Nachstehend veröffentlichen wir einen im Februar bei OVD erschienenen Bericht in leicht gekürzter Fassung.
Nach Schätzungen des OVD-Info Projekts „Neotlozhka“ [Bereitschaftsdienst] benötigen derzeit mehr als 160 politische Gefangene medizinische Hilfe in unterschiedlichem Maße. OVD-Info hat versucht herauszufinden, warum es um die medizinische Versorgung im Föderalen Strafvollzug so schlecht bestellt ist und ob dahinter böswillige Absicht oder ein unzulängliches System steckt.
Die Geschichte von Igor Baryschnikov, dessen Gesundheitszustand sich in Haft weiterhin permanent verschlechtert, wurde weithin bekannt. Baryschnikov, der wegen „Falschmeldungen über die russische Armee“ (Art. 207.3 StGB RF) verurteilt wurde, beginnt zu erblinden, er benötigt dringend ärztliche Hilfe, die ihm nicht gewährt wird.
„Sein Sehvermögen auf einem Auge hat sich stark verschlechtert, er sieht noch zu 5 Prozent. Er kann sich nicht weit von der Toilette weg bewegen. Sie haben ihn operiert und an der Stelle, wo der Schlauch saß, hat sich eine Fistel gebildet, die ständig nässt. In seiner Gemeinschaftszelle schlafen 50 Personen, es gibt ein Waschbecken. Wie soll er die Fistel auswaschen? Es kann jederzeit zu einer Infektion und zu allem möglichen kommen“, berichtet die Baryschnikovs Anwältin Marija Bonzler.
Am 22. Juni 2023 war Baryschnikov zu siebeneinhalb Jahren Lagerhaft in allgemeinem Vollzug verurteilt worden. Nach der Überstellung ins Lager befand er sich in einem kritischen Gesundheitszustand: Er hatte starke Schmerzen, wegen Pilzbefalls wurden seine Hände schwarz. Hilfe erhielt er erst nach einer groß angelegten öffentlichen Kampagne. Im Februar 2024 weigerte sich das Lager, Medikamente für Baryschnikov entgegenzunehmen und im April teilte die Anwältin mit, dass das Strafvollzugssystem ihren Klienten nicht mit Medikamenten versorgen kann. Bonzler berichtet, Anwälte hätten sich an den UN-Menschenrechtsausschuss gewendet, dank der UN-Intervention konnte Baryschnikov operiert werden.
„Die UNO forderte von Russland unverzügliche Maßnahmen zur Behandlung Baryschnikovs. Können Sie sich diesen Albtraum vorstellen? Um einen Menschen im Gefängnis zu behandeln, muss man sich an den UN-Menschenrechtsausschuss wenden... Anderthalb Jahre ließen sie den Harnkatheter drin, das darf man nicht so lange. Natürlich kam es in dieser Zeit zu einer Vergiftung der Nieren und des ganzen Organismus“, sagt Bonzler.
OVD-Info sind bis zum Januar 2024 mindestens 160 politische Häftlinge bekannt, die nicht rechtzeitig ärztliche Hilfe erhalten haben. Ihr Leben und ihre Gesundheit sind wegen unmenschlicher Behandlung und schlechter Bedingungen in Gefahr. Nach Meinung von Marija Bonzler verhält sich die medizinische Leitung gerade politischen Häftlingen gegenüber besonders schlecht. Im Dezember startete das Projekt „Gesichter des russischen Widerstands“ eine Kampagne zur Freilassung von 120 schwerkranken politischen Gefangenen. Die Aktivisten rufen dazu auf, eine Petition zu unterschreiben und beabsichtigt, führende Politiker der Welt um Hilfe zu bitten.
Um Medikamente steht es schlecht, die Ausstattung ist schlecht, Geld gibt es immer weniger
Im ganzen Land gibt es in den Strafvollzugs-Einrichtungen Probleme mit der medizinischen Versorgung, häufig fehlt es an Ärzten und Medizin. Die Gesundheit der Häftlinge wird in den Lagern, in der Untersuchungshaf und während des Transports ruiniert.
Nach Angaben von „Jesli byt totschnym“ [Um genau zu sein] verstarben im Jahr 2021 in Haft 1.917 Menschen (80 % aller Todesfälle). Im Ganzen ist die Sterblichkeit unter russischen Häftlingen doppelt so hoch wie im europäischen Durchschnitt und sie steigt weiter. 2023 konstatierte der Föderale Strafvollzug eine Rekordzahl an Todesfällen infolge von Kreislauferkrankungen. Solche Diagnosen werden erstellt, um die realen Todesgründe zu vertuschen, merkt die Menschenrechtsorganisation „Rus sidjaschtschaja“ [Russland hinter Gittern] an.
In diesem Jahr hat Russland zur Unterhaltung eines Häftlings 600 Rubel am Tag (ca. 6,15 Euro) ausgegeben – die geringste Summe von allen europäischen Ländern. 70 % davon gingen für die Gehälter der Gefängnismitarbeiter ab. Die Ausgaben für Ernährung, Medizin, Kommunale Dienste und für die Bereitstellung von notwendigen Gegenständen betrugen zusammen 27 %.
Die Probleme mit der medizinischen Versorgung betreffen alle Verurteilten, einschließlich derer, die wegen politischer Verfahren einsitzen.
Am 11. November 2024 verstarb der 68-jährige Zeuge Jehovas Aleksandr Lubin, der wegen „Organisation einer extremistischen Vereinigung“ (Art. 282.2 /1 StGB RF) verurteilt worden, auf der Intensivstation. Als er starb, war er schon in Freiheit, allem Anschein nach jedoch hatten die anderthalb Monate in Haft seine Gesundheit ruiniert.
Im Juni 2024 verstarb im Lager in Krasnojarsk der 62-jährige Igor Pokusin, ehemaliger Pilot aus Abkan. Der Mann hatte einen Stent im Herzen und zwei Gelenk-Prothesen, man hatte ihn wegen „Vorbereitung zum Staatsverrat“ (Art. 275-3, Abs. 30) zu acht Jahren Haft verurteilt.
Am 16. Februar war der Oppositionspolitiker Aleksej Navalnyj im Straflager gestorben. Seine Angehörigen und Mitstreiter sind sich sicher, dass er ermordet wurde. Er selbst hatte schon 2021 darüber geklagt, dass er wegen Rückenschmerzen nicht sitzen könne, er aber in Lager keine Medikamente und auch keine Diagnose bekäme. 2023 hatte Aleksej Navalnyj ein halbes Jahr vergeblich um einen Zahnarzttermin gekämpft, er litt in der Straf-Isolationszelle unter Fieber und Husten.
In den letzten sechs Jahren sind von 12 Physikern, die wegen Staatsverrats verhaftet worden waren, drei verstorben: der krebskranke Roman Kovalev eine Woche nach seiner Freilassung, Dmitrij Kolker zwei Tage nach seiner Verhaftung, Viktor Kudrjavzev anderthalb Jahre, nachdem er über ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hatte.
OVD-Info hat über die Probleme mit der medizinischen Versorgung im russischen Strafvollzugssystem mit der Aktivistin und ehemaligen leitenden Spezialistin für Moskau, Anna Karetnikova, gesprochen. Seit 2016 suchte sie Untersuchungsgefängnisse auf und bemühte sich, die Probleme von Inhaftierten und Verurteilten zu lösen. Im Januar 2023 wurde sie von der Arbeit suspendiert. Kollegen warnten, es sei nicht sicher für sie, in Russland zu bleiben, und so verließ Karetnikova das Land.
Sie erzählt, dass sie sich an keinen Fall außer den von Aleksej Navalnyj erinnern kann, bei dem der Gesundheitszustand eines politischen Gefangenen benutzt wurde, „um ihn zu schikanieren“.
„Sie haben Gorinov nicht aus Schikane keine Medikamente gegeben, bevor ich mich eingemischt habe und die Öffentlichkeit Rabatz gemacht hat, sondern einfach so. Warum soll man jemandem helfen, wenn man es auch lassen kann? Alle sind daran gewöhnt: Der Arzt hat keine Zeit, und Medikamente gibt es nicht. Und der da soll sich auch daran gewöhnen. Aber das ist keine gezielte Schikane“, glaubt die Aktivistin.
Dennoch ist nach ihren Worten das gesamte medizinische Versorgungssystem im Strafvollzug in einem fürchterlichen Zustand und müsse von Grund auf erneuert werden: „Sogar in Moskau gibt es nicht in jeder medizinischen Abteilung einen Chirurgen. Um Medikamente steht es sehr schlecht. Mit jedem Jahr gibt es, soweit mir bekannt ist, immer weniger Geld aus dem Haushalt für Medikamente. Die Ausstattung ist schlecht. Was haben wir gekämpft, um ein CT- Gerät oder ein MRT zu bekommen, wenigstens im Gefängnis 'Matrosskaja Tischina', es war nichts zu machen. Deshalb muss man, wenn ein Kranker eine Behandlung benötigt, sich mit einem zivilen Krankenhaus absprechen und die mögen dort kein Sonderkontingent [mit Gefangenen]“, sagt Karetnikova.
Im Untersuchungsgefängnis „Matrosskaja Tischina“ quält sich auch der Dichter Artjom Kamardin mit Rückenschmerzen, Er hatte bei den „Majakovskij-Lesungen“ gegen die Mobilisierungen Gedichte vorgetragen. Dafür war er zu sieben Jahren Haft verurteilt worden und erhält keine Behandlung.
Es wird im Übrigen im Strafvollzug nicht gern gesehen, wenn Angehörige für die Gefangenen etwas mitbringen. „Wenn ein Gefängnisarzt Tabletten entgegennimmt, die fehlen, wird man ihm sofort Vorhaltungen machen und Fragen stellen“, erklärt Karetnikova. „Wir verstehen das nicht, alle haben Medikamente und du nicht? Wo hast du die hingeschafft? Du willst wohl ins Gefängnis?“, heißt es. „Aber niemand hat welche. Deshalb liegen für alle Kommissionen und Staatsanwälte in den medizinischen Abteilungen Verpackungen herum. Aber wenn man darum bittet, eine zweite zu zeigen, geht es los. Es wird versucht, den Mangel zu verbergen und die Verantwortung abzuschieben“, sagt sie
Aber es gibt auch positive Erfahrungen. Eine Freiwillige, die einen Lagerhäftling unterstützt, erzählte OVD-Info, wie sie ein bürokratisches Problem überwand, als die Unterstützergruppe ein Päckchen mit Medikamenten und ein weiteres medizinisches Paket gleichzeitig verschickte, obwohl dies nicht erlaubt ist. „Ich habe sehr oft bei der Annahmestelle für Pakete angerufen. In allen Abteilungen waren die Leute sehr respektvoll, niemand verhielt sich grob. Ich habe mich darüber gewundert und wirklich gefreut. Und sie baten mich sogar selbst darum, dass ich anrufe, und unterstützten das“, berichtet die Freiwillige.
„So darf man niemanden behandeln: Man wird zu Lagerhaft verurteilt und nicht zu Folter.“
Die Zeitschrift „Beiträge des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts des Föderalen Strafvollzugs (FSIN) Russlands“ schreibt, die medizinisch-sanitären Bereiche im Strafvollzug arbeiteten effektiv, sei doch seit 2015 die Gesamtsterblichkeit und die Sterblichkeit durch Krankheiten um mehr als 12 % gesunken. Analysten bestätigen in ihren Artikeln ,,dass die medizinische Versorgung in Haftanstalten seit 2015 leichter zugänglich und qualitativ besser ist.
Im Januar schrieb der Wissenschaftler und Aktivist Gregori Winter, der wegen Anti-Kriegskommentaren zu drei Jahren verurteilt wurde, Vladimir Putin einen Brief mit der Bitte um Euthanasie. Er ist sich sicher, dass ihn im Lager ohne Zugang zu Insulin ein „höchst qualvoller Tod“ erwartet: „Für Untersuchungsgefängnisse wird in Russland im Prinzip kein Insulin gekauft, es gibt keines, man soll sich wohl mit seinem eigenen Insulin in Haft begeben. Wo man es unter den Haftbedingungen herbekommen und wie man die Angehörigen kontaktieren soll, darüber schweigt die Geschichte. Ich denke, wenn Diabetiker zu langen Haftstrafen verurteilt werden, ist das für sie ein Todesurteil“, sagte Winter 2023.
Im Juni 2024 klagte er, dass er innerhalb von fünf Monaten in Untersuchungshaft keine einzige Tablette vom Staat bekommen habe und man ihm nicht gestatte, eine Kommission zur Bestätigung seiner Behinderung zu durchlaufen. Im April musste er einen Spritzenstift mit Insulin auf dem Boden zerschlagen, um zu einem Arzt gelassen zu werden. Derzeit befindet sich Winter in einem Straflager im Gebiet Kirov, wo er kein Insulin erhält, die Unterstützergruppe organisiert die Übergabe der Medikamente. Jeden Monat bringt sie persönlich das Insulin, weil die Übergabe nicht auf Vorrat erfolgen darf.
Der ehemalige Stadtverordnete Aleksej Gorinov, der eine Strafe von sechs Jahren und elf Monaten in einem Straflager in allgemeinem Regime wegen Anti-Kriegskommentaren absitzt, wurde am 29. November 2024 erneut verurteilt. Der 63-jährige Gorinov erhielt eine erneute Strafe von drei Jahren in strengem Regime wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“ (Art. 205.2. StGB) bei Gesprächen mit anderen Häftlingen. Gorinov hat eine Lungenentzündung durchgemacht und ist an Tuberkulose erkrankt, mehrfach klagte er bereits über fehlende medizinische Behandlung. Im Dezember 2023 wendete sich sogar eine Menschenrechtsorganisation an den UN-Sonderberichterstatter, um auf die Gefährdung von Gorinovs Leben hinzuweisen.
Ein Jahr später beschrieb die Organisation den typischen Weg eines schwerkranken Häftlings zum Arzt. Der an Leukämie erkrankte Aleksandr Rybakov beispielsweise aus dem Lager IK-9 im Gebiet Perm kam erst nach acht Monaten in bereits weit fortgeschrittenem Stadium seiner Krankheit in ein Zivilkrankenhaus.
Anna Karetnikova bestätigt, wie schwer es ist, einen Häftling für eine Untersuchung aus dem Gefängnis herauszuholen: „Man kommt an, ist zehn Minuten verspätet und muss dann nochmals zwei Monate warten. Und so ist dann der Kranke bereits im vierten Stadium seiner Krebserkrankung wie der Dichter und politische Häftling Sachar Saripov“, sagt Karetnikova.
In medizinischen Einrichtungen werden die Häftlinge häufig unter Gefängnisbedingungen untergebracht. Marija Bonzler berichtet, wie man Igor Baryschnikov zur Operation in ein regionales Krankenhaus brachte und ihm drei Bewacher ins Krankenzimmer stellte.
„Was soll das? Er ist doch kein Mörder und kein Vergewaltiger. Er hat einfach nur etwas im Internet geschrieben. Oft fesselt man Häftlinge mit Handschellen ans Bett. Nikolaj Senzov war mit einem Schlaganfall in Handschellen! So darf man niemanden behandeln: Man wird zu Lagerhaft verurteilt und nicht zu Folter“, sagt sein Anwalt.
„Solange man sich nicht in Krämpfen windet, wird man nicht beachtet.“
Am 26. November ersetzte das Berufungsgericht die fünfjährige Haftstrafe des Schriftstellers Sachar Saripov für seinen Beitrag über Ramsan Kadyrov durch eine Geldstrafe von 350.000 Rubel [ca. 3.811,-Euro], am 29. November ließ man ihn frei. Der Mann befand sich seit Januar 2023 in Haft und klagte seit September über einen wachsenden Tumor, doch erst im Februar 2024 gestattet man eine Untersuchung, im September bestätigten die Ärzte Krebs der Ohrspeicheldrüse im vierten Stadium. Ende Oktober wurde Saripov operiert und in die Untersuchungshaftanstalt zurückgebracht. Der Tumor war in angrenzendes Gewebe eingewachsen, die rechte Gesichtshälfte gelähmt und die Koordination des rechten Arms beeinträchtigt. Im November wurde bekannt, dass er sein Augenlicht verliert.
Die Staatsanwaltschaft, das Büro des Menschenrechtsbeauftragen sowie der Föderale Strafvollzugsdienst des Gebiets Chabarovsk teilten dem Anwalt von Saripov mit, dass sie „kein Recht hätten“, ihn in Untersuchungshaft festzuhalten, ihn aber auch nicht freilassen könnten, weil das Militärbezirksgericht und das Militärberufungsgericht „nicht auf ihre Anträge reagieren“. Darüber hinaus hatte das Appellationsgericht eine Berufung gegen die Verurteilung mehr als sechs Monate lang nicht geprüft.
Am 15. Oktober wurde Aleksej Moskalev, der wegen „wiederholter Diskreditierung der Armee“ (Art. 280.3 StGB RF) verurteilt worden war, auf freien Fuß gesetzt. Die Sicherheitskräfte waren wegen einer Anti-Kriegszeichnung seiner Tochter auf ihn aufmerksam geworden; OVD-Info und Memorial hatten ausführlich über den Fall berichtet. Das Sehvermögen des Mannes wurde während der Lagerhaft ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen. Wie Moskalev gesteht, habe er nicht damit gerechnet, seine Freilassung noch zu erleben, denn in Haft seien die Bedingungen so beschaffen, dass man „krank wird, die Krankheit irgendwie übersteht und dann stirbt.“
„Es gibt dort praktisch keine medizinische Versorgung, es ist fast unmöglich, den Arzt (der Strafkolonie Nr. 6 in Novomoskovsk) zu erreichen. Er ist ein älterer Mann, in den 70ern, der die Insassen nicht einmal anschaut. Wenn man das Glück hat, in sein Büro zu gelangen, setzt er sich hin und sagt mit Blick auf den Tisch: „Nachname. Worüber beklagst du dich? Was tut weh?“, erinnert sich Moskalev. Als der Anwalt die Konsultation des politischen Gefangenen bei einem Augenarzt im Regionalkrankenhaus von Tula erreichte, wurde dieser in Handschellen und an einer Kette von vier Personen eskortiert. Moskalev sah, dass die Menschen im Wartebereich ihn „wie einen Aussätzigen“ anschauten.
Am 29. Mai 2024 unterzeichnete der russische Präsident Vladimir Putin ein Gesetz über die sofortige Freilassung schwerkranker Häftlinge unmittelbar nach einem Gerichtsurteil. Anna Karetnikova bezeichnete diese Entscheidung als eine absolut technische Norm ohne jegliche Aussagekraft: „Ein Nachweis gestaltet sich schwierig. Solange ein Mensch nicht anfängt, sich in Krämpfen zu winden, kümmert es niemand. Aber wenn sie das Gefühl haben, dass er jetzt sterben könnte und die Statistik verderben, dann fangen alle sofort an zu telefonieren, rennen durch die Gänge und lassen sogar ihren Tee stehen“, so Karetnikova.
Wie sie erklärte, ist es gefährlich, schwerkranke Gefangene zu entlassen, dafür könnten Ärzte selbst ins Gefängnis gesteckt werden. Die Menschenrechtsaktivistin erinnerte an den Fall von Dr. Alexander Kravtschenko, der 2023 zu sieben Jahren Lagerhaft im allgemeinen Vollzug verurteilt worden war. Der Leiter des größten Gefängniskrankenhauses des Landes in der Untersuchungshaftanstalt Matrosskaja Tischina wurde für schuldig befunden, Verurteilten und Personen, gegen die ermittelt wurde, fiktive Diagnosen gestellt zu haben. Der Arzt wandte ein, er habe nur seine ehrliche Arbeit getan und Leben gerettet.
„In Moskau haben sie danach für eine gewisse Zeit aufgehört, überhaupt tätig zu werden und jetzt tun sie es nur mit Ach und Krach, alle haben Angst. Es soll so laufen, dass man dankbar stirbt, wünschenswerter Weise innerhalb eines Monats nach der Freilassung. Wenn man nicht stirbt, sondern weiter herumspaziert, ist der Arzt erledigt“, beschreibt Karetnikova die Situation.
Im Januar starb Sergej Nevorotin, der wegen „Falschmeldungen aus politischem Hass“ (Art. 207.3, Abs. 2 StGB) zu sechs Jahren verurteilt worden, war im Krankenhaus. Nevorotin war über ein Jahr in Untersuchungs- und in Lagerhaft. Dann erließ man ihm im September 2024 die Strafe, weil er sich im vierten Stadium einer Krebserkrankung befand, seine letzten Tage verbrachte Sergej in sediertem Schlaf.
Ein Anwalt von OVD-Info und Juristen des Projekts „Neotlozhka“ halfen dem Mann [die Krankheit] zu bescheinigen. Nach ihren Worten unterstützten Ärzte und Administration die schnelle Freilassung Nevorotins, nachdem die Krankheit festgestellt worden war.
Sie reagieren nur auf Druck von außen
Nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine [2022] und der massenhaften Anwerbung von Häftlingen blieb die Situation mit ihrer Behandlung weiterhin frustrierend wie gehabt oder verschlechterte sich gar. Karetnikova zitiert Gespräche aus ihrer aktiven Dienstzeit im Strafvollzugsdienst nach dem Motto: „Was für Tabletten sollen wir den Häftlingen denn geben? Alle Tabletten sind an der Front.“
„Die Situation war schlecht und bleibt schlecht, das hat mit dem Krieg gar nichts zu tun. Wenn es weniger Häftlinge gibt, bedeutet das nicht, dass die Ärzte angefangen haben, besser zu arbeiten“, sagt Asmik Novikova, Leiterin der Forschungsprogramme bei „Obschtschestvennyj Verdikt“ (Public Verdict). „Immer noch gibt es nicht ausreichend Medikamente und Ausstattung, es gibt Probleme mit dem Zugang zu Öffentlichen Krankenhäusern und die Gleichgültigkeit der Gefängnisärzte. Sie sind manchmal sogar stärker deformiert als die Mitarbeiter des Strafvollzugssystems“, betont Karetnikova.
Nach einer Reform 2014 sind Ärzte nun keine direkten Angestellten der Lager und Haftanstalten mehr, sondern in den vertikalen medizinischen Dienst innerhalb des Strafvollzugs eingebettet. „Es kann vorkommen, dass die Leitung einer Haftanstalt darum bittet, jemanden zu behandeln und der Arzt sagt: 'Mach ich nicht, ich bin dir nicht unterstellt, ich geh jetzt Tee trinken.‘ Und jetzt sabotieren Ärzte und Leitung den Prozess einvernehmlich und reagieren nur bei öffentlicher Resonanz“, so Karetnikova.
Am 30. November 2024 erhielt Valerija Sotova, verurteilt wegen Brandstiftung an einem Verwaltungsgebäude nach Provokation durch den FSB, erst dann eine Krankenhauseinweisung und die erforderlichen Medikamente, nachdem das Problem öffentlich gemacht worden war. Den Dichter Vjatscheslav Malachov, verurteilt zu zwei Jahren wegen „wiederholter Diskreditierung der Armee“ (Art. 280.3., Abs. 1 StGB), brachte man zum Zahnarzt, nachdem sich eine Unterstützergruppe über die zweiwöchige Untätigkeit der Ärzte beschwert hatte. Karetnikova betont, dass Veröffentlichungen über gesundheitliche Probleme den Häftlingen nützt und nicht schadet, im Gegensatz zu anderen problematischen Fragen im Strafvollzug.
Auch im Fall von Igor Baryschnikov, den sogar der Lagerleiter zu sich rief und ihn als YouTube-Star bezeichnete, half die Öffentlichkeit. Jedoch führt ein Besuch beim Arzt bei weitem leider nicht immer zu einem positiven Resultat. So erhielt der Saxofonist Andrej Schabanov während seiner Verhandlung wegen „Aufruf zum Terrorismus“ (205.2 Teil 2 StGB RF) zwar nach Veröffentlichungen in den Medien ärztliche Hilfe, jedoch konnte man ihm im Gefängniskrankenhaus nicht helfen, die Behandlung zeigte keinerlei Ergebnisse und man brachte ihn zurück in die Haftanstalt.
Am 3. Dezember 2024 konstatierte eine Ärzte-Kommission, es gäbe keinen Grund, Schabanov aus der Haft zu entlassen. Am 5. Februar 2025 wurde er zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt.
Wie weiter?
Anna Karetnikova kann nicht prognostizieren, was mit den Gefängnissen nach dem Ende des Krieges gegen die Ukraine geschehen wird. Ihrer Meinung nach wird es Veränderungen geben, aber es ist nicht klar, in welche Richtung. Auch bei der medizinischen Versorgung sieht sie keinen schnellen Weg zur Verbesserung der Situation „Wie soll man das System verbessern? Indem man sich in ein Estland verwandelt, wo Gefängnisse geschlossen werden. Mit kleinen Schritten kommt man nicht weiter, denn wenn das ganze System sich nur mit der Erstellung von Berichten beschäftigt und nicht mit der Hilfe für die Kranken, was kann man dann ändern? Medikamente für Gefängnisse bereitstellen? Niemand wird sie den Gefangenen geben. Sie werden sparen, für den Fall, dass eine Inspektion kommt“, sagt Karetnikova.
Das gesamte russische Gefängnissystem existiere um seiner selbst willen, nicht um der Menschen willen, die darin sind, sagte sie. In den 1990er bis 2000er Jahren habe der FSIN versucht, sich an Europa zu orientieren, habe aber nur gelernt, zu imitieren, sagt Karetnikova. Als sie in Moskau arbeitete, habe man sogar Yogakurse und ein 12-Schritte-Programm für inhaftierte Drogenabhängige eingeführt: „Aber dann feuerten sie alle Mitarbeiter, die es sich erlaubten, mit der Presse und mit Menschenrechtsaktivisten zu reden. Das war das Ende, ungefähr zu der Zeit, als die Invasion in der Ukraine begann“, bedauert sie.
Auch Asmik Novikova bestätigt, dass es für diese komplexen Probleme keine einfachen Lösungen gibt: „Der Föderale Strafvollzugsdienst wird sich nicht von selbst reformieren, dazu braucht es eine Entscheidung der Behörden. Erst gibt es einen Skandal, dann gibt es einen öffentlichen Aufschrei, und danach beginnen die Behörden, etwas zu verändern. Das geschieht in jedem Land genau nach diesem Muster. Wir warten also auf die nächsten abscheulichen Fälle im Zusammenhang mit der Gefängnismedizin, damit sich etwas in Bewegung setzt.“
Im April 2023 veröffentlichte „Obschtschestvennyj Verdikt“ einen Bericht über den Zustand der medizinischen Versorgung im Strafvollzug und gab drei wichtige Empfehlungen zu deren Reform ab. Die Aktivisten halten es für notwendig, die Gefängnismedizin vollständig aus der Strafvollzugsbehörde auszugliedern und sie dem Gesundheitsministerium zu übertragen, außerdem Verfahren für die medizinische Versorgung zu vereinfachen und den Grundsatz der „Erschöpfung“ aufzugeben. Nach diesem Prinzip wird die Verwaltung erst dann versuchen, eine Behandlung außerhalb des Lagers zu organisieren, wenn sie überzeugt ist, dass eine Person in ihrem System nicht geheilt werden kann. Und das ist sehr schlecht, weil es in der Regel bedeutet, dass die Krankheit extreme Formen annehmen muss“, erklärt Novikova.
Sie betont, dass Menschenrechtsaktivisten die Probleme in den Gefängnissen nicht lösen können und dass die Stiftung seit 2012, nach der Verabschiedung des „Agenten“-Gesetzes keinen Kontakt mehr mit den Vollzugsbehörden hat. „Es wurde ihnen tatsächlich jegliche Kommunikation untersagt. Niemand kann sie dazu verpflichten, das zu tun, was wir für notwendig halten“, sagt Novikova. Maria Bonzler ist der Ansicht, dass es zunächst notwendig ist, den Gefangenen zivile Medizin zur Verfügung zu stellen. Dies sei erforderlich, um helfen zu können, bevor es zu spät ist.
„Die medizinische Versorgung im Gefängnis selbst reformieren zu wollen, ist sinnlos“, so die Juristin.
Alexej Belkin
Quelle:
Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker
11. Februar / 31. März 2025