Digest der russischen Proteste
31. Dezember 2022 bis 15. Januar 2023
In den nächsten Monaten veröffentlichen wir in dieser Reihe Zusammenfassungen über Protestaktionen, die in verschiedenen Formen, spontan oder organisiert, offen oder konspirativ, in ganz Russland gegen den Krieg stattfinden. Es geht darum, dass diese Stimmen wahrgenommen und nicht übersehen werden - verbunden mit der Hoffnung, dass diese Bewegung zunehmen wird. Seit März erscheinen diese Berichte bereits auf Ukrainisch und Englisch bei khpg.org.
Aktionen
Spontanes Mahnmal auf dem Ukrainischen Boulevard: In Moskau legten Unbekannte Blumen und Kinderspielzeug an das Denkmal der ukrainischen Dichterin Lesja Ukrajinka und stellten eine Fotografie des beim Angriff der russischen Streitkräfte in Dnipro zerstörten Hauses auf.
Eine unbekannte Aktivistin hinterließ gegenüber der Christ-Erlöser Kathedrale in Moskau die Aufschrift „Gundjaj, töte nicht?“ In dieser Kirche führt Patriarch Kirill, der vor der Annahme des Mönchtums Vladimir Gundjaev hieß, die Messe durch. Er unterstützt und rechtfertigt die russische Militäraggression in der Ukraine. Die Aktion endete damit, dass ein Plakat mit der Aufschrift „V.V. Chujlo“ [despektierlich für Putin] und gelb-blauen Herzen von der Krim-Brücke in die Moskva geworfen wurden.
Aufschrift gegenüber der Christ-Erlöser-Kathedrale
Es geht nicht unter
Russen gratulieren dem Präsidenten zum Neuen Jahr
Verfahren gegen Olesja Krivzova
Die 19-jährige Studentin Olesja Krivzova aus Archangelsk postete Beiträge über die Explosion auf der Krim-Brücke sowie pazifistische Posts in den Sozialen Medien und Reposts in einer geschlossenen Gruppe von Kommilitonen, wofür man sie am 10. Dezember auf die Liste der Extremisten und Terroristen setzte. Olesja Krivzova wurde vermutlich von einem Studenten ihrer Hochschule denunziert: Es tauchte ein Chat auf, in dem Geschichtsstudenten diskutierten, wohin man eine Anzeige am besten adressiert – an die Polizei oder gleich an den FSB. Am 26. Dezember drangen Polizisten in die Wohnung der Studentin ein, einer der Polizisten hielt einen Vorschlaghammer in der Hand. Später berichtete Krivzova Journalisten, der Polizist habe gesagt, der Vorschlaghammer sei „ein Gruß von der Gruppe Wagner“. Derzeit steht Olesja Krivzova unter Hausarrest. Ihr werden zwei Straftaten vorgeworfen: Wiederholte Diskreditierung der Armee sowie Rechtfertigung von Terrorismus.
Einzelkundgebungen
Aleksandr Fomitschev, Aktivist aus Kazan, veranstaltete zwei Anti-Kriegsaktionen: Am 3. Januar postierte er sich vor dem Gebäude des Ministerkabinetts in Tatarstan mit dem Plakat: „Ich, wir, für den Frieden.“ Am 5. Januar ging er mit dem Plakat „Die Alten erklären den Krieg, die Jungen aber sterben“ zum Kazaner Kreml. Aleksandr und seine Frau wurden von der Polizei verhaftet.
Anonyme Aktivisten führten Einzelkundgebungen mit einem Plakat „Waffenstillstand für immer“ an einer Kirche in Dubrovka (Gebiet Leningrad) durch. Zuvor hatte Patriarch Kirill die Kriegsparteien zu einem „Weihnachts-Waffenstillstand“ am 6. und 7. Januar aufgerufen. Putin erteilte einen entsprechenden Befehl, tatsächlich aber setzten die russischen Streitkräfte den Beschuss ukrainischer Gebiete fort.
Weitere Einzelkundgebung fanden in Novosibirsk, Jekaterinburg, Moskau, Voronesh und Burjatien statt.
In Jekaterinburg trug eine Aktivistin ein Plakat mit der Aufschrift „Ich bitte Väterchen Frost, den Krieg zu beenden! Russland und die Ukraine müssen in Frieden leben!“
In Burjatien führte eine unbekannte Person eine Einzelkundgebung durch mit dem Plakat „Burjatien, wach\' auf! Sage Nein zum Krieg!“
In Voronezh hielt ein Mann ein Plakat mit der Aufschrift „Man wird uns nicht verzeihen“ in die Höhe.
Partisanen-Aktionen
In der Stadt Bratsk im Gebiet Irkutsk warf ein Unbekannter ein Molotow-Cocktail auf eine der städtischen Rekrutierungsstellen und setzte diese in Brand.
In der Siedlung Magdagatschi im Gebiet Amur zündete ein Unbekannter ebenfalls das Einberufungsbüro an, indem er eine Flasche mit brennbarer Flüssigkeit durch ein Fenster warf.
In Tscheboksary wurde eine Z-Installation komplett zerstört. Bewohner hatten die Installation des Buchstaben Z bereits mindestens zweimal beschädigt. Daraufhin war die Installation aus dem Stadtzentrum gebracht und in der Peripherie aufgestellt worden, wo man sie endgültig demolierte.
In der Stadt Seja (Gebiet Amur) zerstörten Partisanen ein Propaganda-Banner.
Protest der Partei Jabloko
Emilia Slabunova, Abgeordnete der Partei Jabloko in Karelien, forderte bei einer Ausschuss-Sitzung der regionalen gesetzgebenden Versammlung, das Geld aus dem Staatshaushalt für den Bau von Schulen auszugeben und nicht für den Krieg. Auf Anzeige eines Abgeordneten von „Edinaja Rossija“ wurde gegen sie ein Ordnungsverfahren wegen „Falschmeldungen über die Russische Armee“ eingeleitet.
Des Weiteren schlugen Emilia Slabunova und eine weitere Jabloko-Abgeordnete, Inna Bolytschevskaja, vor, eine strafrechtliche Verfolgung von Aufrufen zum Einsatz von Atomwaffen einzuführen. Der Paragraph würde eine Geldstrafe von 100 000 bis 300 000 Rubel vorsehen, Besserungsarbeit oder Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren. Medien und Staatsangestellten könnten Strafen von bis zu einer Million Rubel oder bis zu fünf Jahren Gefängnis drohen.
Protest in der Kunst
Künstler und Künstlerinnen der Gruppe Praematerna, die nach eigenen Worten als Gegengewicht zum militaristischen Pathos entstanden ist, haben eine Anti-Kriegsaktion am Denkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs in Wolgograd durchgeführt. Die Aktivisten stellten sich beim Denkmal „Mutter Heimat ruft!“ mit der Aufschrift „Sie ruft nicht“ auf. Auf der Website der Gruppe wurde ein Kommentar zu der Aktion veröffentlicht: „Eine Mutter ruft nicht dazu auf, Unschuldige zu töten. Eine Mutter ruft nicht dazu auf, für fremde Interessen zu sterben. Eine Mutter schenkt Leben und sorgt sich um das Wohlergehen ihrer Kinder.“
Performance der Gruppe „Praematerna"
Im Frühjahr 2022 tauchte im Gebiet Moskau eine Hommage in Anlehnung an eine Arbeit der Gruppe „Kollektive Aktionen“ mit dem Titel „Losung 1977“ auf. Auf einem zehn Meter langen roten Banner hatte die Gruppe 1977 den Satz „Ich beklage mich über nichts und mir gefällt alles, obwohl ich niemals hier war und nichts über diese Orte weiß“ zwischen zwei Bäume gespannt. Dieses Mal hatten Aktivisten die Losung ebenfalls auf ein rotes Banner gefasst und folgendermaßen abgeändert: „Ich heule auf vor Schmerz und es gefällt mir absolut nicht, obwohl ich hier lebte und aufgewachsen bin und dachte, ich wüsste alles über diese Orte.“ Am 9. Januar 2023 veröffentlichte eine Künstlerin eine Fotografie der Aktion anonym auf Instagram mit dem Kommentar: „Im März 2022 wurde unser Schmerz über den blutrünstigen Krieg in Form einer Hommage-Aktion in die Außenwelt getragen. (Einfach gesagt: Diese Hommage ist ein Nachahmungswerk).“
„Ich beklage mich über nichts und mir gefällt alles, obwohl ich niemals hier war und nichts über diese Orte weiß.“
„Ich heule auf vor Schmerz und es gefällt mir absolut nicht, obwohl ich hier lebte und aufgewachsen bin und dachte, ich wüsste alles über diese Orte.“
Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker
9. Februar 2023