerij Matjuschenko, Foto: Anna Surynjatsch
Valerij Matjuschenko, Foto: Anna Surynjatsch

 

Hat man Ihnen angeboten, mit Russland zu kooperieren, als Sie im Lager waren?

Das hat man mir nicht nur einmal angeboten, aber das war noch in der „Isoljazija“. Sie schlugen mir vor, entsprechende Papier zu unterschreiben, sagten, ich würde die ganzen 10 Jahre im Gefängnis absitzen, wenn ich nicht unterschreibe. Ich antwortete: „Dann sitze ich eben.“ Und ich habe die Papiere nicht unterschrieben.

Als der Krieg losging, kamen sie ins Lager und rekrutierten die, die kämpfen sollten. Zu uns kamen sie auch, aber als sie erfuhren, für welchen Paragraphen wir saßen, war's damit vorbei. Aber von den [anderen] Häftlingen sind viele gegangen. Es saßen da auch ehemalige Soldaten, die auf der Seite Russlands gekämpft hatten und wegen Straftaten verurteilt worden waren: Die einen hatten jemanden umgebracht, die anderen geplündert. Und sie zogen wieder in den Krieg.

Möchten Sie noch irgendeine Botschaft loswerden?

Wir müssen alle unsere Jungs rausholen. Mich rufen ihre Frauen an, ihre Mütter. Wenn ich mich schlafen lege, denke ich ständig daran, wie schwer sie es dort haben. Es sind Kranke dort: Es gibt einen älteren Mann, der schon drei Jahre lang mit einem Gehgestell herumläuft. Und internationale Organisationen tun absolut nichts. Das Rote Kreuz ist in dieser ganzen Zeit kein einziges Mal gekommen. Sieben Jahre Straflager in strengem Regime, das ist sehr viel, das muss man sich vor Augen führen. Ich möchte dazu aufrufen, dass sich vermittelnde internationale oder religiöse Organisationen in dieser Angelegenheit engagieren.

Ohne Freiheit stirbt der Mensch. Diese Menschen stehen psychisch schon am Abgrund. Ich verstehe, dass unsere Soldaten jetzt Priorität haben, aber man darf auch die Zivilisten nicht vergessen, die wegen nichts mitgenommen wurden, die einfach auf die Straße gegangen sind und gesagt haben: „Die Ukraine ist gut.“ Nein, sie haben etwas für diesen Staat getan, für uns, für diejenigen, die hier sind. Wir müssen sie da rausholen, wir dürfen sie nicht vergessen.

 

Quelle: https://khpg.org/ru/1608814005

 

 

 

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