Wohin sind die tschetschenischen Al-Quaida-Kämpfer verschwunden?

(04.03.2002)
Kommersant - LeTemps.ch

Ou sont passes les combattants tchetchenes d`Al-Qaida?
Wohin sind die tschetschenischen Al-Quaida-Kämpfer verschwunden?
Retour sur une enigme
Das Geheimnis bleibt ungelöst

Samuel Gardaz
Russ. Übersetzung Fedor Kotrelev
Deutsche Übersetzung Marlen Wahren

Seit dem Fall des Taliban-Regimes im November vergangenen Jahres lässt eine Frage den westlichen Beobachtern keine Ruhe: Wohin verschwanden die Tschetschenen, die in den Reihen der Al-Quaida gekämpft haben? Es ist erstaunlich, aber unter Tausend ausländischen Söldnern, die im Laufe des Krieges gegen die Taliban gefangen genommen wurden, befindet sich kein einziger Tschetschene. Im Augenblick befinden sich ungefähr 500 Taliban-Kämpfer in amerikanischer Gefangenschaft, davon 300 im Lager in Guantanamo/ Kuba und 200 in Afghanistan. Weder dort, noch im Gefängnis von Schebargan (in der Nähe von Masari-Scharif) gibt es tschetschenische Häftlinge. In diesem Gefängnis, das General Abdul Rashid Dostum unterstellt ist, sind arabische Staatsangehörige, Pakistani, Franzosen, Briten und sogar österreicher inhaftiert, aber nicht ein Tschetschene.

Dennoch gibt es keinen Zweifel daran, dass Tschetschenen in Afghanistan kämpften. Nach offiziellen russischen Informationen zu urteilen, waren es zwischen einigen hundert und einigen tausend. Allerdings muss man mit diesen Ziffern vorsichtig sein: Moskau ist sehr daran interessiert, die Tschetschenen einer Verbindung mit den Taliban und der Organisation von Osama bin Laden "Al-Quaida" zu beschuldigen. Die Tschetschenen selbst weisen diese Informationen kategorisch zurück und bezeichnen sie als eine Erfindung der russischen Propaganda. Die in Katar registrierte Internet-Seite www.kavkaz.org, das Sprachrohr der tschetschenischen Fundamentalisten, meldete noch im November vergangenen Jahres: "Weder die Amerikaner noch die NATO können auch nur einen einzigen gefangenen Tschetschenen als Beweis für die Teilnahme `hunderter oder tausender Tschetschenen`im Afghanistan-Krieg vorweisen."

Der französische Spezialist für Zentralasien und den Islam Oliver Roy geht davon aus, dass in Afghanistan eher sehr wenige Tschetschenen kämpften. Und es würde sich sehr einfach erklären: für die Tschetschenen wäre es nicht im geringsten von Vorteil auf der Seite der Taliban zu kämpfen. "Schließlich haben sie zuhause ihren eigenen Dschichad", sagt der Forscher, "aus diesem Grund waren auch nur wenige Palästinenser in Afghanistan. Außerdem hat der bewaffnete tschetschenische Kampf noch kein internationales Niveau erreicht." Der französische Wissenschaftler nimmt weiterhin an, dass die Mehrheit der Tschetschenen, die in Afghanistan kämpften, Ende November vergangenen Jahres in der Gegend um Kunduz gefallen sind. Diejenigen, die überlebten, versuchten Afghanistan in versiegelten Transportcontainern zu verlassen, aber die meisten von ihnen erstickten. Etwas später, während des Aufruhrs in der Festung Kala-i-Dschangi in der Nähe von Masari-Scharif, kamen hunderte Gefangene ums Leben. Und schließlich sind die letzten überlebenden Tschetschenen möglicherweise in den Kämpfen um Tora-Bora im Dezember ums Leben gekommen. Dieses Gebiet ist bekanntermaßen stark bombardiert worden.

Andererseits ist die genaue Ziffer der überlebenden Tschetschenen auch deswegen schwer zu bestimmen, weil das Wort "Tschetschene" selbst mehrdeutig geworden ist. In Afghanistan zum Beispiel kann jeder, der aus der früheren UdSSR stammt, als Tschetschene bezeichnet werden: Kaukasier genauso wie Tataren und Baschkiden. In dem im Dezember von der Organisation Human Rights Watch veröffentlichten Bericht über das Schicksal der Familien ausländischer Söldner wird das Wort "Tschetschene" nur mit größter Vorsicht verwendet. Noch ein Beispiel für die Mehrdeutigkeit des Wortes gibt das Interview mit dem "amerikanischen Taliban-Kämpfer" John Walker Lindh, der im Gefängnis Kala-i-Dschangi inhaftiert war. Als er die Fragen des Journalisten Robert Young Pelton beantwortete, hatte er große Schwierigkeiten, die Nationalität "Tschetschene", der er in Afghanistan begegnet ist, genauer zu bestimmen.

Die Verwirrung über die nationale Zugehörigkeit derjenigen, die man als Teschetschenen bezeichnet, führte dazu, dass westliche humanitäre Organisationen, die in Afghanistan arbeiten (wie das Rote Kreuz, CICR), Alarm schlugen:
Warum befindet sich unter den Gefangenen kein einziger Tschetschene?
Hält man sie irgendwo versteckt?
Werden die Genfer Konventionen verletzt?
Oder, noch schlimmer, haben ihre Aufseher sie an die usbekische Regierung verkauft?
Tatsächlich sind es die humanitären Organisationen selbst, die solche Gerüchte verbreiten. Hier erinnert man sich daran, dass während der Einnahme von Kunduz Islamabad eine richtige Luftbrücke einrichtete, um die pakistanischen Taliban-Kämpfer auszufliegen. Daraus ergibt sich, dass man die Besorgnis darüber äußert, dass die am Leben gebliebenen tschetschenischen Söldner vom usbekischen Präsidenten, Islam Kamirov, am Ende an Moskau übergeben worden sein könnten. Dort würde man sie zu allen Einzelheiten der antirussischen Stimmung im Kaukasus befragen. Kann es sein, dass es so ist? Schließlich muss Moskau die von den Kämpfern entführten Russen befreien. Eine solche Praktik fand noch im ersten tschetschenischen Krieg 1994-1996 breite Anwendung.

(04.03.2002)
Kommersant - LeTemps.ch

Ou sont passes les combattants tchetchenes d`Al-Qaida?
Wohin sind die tschetschenischen Al-Quaida-Kämpfer verschwunden?
Retour sur une enigme
Das Geheimnis bleibt ungelöst

Samuel Gardaz
Russ. Übersetzung Fedor Kotrelev
Deutsche Übersetzung Marlen Wahren

Seit dem Fall des Taliban-Regimes im November vergangenen Jahres lässt eine Frage den westlichen Beobachtern keine Ruhe: Wohin verschwanden die Tschetschenen, die in den Reihen der Al-Quaida gekämpft haben? Es ist erstaunlich, aber unter Tausend ausländischen Söldnern, die im Laufe des Krieges gegen die Taliban gefangen genommen wurden, befindet sich kein einziger Tschetschene. Im Augenblick befinden sich ungefähr 500 Taliban-Kämpfer in amerikanischer Gefangenschaft, davon 300 im Lager in Guantanamo/ Kuba und 200 in Afghanistan. Weder dort, noch im Gefängnis von Schebargan (in der Nähe von Masari-Scharif) gibt es tschetschenische Häftlinge. In diesem Gefängnis, das General Abdul Rashid Dostum unterstellt ist, sind arabische Staatsangehörige, Pakistani, Franzosen, Briten und sogar österreicher inhaftiert, aber nicht ein Tschetschene.

Dennoch gibt es keinen Zweifel daran, dass Tschetschenen in Afghanistan kämpften. Nach offiziellen russischen Informationen zu urteilen, waren es zwischen einigen hundert und einigen tausend. Allerdings muss man mit diesen Ziffern vorsichtig sein: Moskau ist sehr daran interessiert, die Tschetschenen einer Verbindung mit den Taliban und der Organisation von Osama bin Laden "Al-Quaida" zu beschuldigen. Die Tschetschenen selbst weisen diese Informationen kategorisch zurück und bezeichnen sie als eine Erfindung der russischen Propaganda. Die in Katar registrierte Internet-Seite www.kavkaz.org, das Sprachrohr der tschetschenischen Fundamentalisten, meldete noch im November vergangenen Jahres: "Weder die Amerikaner noch die NATO können auch nur einen einzigen gefangenen Tschetschenen als Beweis für die Teilnahme `hunderter oder tausender Tschetschenen`im Afghanistan-Krieg vorweisen."

Der französische Spezialist für Zentralasien und den Islam Oliver Roy geht davon aus, dass in Afghanistan eher sehr wenige Tschetschenen kämpften. Und es würde sich sehr einfach erklären: für die Tschetschenen wäre es nicht im geringsten von Vorteil auf der Seite der Taliban zu kämpfen. "Schließlich haben sie zuhause ihren eigenen Dschichad", sagt der Forscher, "aus diesem Grund waren auch nur wenige Palästinenser in Afghanistan. Außerdem hat der bewaffnete tschetschenische Kampf noch kein internationales Niveau erreicht." Der französische Wissenschaftler nimmt weiterhin an, dass die Mehrheit der Tschetschenen, die in Afghanistan kämpften, Ende November vergangenen Jahres in der Gegend um Kunduz gefallen sind. Diejenigen, die überlebten, versuchten Afghanistan in versiegelten Transportcontainern zu verlassen, aber die meisten von ihnen erstickten. Etwas später, während des Aufruhrs in der Festung Kala-i-Dschangi in der Nähe von Masari-Scharif, kamen hunderte Gefangene ums Leben. Und schließlich sind die letzten überlebenden Tschetschenen möglicherweise in den Kämpfen um Tora-Bora im Dezember ums Leben gekommen. Dieses Gebiet ist bekanntermaßen stark bombardiert worden.

Andererseits ist die genaue Ziffer der überlebenden Tschetschenen auch deswegen schwer zu bestimmen, weil das Wort "Tschetschene" selbst mehrdeutig geworden ist. In Afghanistan zum Beispiel kann jeder, der aus der früheren UdSSR stammt, als Tschetschene bezeichnet werden: Kaukasier genauso wie Tataren und Baschkiden. In dem im Dezember von der Organisation Human Rights Watch veröffentlichten Bericht über das Schicksal der Familien ausländischer Söldner wird das Wort "Tschetschene" nur mit größter Vorsicht verwendet. Noch ein Beispiel für die Mehrdeutigkeit des Wortes gibt das Interview mit dem "amerikanischen Taliban-Kämpfer" John Walker Lindh, der im Gefängnis Kala-i-Dschangi inhaftiert war. Als er die Fragen des Journalisten Robert Young Pelton beantwortete, hatte er große Schwierigkeiten, die Nationalität "Tschetschene", der er in Afghanistan begegnet ist, genauer zu bestimmen.

Die Verwirrung über die nationale Zugehörigkeit derjenigen, die man als Teschetschenen bezeichnet, führte dazu, dass westliche humanitäre Organisationen, die in Afghanistan arbeiten (wie das Rote Kreuz, CICR), Alarm schlugen:
Warum befindet sich unter den Gefangenen kein einziger Tschetschene?
Hält man sie irgendwo versteckt?
Werden die Genfer Konventionen verletzt?
Oder, noch schlimmer, haben ihre Aufseher sie an die usbekische Regierung verkauft?
Tatsächlich sind es die humanitären Organisationen selbst, die solche Gerüchte verbreiten. Hier erinnert man sich daran, dass während der Einnahme von Kunduz Islamabad eine richtige Luftbrücke einrichtete, um die pakistanischen Taliban-Kämpfer auszufliegen. Daraus ergibt sich, dass man die Besorgnis darüber äußert, dass die am Leben gebliebenen tschetschenischen Söldner vom usbekischen Präsidenten, Islam Kamirov, am Ende an Moskau übergeben worden sein könnten. Dort würde man sie zu allen Einzelheiten der antirussischen Stimmung im Kaukasus befragen. Kann es sein, dass es so ist? Schließlich muss Moskau die von den Kämpfern entführten Russen befreien. Eine solche Praktik fand noch im ersten tschetschenischen Krieg 1994-1996 breite Anwendung.

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