Die Unterstützung politischer Gefangener wird fortgesetzt
Am 5. April dieses Jahres wurde die Gerichtsentscheidung, die die Auflösung des Menschenrechtszentrums Memorial anordnete, rechtskräftig.
Das Menschenrechtszentrum (MZ) hatte eine Reihe wichtiger Projekte durchgeführt, darunter die Programme „Brennpunkte“, „Migration und Recht“, „Verfolgung von Muslimen“, „Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“ und etliche weitere. Von 2009 bis zum Februar 2022 erstellte es eine Liste politisch Verfolgter, die laufend aktualisiert wurde.
Jetzt wird an Stelle des aufgelösten MZ ein neues Menschenrechtsprojekt gestartet. Es soll die Bezeichnung „Unterstützung für politische Gefangene. Memorial“ tragen. Über die Anerkennung inhaftierter Personen als politische Gefangene wird ein Expertenrat entscheiden, der auch diese Listen führen wird. In diesem Rat werden sowohl ehemalige Vorstandsmitglieder des MZ als auch andere renommierte russische Menschenrechtler mitarbeiten. Es wird auch eine neue Website eingerichtet. Bis es so weit ist, werden die sozialen Medien genutzt.
Vera Vasileva hat mit Sergej Davidis, Mitarbeiter des MZ, über diese Pläne und die Umsetzung des Projekts gesprochen.
Vera Vasileva: Zu den wichtigsten Arbeitsgebieten des Menschenrechtszentrums Memorial gehörte die Unterstützung politischer Gefangener in Russland. Verzeichnisse politischer Gefangener wurden erstellt und laufend aktualisiert, man besorgte ihnen Rechtsbeistand, leistete materielle Unterstützung, korrespondierte mit ihnen und vieles mehr. Wird es möglich sein, diese Arbeit fortzusetzen, nach dem das MZ per Gerichtsbeschluss aufgelöst wurde? Oder werden die politischen Gefangenen jetzt ohne Unterstützung bleiben? Das ist eine beängstigende Vorstellung – die meisten von ihnen haben ja nicht einmal die Möglichkeit, sich einen Anwalt zu besorgen.
Sergej Davidis: Da es das MZ Memorial nicht mehr gibt, können seine Programme natürlich nicht weitergeführt werden. Aber die Existenz von Memorial International und des MZ und ihre diversen Arbeitsgebiete sind ja dadurch bedingt, dass in der Gesellschaft ein entsprechender Bedarf besteht. Unsere Arbeit wird also weiter gehen, nur nicht mehr im Rahmen des MZ. Wir haben eine Organisationsform ins Leben gerufen, die nicht staatlich registriert ist, das unabhängige Menschenrechtsprojekt „Unterstützung für politische Gefangene. Memorial“, das diese Arbeit fortführt, nur organisatorisch und administrativ selbstständig. Da es gerade bei der Zusammenstellung dieser Listen auf die Autorität der Experten ankommt, die die Einstufung als politische Gefangene vornehmen, sowie auf ein transparentes, eindeutiges und allgemein akzeptiertes Verfahren, wird die bisherige bewährte Praxis beibehalten.
Das heißt, wir führen die Listen des MZ weiter, aktualisieren sie und fügen neue Personen hinzu, die leider jeden Tag dazu kommen, und gehen dabei so vor wie bisher. Zugrunde liegt die Definition des „politischen Gefangenen“, wie sie die Parlamentarische Versammlung des Europarats 2012 formuliert hat, und der Leitfaden, der aufgrund dieser Resolution entwickelt wurde. Er ist auf der Website des MZ publiziert, die zwar nicht mehr aktualisiert wird, aber als Archiv erhalten bleibt, alle Dokumente sind dort noch vorhanden. Wir werden jetzt eine neue Website erstellen, das wird aber noch einige Zeit dauern. Einstweilen veröffentlichen wir unsere Informationen in den sozialen Netzen – Telegram, Facebook, Twitter.
Vera Vasileva: Es gibt also eine Kontinuität zwischen dem alten MZ Memorial und dem neuen Projekt „Unterstützung für politische Gefangener. Memorial“?
Sergej Davidis: Ja, in vier Richtungen: Erstens hat der Vorstand (Rat) des Menschenrechtszentrums wie auch dieses selbst uns vor der Liquidierung mit dieser Arbeit betraut und beauftragt, diese selbstständig zu betreiben (mich persönlich als Leiter dieses Programms im MZ bzw. jetzt dieses unabhängigen Projekts). Zweitens setzen die Personen, die bisher damit befasst waren, zum größten Teil diese Arbeit fort, nur eben nicht mehr im Rahmen des MZ. Drittens bleiben Methode und Ansatz in der Arbeit unverändert. Viertens – da die Entscheidung über Anerkennung von Personen als politische Gefangene bisher beim Vorstand des MZ lag, der jetzt nicht mehr existiert, wird diese Funktion jetzt von einer Gruppe renommierter russischer Menschenrechtler übernommen. Zum Teil gehörten diese bereits dem Vorstand des MZ an, aber nicht alle.
Da die Staatsanwaltschaft uns in ihrem Antrag auf Auflösung des MZ auch der „Rechtfertigung des Terrorismus“ bezichtigt hatte, einzig weil wir einige Personen als politische Gefangene anerkennen, die wegen unterstellter terroristischer Verbrechen verurteilt wurden, werden wir die Liste unserer Experten aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlichen. Aber innerhalb der russischen Menschenrechtsgemeinschaft ist klar, dass die Kontinuität bewahrt bleibt. Das Wichtigste - die Informationsarbeit – wird fortgesetzt, d. h. die Erstellung der Verzeichnisse, die Sammlung und Verbreitung von Informationen über politische Verfolgungen, die „Lobbyarbeit“ –d. h. wir lenken in Russland und weltweit die Aufmerksamkeit auf die politischen Verfolgungen und das Schicksal der politischen Gefangenen in Russland und den öffentlichen Kampf um ihre Rechte.
Vera Vasileva: Ist denn jetzt auch materielle Hilfe für politische Gefangene möglich, wie sie das Menschenrechtszentrum früher geleistet hat?
Sergej Davidis: Wir wollen natürlich auch die eigentliche Hilfe für politische Gefangene fortsetzen, aber das wird jetzt auf informelle Weise gemacht, ohne Mitwirkung juristischer Personen wie es seinerzeit das Menschenrechtszentrum war. Diese Möglichkeit haben wir jetzt nicht, aber wir werden neue Methoden eruieren, auch diese Arbeit möchten wir weiterführen. In Russland gibt es trotz aller Rückschläge dennoch eine ziemlich starke Zivilgesellschaft, formelle und informelle Vereinigungen, die Geld sammeln, juristische Unterstützung leisten und bezahlen und den Opfern politischer Verfolgung humanitäre Unterstützung leisten.
Das Alleinstellungsmerkmal unserer Tätigkeit liegt in der Erstellung der Verzeichnisse politischer Gefangener (für Russland sowie für das Ausland), die zuverlässige Mindestangaben über die Art der politischen Verfolgungen, meistens in Form von Freiheitsentzug, enthält. Damit befasst sich sonst niemand, und das ist die Arbeit, in der wir über sehr viel Erfahrung verfügen, die Vertrauen genießt und die wir in Anbetracht zunehmender Verfolgungen fortführen müssen. Unmittelbare Hilfe ist ebenfalls sehr wichtig, aber hier stehen wir nicht allein und sind auch nicht federführend. Viele Initiativen in Russland zur Unterstützung politischer Gefangener sind allgemein bekannt, und wir hoffen, dass das auch so bleiben wird und wir uns daran auch beteiligen können.
21. April 2022